Wurzelbehandlung für Fremdenhass
Bibliothek der Vielfalt - Folge 2:
Arno Gruen: Der Fremde in uns.
Von Michael Gleich
Was sind die wichtigsten Bücher zu Diversity? Culture Counts setzt seine exklusive Serie über Standardwerke und kleine Fundstücke fort. Folge zwei widmet sich einem Buch, das Fremdenhass nicht an den Symptomen zu kurieren sucht, sondern an seine Wurzel rührt. Die nämlich liegt im Selbsthass. / 09.11.07
Illustration von Limo LechnerAn guten Absichten fehlt es nicht. Deutschland ist fest entschlossen, Fremdenhass zu bekämpfen, wo er sich nur zeigt. Dazu fährt unser Land auf, was es an gesellschaftspolitischen Stilmitteln und Stimulanzien zu bieten hat. Toleranzdemonstrationen, Kampagnen in der Schule, Rock gegen rechts, Gewerkschafter von links, Politikerbetroffenheit nach jeder Gewalttat gegen einen Ausländer. Nie wieder soll Hass auf deutschem Boden heimisch werden. Das ist der kollektive Schwur, und er gehört zu den Gründungsmythen der Bundesrepublik.
Und wenn er dann doch seine hässliche Fratze zeigt, der Hass, ist die Aufregung groß. Wenn einige unserer Mitbürger einigen Neubürgern das Haus über dem Kopf anzünden, sie auf offener Straße zusammenschlagen oder sogar umbringen - dann bestätigt sich unser heimlicher Verdacht: Der Hass auf das Fremde ist nicht verschwunden. Er schläft nur. Er wacht gelegentlich auf und verbreitet Angst und Schrecken. Und macht all die guten Absichten zunichte.
Daran wird sich auch nichts ändern, meint der Psychoanalytiker Arno Gruen, solange nur an Symptomen herumgedoktert werde. Seine Sicht ist radikaler. Radix, die Wurzel. Die Wurzel des Fremdenhasses, so die Kernthese in Gruens viel beachtetem Buch, liegt im Selbsthass.
Du bist wirklich saudumm, darum geht �s dir gut
Hass ist deine Attitüde, ständig kocht dein Blut
(Die Ärzte, "Schrei nach Liebe")
Lieben wir uns? Oder lehnen wir uns ab? Bei der Mehrheit der Menschen ist Letzteres der Fall. Gruen konnte die seelische Dynamik des Selbsthasses bei seinen Patienten im Detail beobachten, ist sich aber sicher, dass sie generell für Menschen in den so genannten Zivilisationen gilt. Die Wurzel des Hasses liegt demnach in der Gewalt der Eltern gegenüber ihren Kindern. Da geht es nicht unbedingt um rohe Brutalität, sondern um subtilere Vorgänge. Eltern lehnen unbewusst die Lebendigkeit ihrer Kinder ab. Halten deren Impulsivität, Fantasie und spielerische Grenzenlosigkeit einfach nicht aus. Schon bei den Säuglingen beginnen sie mit "Erziehung": Die Kinder sollen anders sein, als sie sind. Ruhiger, wenn sie laut sind, aktiver, wenn sie angeblich zu ruhig sind. Gehorsamer. Besser funktionierend. Schon ein Säugling registriert, dass seine Angst, seine Lebenslust, sein Schmerz, seine noch ungebändigte Energie irgendwie bei den Eltern nicht so gut ankommen. Diese Empathie besitzen Kinder, wie man heute weiß, bereits in den ersten Monaten. Sie gehört zu ihrem Überlebensprogramm. In einer Hunderttausende von Jahren währenden Evolution wurden sie darauf trainiert, zu erkennen, wie diejenigen, die für ihren Schutz und die Ernährung zuständig sind, zu ihnen stehen. In ihrer Hilflosigkeit bleibt ihnen nur eins: Sie passen sich an. Arrangieren sich. Wenn sie die Ablehnung ihrer Lebendigkeit durch die Eltern spüren, beginnen sie sich zu schämen. "Irgendwas muss mit mir falsch sein", legt sich das Kind als Erklärung zurecht, es fühlt sich minderwertig und schlecht, "denn sonst würden sie mich ja so lieben, wie ich bin." Genau an diesem Punkt, so Arno Gruen, beginnt der Selbsthass. Die eigenen Empfindungen, die eigene Empathie, die eigenen Fantasien dürfen nicht sein und werden abgespalten. Irgendwo legt das Kind sie ab, in einen toten Winkel seiner Seele. Dort existiert dieser Teil jedoch weiter, als "Der Fremde in uns".
