Kampfabsage von Ilija Trojanow und Ranjit Hoskoté.
Wenn wir lange Spaghetti kunstvoll mit der Gabel aufdrehen, zeigen wir damit feine Tischmanieren. Feiern unsere Zivilisation. Diese Unterentwickelten in Afrika und Asien: Wie sie mit den Fingern essen und sie abschlecken - welche Barbarei! Doch ist die Gabel wirklich eine Errungenschaft westlicher Kultur? Nein, sondern Teufelszeug. So sah es jedenfalls Kardinalbischof Petrus Damiani aus Ravenna, als er um das Jahr 1000 befand: "Gott in seiner Weisheit hat den Menschen mit natürlichen Gaben ausgestattet - seinen Fingern. Daher lästert Gott, wer beim Essen die Finger durch künstliche metallene Gabeln ersetzt." Sprach's und knubbelte die Spaghetti weiter mit den Fingern. Am Hof von Byzanz dagegen war die Gabel schon seit dem vierten Jahrhundert im Gebrauch, auch die Tartaren benutzten sie schon früh.
Mit solchen Beispielen aus der Alltagskultur betätigen sich der Schriftsteller Ilija Trojanow und der Kulturkritiker Ranjit Hoskoté als Mythenzertrümmerer. Immer noch geistert die Idee, es gebe eine "christlich-abendländische" Kultur, die man klar bestimmen und von anderen Kulturen, etwa der "arabisch-islamischen" abgrenzen könne, durch viel zu viele Köpfe. Das zeigen die öffentlichen Debatten um eine vermeintliche deutsche Leitkultur, um die Wurzeln Europas, um einen bevorstehenden Kampf der Kulturen.
Dahinter steckt die Vorstellung, Kultur sei einem Container vergleichbar: Seine Wände regeln das Drinnen und das Draußen, was dazugehört und was nicht, was vertraut und was fremd. Sein Inhalt besteht demnach aus Büchern, Liedern, Tänzen, Sitten und Gebräuchen, deren Auswahl ein kultureller Kanon festschreibt. Doch das ist eine Illusion. Sie wird auch dadurch nicht zur Wahrheit, dass sie interessierten Kreisen hervorragend in ihre politischen Strategien von Ab- und Ausgrenzung passt.
Zusammenfluss der Kulturen.
Kultur ist kein Zustand, sie ist
ein Prozess. Das Autorenduo Trojanow/Hoskoté nennt diesen Prozess
"Zusammenfluss". Kulturelle Einflüsse aus verschiedenen Quellen
mischen sich, werden von Menschen unterschiedlich interpretiert
und in den Strudeln der Zeit neu verquirlt. So entsteht ein
Fluss, der zwar einen festen Namen hat, aber letztlich etwas
bezeichnet, das sich in seinem Verlauf ständig verändert. Wer an
der Mündung dieses Flusses steht und glaubt, etwas Reines und
klar Definiertes zu sehen, der täuscht sich. "Kultur ist nichts
anderes als Hybridisierung, die wir vergessen haben", sagte Ilija
Trojanow beim Culture Counts Interviewmarathon in Berlin. In dem
gerade erschienenen Buch
Kampfabsage gemeinsam mit dem indischen Journalisten
Ranjit Hoskoté (
Times of India, The Hindu) führt er diese These aus. Nur
durch das Zusammenfließen von Strömungen, Ideen,
Alltagspraktiken, sprich kulturellen Einflüssen verschiedener Art
entwickelt sich Kultur. Entfaltet sich Kreativität. Bewegt sich.
Bleibt lebendig.
Besonders für den Mittelmeerraum und das nördlichere Europa
verfolgen die beiden Autoren verschiedene Flüsse bis zu ihren
Quellen zurück. Etwa auf der Iberischen Halbinsel. Nach dem
Untergang des Römischen Reiches war sie in westgotischer Hand,
bis sie im achten Jahrhundert von den Arabern erobert wurde. Ein
europäisches Zentrum, beherrscht von den Muselmanen - war das der
Untergang des Abendlandes? Im Gegenteil. Die Region wurde zu
einem Kristallisationspunkt von Vielfalt und geistiger Freiheit.
In Städten wie Toledo, Granada und C�
rdoba wurden Universitäten
und Bibliotheken gegründet, gediehen Mathematik und Architektur,
tummelten sich Poeten und Maler. Religionszugehörigkeit trennte
nicht. Juden, Muslime und Christen standen in regem Austausch.
Die wichtigsten Werke wurden für die jeweils anderen übersetzt.
Es gab Persönlichkeiten wie Shmuel ha-Levi, von den Arabern
Ishmail genannt. Er war Oberhaupt der jüdischen Gemeinde von
C�
rdoba und legte eine steile Karriere bis zum Wesir des Emirs
hin. Ein Rabbiner als zweitmächtigster Mann des muslimischen
Königreichs. Niemanden befremdete das.
Von al-Andalus gingen bis zum 15. Jahrhundert entscheidende
Impulse für das geistige Leben in Europa aus. Weiter nördlich sah
es im Mittelalter eher düster aus. Das Kloster Sankt Gallen,
stolz auf die bedeutendste Bibliothek des christlichen
Abendlandes, besaß gerade mal 600 Manuskripte. Dagegen konnten
sich die Gelehrten von al-Andalus in 70 großen Bibliotheken
schlaumachen, allein die von C�
rdoba rühmte sich, 400.000 Bücher
zu besitzen.
Mit solchen Beispielen, breit recherchiert und spannend
erzählt, weiten Trojanow und Hoskoté unseren kulturellen
Horizont. Sie entlarven das unermüdlich wiederholte Dogma von der
"christlich-jüdischen Tradition" als politische Strategie: Sie
soll in Europa alles Islamische ausgrenzen und eine Politik
rechtfertigen, die Europa zur Festung gegen das angeblich Fremde
ausbauen will. In Wahrheit zehren wir heute von einem
ägyptisch-persisch-jüdisch-islamisch-christlichen Erbe. Schauen
wir unvoreingenommen auf unsere kulturelle DNA, erkennen wir,
dass "das Fremde" längst eingebaut ist.
Als weitere Klitterung der Kulturgeschichte entlarven die
Autoren die Annahme, die Philosophie antiker Geistesgrößen wie
Platon, Aristoteles und Plotin sei nach dem Untergang des
Römischen Reichs anderswo quasi im Tiefkühlfach konserviert
worden. Dieser Theorie nach standen die entsprechenden Kühltruhen
in Ägypten und Kleinasien; dort seien die Schriften der
griechischen Denker für die Nachwelt übersetzt und aufbewahrt
worden. Doch während die kulturelle Entwicklung in Mitteleuropa
stagnierte, blühte sie beispielsweise in Bagdad auf. Unter der
Dynastie der Abbasiden wurden dort Universitäten gegründet,
trafen sich Dichter, Architekten, Mathematiker, Ärzte, Astronomen
und Übersetzer. Sie spannen die Gedanken der Griechen weiter,
bauten deren Theoriegebäude um und erweiterten sie mit Elementen
von östlichen Weisheitslehren, aus Kleinasien und Indien. Sie
diskutierten, übten skeptisches Denken, forderten von der
Religion unabhängige logische Urteile und die empirische
Überprüfung von Fakten. Solche Gedanken hätten in Europa zur
gleichen Zeit nicht den Hauch einer Chance gehabt. Im Gegenteil:
Der Kopf, in dem sie kreisten, hätte sich bald in einer Schlinge
und am Galgen wiedergefunden. Während die Christenheit unter der
blutigen Fuchtel der Inquisition stand und "Heiden" bei Pogromen
massenweise getötet wurden, legten jüdische und arabische
Gelehrte ein geistiges Fundament, ohne das später die Aufklärung
nicht denkbar gewesen wäre.
Remix und Mashup.
Vor den Augen des Lesers von
Kampfabsage entsteht eine weit verzweigte Flusslandschaft
europäischer Kultur. Ströme, Seitenstränge, Quellen, Altarme und
Deltas. Ein Motor hinter dem Zusammenfließen ist seit alters der
Handel. In seinen Kontinente überspannenden Netzen wechseln nicht
allein Waren die Besitzer. Gleichzeitig übertragen sich
kulturelle Einflüsse wie etwa Lieder und Märchen, mathematische
Formeln und buchhalterische Techniken. Wie ein Virus wandern sie
von Wirt zu Wirt. Ideen haben etwas Ansteckendes. Das gilt noch
stärker in Zeiten der Globalisierung. Sie beschleunigt Prozesse
der Hybridisierung. Wie es Salman Rushdie ausdrückt: "Melange,
Mischmasch, ein bisschen von diesem, ein bisschen von jenem, auf
diese Weise entsteht Neues in der Welt." Wissenschaftlich heißt
das Hybridisierung. Ein Autor wie Ilija Trojanow verkörpert sie
geradezu: In Bulgarien geboren, mit seiner Familie nach
Deutschland ausgewandert und gleich weiter nach Kenia gezogen
danach in München, Bombay, Kapstadt und Paris gewohnt, schreibt
er Romane auf Deutsch und Gedichte auf Englisch und kommt auch
mit Suaheli durch. "Die meisten Menschen bestehen aus einem
vielfältigen Ich", heißt es dazu im Buch, sie erweitern es "durch
Lernen und Anpassung, verändern ihre Identität aus taktischen
Gründen oder weil es der gesellschaftliche Kontext oder ihre
persönlichen Vorstellungen verlangen".
Das Zusammenfließen der Kulturen geschieht allerdings
keineswegs heiter und harmonisch. Sonst wäre die vor unseren
Augen ausgebreitete Hybridisierung der Kulturen nicht mehr als
eine nette Metapher. Ihre Brisanz bekommt sie dadurch, dass es
immer wieder kracht. Zahlreich sind in Geschichte und Gegenwart
die Beispiele von Gesellschaften, die sich abschotteten. Sich
hinter Dogmen der Ausgrenzung verschanzten. Alles Andersartige
bekämpften. Immer wenn Dämme gegen den organischen Zusammenfluss
errichtet wurden, war es nicht weit bis zu Gewalt und Genozid.