Alles muss man dir erklären, weil du wirklich gar nichts weißt
Höchstwahrscheinlich nicht einmal, was Attitüde heißt
Das Vertrackte ist, dass wir von diesen Fremden in uns in der Regel nichts wissen. Der Vorgang der Verdrängung unserer kindlichen Lebendigkeit ist so allgegenwärtig, so umfassend, dass er uns als "normal" erscheint. Eltern reagieren nicht aus purer Bosheit einschränkend auf ihre Kinder, sondern weil sie einst das gleiche Schicksal erlitten haben. Sie vererben und verderben weiter, unbewusst, von Generation zu Generation. Dem Anspruch nach wollen sie für ihre Kleinen nur das Beste. Sie glauben zu lieben und bekommen gar nicht mit, wie subtil sie kindliche Wut, Schmerz und Angst missachten. Ein mörderisches Spiel beginnt. Mord ist nicht nur ein körperlicher, sondern auch ein seelischer Vorgang. Unsere Leiche im Keller ist jener Fremde in uns.
Wie wird nun aus einem Selbst- ein Fremdenhass? Die Psychologie bezeichnet diesen Vorgang als Projektion. Jenen Teilen der Persönlichkeit, die abgespalten worden sind, begegnet man bei anderen Menschen wieder - und bekämpft sie dort. Den Fremden in uns projizieren wir auf äußere Fremde. Sie werden zu unseren Feinden. Diesen Vorgang hat Arno Gruen, Sohn jüdischer Eltern, am eigenen Leib erfahren.
1936 musste er in die USA emigrieren. Zeit seines Lebens hat er erforscht, wie das gängige Erziehungsmodell im Deutschen Kaiserreich, in der Nazizeit und bis weit in die Ära der Bundesrepublik hinein die Menschen deformierte. Unter Berufung auf Ideale wie Disziplin, Gehorsam und Härte wurde eine Generation nach der anderen drangsaliert und um ihre kindliche Lebendigkeit gebracht. Die Nazis haben den Hass auf alles, was anscheinend fremd und andersartig ist, dann zur vollen Blüte gebracht. Juden, Zigeuner, Slawen, Schwule, Linke und Behinderte waren die Objekte kollektiver Aggression. Von Dumpfbacken, die erst durch gnadenlose Erziehung wahrlich dumpf gemacht worden waren. Gruen schreibt über Adolf Hitler, der als Kind von einem gnadenlosen, gewalttätigen Vater drangsaliert worden war, wie er fortan als Hassprediger die Massen faszinierte: "Indem Hitler den Menschen vermeintliche Feinde offerierte, bot er ihnen die Möglichkeit, den so verhassten inneren Fremden nach außen zu verlagern, den Hass ohne Schuldgefühle zu entäußern und sich dadurch von der erdrückenden Last der Minderwertigkeit zu befreien."
Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe
Deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit
Du hast nie gelernt, dich zu artikulieren
Und Deine Eltern hatten niemals für dich Zeit
Arschloch!
Menschen, die gelernt haben, dass die eigenen Gefühle, Gedanken und Wünsche nicht gelten, entwickeln keine stabile Identität. Stattdessen orientieren sie sich an Autoritäten. Lehrer, Vorgesetzte, Befehlshaber. Das ist kein Phänomen, das wir in ferne, schwarz-weiße Zeiten verbannen können, sondern leider auch in unserer Gesellschaft relevant. Der Psychologe Stanley Milgram zeigte bei Experimenten in den 60er-Jahren, dass ganz "normale" Amerikaner in der Lage sind, vermeintliche Versuchskandidaten mit Stromschlägen zu foltern, wenn ein autoritär auftretender Arzt sie dazu auffordert. Weil sie früh verlernt haben, auf ihre innere Stimme zu hören, werden sie zu hörigen Befehlsempfängern.
Umgekehrt haben Menschen, die in ihrer Kindheit echte Achtung und Liebe erfahren haben, offensichtlich einen direkteren Zugang zu den eigenen Gefühlen und Empathie. Ihre Persönlichkeit ist auch in schwierigen Situationen nicht leicht zu erschüttern. Das heißt, Identität kann nicht im Außen erworben werden (hier ein Muslim, dort ein Christ, hier ein Linker, dort ein Faschist), sondern ist ein innerer Vorgang. Oder eben nicht. Dann bleibt eine Leere, die als quälend empfunden wird. Dieses Vakuum wird von Machtpolitikern und anderen Manipulateuren gern gefüllt. Skinheads und Rechtsradikale "erleben das Gefühl von Freiheit und Autonomie" (Gruen), wenn sie das Fremde im anderen bestrafen.
Warum hast du Angst vorm Streicheln, was soll all der Terz
Unterm Lorbeerkranz mit Eicheln, weiß ich schlägt dein Herz
Und Romantik ist für dich nicht bloß graue Theorie
Zwischen Störkraft und den Onkelz, steht �ne Kuschelrock-LP
Gruen beschäftigt sich auch mit den "großen Männern" und deren Großtaten. Die herkömmliche Geschichtsschreibung ist völlig fasziniert von Staatsmännern und Generälen, Eroberern und Erfindern, die Grenzen überschreiten und anderen ihren Willen aufzwingen. "Die meisten soziologischen und historischen Denksysteme führen deren Verhalten auf Größe, Weitsicht und Souveränität zurück. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall." In Wahrheit, so Gruen, laufen all die vermeintlichen Giganten vor ihrem eigenen Schmerz davon, um ihn außerhalb, in Gestalt ihrer vermeintlichen Feinde zu zerstören.