Fundamentalismus, ob nun christlicher, islamistischer oder
hinduistischer Einfärbung, hat die Höchststrafe für die
dämonisierten Anderen zur Folge. Aber auch die Dammbauer werden
bestraft: durch Stagnation, durch Verödung ihrer Kultur.
Toleranz statt Kampf.
Vielfalt bereichert, Intoleranz
macht arm. Dieser Befund hat Brisanz. Er stört die Kreise all
jener Politiker und Strategen, die sich, weil machtgeil, als
Kulturkämpfer profilieren wollen. In den USA, wo aus
kriegstheologischen Gründen eine "Achse des Bösen" erfunden wird,
um dann Menschen anderer Länder und Kulturen befreit von
moralischen Skrupeln im "Krieg gegen den Terror" töten zu dürfen.
In Europa, das seinen Reichtum gegen arme Migranten und andere
Hungerleider verteidigt, immer mit dem Hinweis auf abendländische
Traditionen, zu denen die ungebetenen Gäste leider, leider nicht
passen. Oder auch in arabischen Ländern wie dem Iran, dessen
Regime unter einem verbohrten Staatspräsidenten das empirische,
rationale Denken verhöhnt und so weit geht, den Holocaust zu
leugnen. Hinter all diesen Dämmen wider den Zusammenfluss staut
sich die Freiheitsliebe und ertrinkt die Kreativität.
Das kann doch nur zum "Clash of Civilizations" führen, wie
Samuel Huntington voraussagte, oder? Mit seiner These, dass
gewaltsame Konflikte zwischen Kulturkreisen den alten
Ost-West-Antagonismus ablösen, ist der amerikanische Politologe
berühmt geworden. Wenn es in einer Berliner Hauptschule mit hohem
Ausländeranteil kriselt; wenn in von arabischen Einwanderern
dominierten Vorstädten Paris' Barrikaden brennen; wenn empörte
Muslime gegen Mohammed-Karikaturen in westlichen Zeitungen
demonstrieren: Immer zitieren die Zeitungen gerne den "Kampf der
Kulturen". Die Formel stabreimt sich so schön.
Doch Trojanow und Hoskoté sagen den Kampf ab. Sie sehen
hier nicht Kulturen aufeinanderprallen, sondern nur Menschen, die
aus machtpolitischem Kalkül aufgehetzt und fanatisiert werden.
Beim Umgang mit Menschen islamischen Glaubens verfalle der
Westen, so die Autoren, in verhängnisvolle Muster: "Wir
mystifizieren, schotten uns ab und flüchten uns in
Verallgemeinerungen. Kurz: Wir verraten die Aufklärung."
Genau das Gegenteil wäre richtig. Genau hinsehen. Die
Vorteile von Vermischung zur Kenntnis nehmen. Vielfalt sichtbar
machen. Sein Herz öffnen und das Andere in sich selbst entdecken.
Das Verdienst der
Kampfabsage besteht darin, die unmittelbaren Vorteile von
Toleranz und Offenheit faktenreich und anschaulich ins Bild zu
setzen. "Den Kampf abzusagen heißt, den Zusammenfluss
anzunehmen", heißt es im Buch. Man könnte ergänzen: Zusammenfluss
zuzulassen, macht uns kulturell und menschlich reicher.
***
PS: Wir haben uns für Culture Counts ein Motto gegeben, das sowohl zum Thema kultureller Vielfalt passt als auch unsere Projektarbeit steuert. Es lautet: "Wo es fließt, dort gieß hinein. Wo es stockt, da lass es sein!" Und weil wir selbst gerne panschen, haben wir es niederbayerisch-sauerländisch-lateinisch übersetzt: "Ubi flut, ibi tut! Ubi stock, ibi block!"
***
Michael Gleich ist Koordinator von Culture Counts.
Ilija Trojanow, Ranjit Hoskoté:
Kampfabsage.
Kulturen bekämpfen sich nicht, sie fließen zusammen.
Karl Blessing Verlag,
München 2007,
240 Seiten, 17.95 Euro.
ISBN 978-3-89667-363-3
www.randomhouse.de/blessing
Mit einer Illustration von Limo Lechner.
© changeX Partnerforum [01.10.2007] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
changeX 01.10.2007. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Ilija Trojanow, Ranjit Hoskoté: Kampfabsage. . Kulturen bekämpfen sich nicht, sie fließen zusammen. . Karl Blessing Verlag, München 1900, 240 Seiten, ISBN 978-3-89667-363-3
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Autor
Michael GleichMichael Gleich, Publizist, Stroryteller und Redner, hat 2011 "der kongress tanzt. Netzwerk für gute Veranstaltungen" initiiert. Es berät Veranstalter darin, Konferenzen und Foren als lebendige Lernorte zu gestalten.