Auch die modernen Manager werfen sich zwanghaft in die Pose des Tatkräftigen. Aufbauen, hinfallen, wieder aufstehen, Ärmel aufkrempeln, der frühe Vogel frisst den Wurm. Und so weiter. Alles durchgekaute Metaphern, die man in Interviews mit Wirtschaftslenkern immer wieder liest. Zur Besinnung kommen viele von ihnen erst nach der Pensionierung. Dann werden sie offener für die dunkle Seite ihres Images vom Strahlemann. So sagt Daniel Goeudevert, einst Vorstand bei VW: "Das Leben des Managers ist total fremdbestimmt." In seiner Abrechnung Wie ein Vogel im Aquarium heißt es zum allgegenwärtigen Kult um den Chef: "Im Glauben, dass das alles mit seiner eigenen Person zu tun habe, entfernt er sich weiter und weiter von der Realität des menschlichen Lebens. Sein Schatten wird übergroß, bis dahinter alles verschwindet: die Wirklichkeit, die anderen und auch er selbst." Übrig bleibt dann der Größenwahn, der vielfach mit Aggression einhergeht. In der Wirtschaft wird gemobbt, gedemütigt, befohlen und beherrscht, nach wie vor. Angeblich sind die Akteure reife Erwachsene. Doch in Wirklichkeit benehmen sie sich wie Kinder, übernehmen keinerlei Verantwortung für ihre eigenen Gefühle, verdrängen Schmerz und Angst. Wer sie eingesteht, gilt als Schwächling. Die Folge dieses Schattenspiels heißt: Entfremdung.
Weil du Probleme hast, die keinen interessieren
Weil du Schiss vorm Schmusen hast, bist du ein Faschist
Du musst deinen Selbsthass nicht auf andere projizieren
Damit keiner merkt, was für ein lieber Kerl du bist
Am Ende seines Buches gibt Arno Gruen Hinweise, was wir tun können. Gott sei Dank, denn ohne einen solchen Hoffnungsschimmer, wie wir aus der Falle des Fremdelns entkommen können, wäre seine soziopsychologische Diagnose des Hasses kaum zu ertragen. Seine Perspektive formuliert er genauso einfach wie radikal: "Die Lösung besteht darin, den Schmerz zuzulassen." Der Psychoanalytiker Gruen fordert uns auf, jeden Einzelnen, nach innen zu schauen. Indem wir uns uns selbst zuwenden, unsere Gefühlswelten erkunden und uns erlauben, zu fühlen, was gefühlt werden will, übernehmen wir Verantwortung. Das tut erstmal weh. Und wird genau aus diesem Grunde ja gemieden. Als Kind konnten wir das nicht. Der innere Terror angesichts täglich erlittener Missachtung hätte uns umgebracht. Aber jetzt, als Erwachsene, können wir den Mut aufbringen und die Opferperspektive aufgeben. Nicht indem wir leugnen, je Opfer gewesen zu sein, sondern im Gegenteil: Im erneuten Durchleben dessen, was abgetrennt und fremd wurde, um wieder ein ganzer Mensch zu werden.
Weisheitslehrer aller Zeiten wussten um die heilsame Kraft der Introspektion. "Wer sein Leiden leidet", versprach Konfuzius, "wird frei von Leiden." Das gilt für Individuen, aber auch für ganze Gesellschaften, in denen Kinder nach dem gleichen Muster erzogen werden. Wenn wir die guten Absichten, Fremdenhass zu bekämpfen, in die Tat umsetzen wollen, sind Kampagnen und Demonstrationen nur halbherzige Versuche. Sie können erst dann von ganzem Herzen kommen, wenn wir durch innere Arbeit den Selbsthass überwinden. Dann ist uns nichts Menschliches mehr fremd.
Michael Gleich ist Koordinator bei Culture Counts.
Mit einer Illustration von Limo Lechner.
Arno Gruen:
Der Fremde in uns,
Klett-Cotta Verlag,
Stuttgart 2000,
238 Seiten, 19 Euro.
ISBN: 978-3-608-94282-8
www.klett-cotta.de
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: Der Fremde in uns.. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1900, 238 Seiten, ISBN 978-3-608-94282-8

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Autor

Michael Gleich
Gleich

Michael Gleich, Publizist, Stroryteller und Redner, hat 2011 "der kongress tanzt. Netzwerk für gute Veranstaltungen" initiiert. Es berät Veranstalter darin, Konferenzen und Foren als lebendige Lernorte zu gestalten.

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