[13:00 bis 14:00] Volker Ludwig: Gefühle verbinden. >>
[14:00 bis 15:00] Florian Gaag: Kultur am Limit. >>
[15:00 bis 16:00] Ilja Trojanow: Die Sprache finden. >>
[16:00 bis 17:00] Reinhard K. Sprenger: Dem Management entwachsen. >>
[17:00 bis 18:00] Joana Breidenbach / Ina Zukrigl-Schief: Jeder ist global. >>
[18:00 bis 19:00] Wolf Lotter: Fremde Nachbarn. >>
[19:00 bis 20:00] Gayle Tufts: Eine Liebeserklärung. >>
[20:00 bis 21:00] Julian Nida-Rümelin: Wechselseitiger Veränderungsdruck. >>
[21:00 bis 22:00] Pepe Danquart: Nähe braucht Zeit. >>
[22:00 bis 23:00] Culcha Candela: multimusikalische Kultur. >>
[23:00 bis 00:00] Bruno Baumann: Extreme Pfade. >>
[00:00 bis 01:00] André Sarrasani: Alltag im Nationalitätengemisch. >>
[01:00 bis 02:00] Jochen Sandig: Schwellen zur Kunst abbauen. >>
[02:00 bis 03:00] Holm Friebe: fremde neue Arbeitswelt. >>
[03:00 bis 04:00] Michael Hoffmann: Experimentieren. Vergleichen. Suchen. >>
[04:00 bis 05:00] Ibrahim Syed: Wanderer zwischen Welten. >>
[05:00 bis 06:00] Uli Reinhardt: der respektvolle Blick. >>
[06:00 bis 07:00] Arne Klempert & Delphine Ménard: Neue alte Partizipationskultur >>
[07:00 bis 08:00] Herfried Münkler: Ent-fremdet euch! >>
[08:00 bis 09:00] Maria Simon & Bernd Michael Lade: Ostblick - Fröhliche Fremdheit. >>
[09:00 bis 10:00] Seyran Ates: oszillierende Identität. >>
[10:00 bis 11:00] Silvia Bovenschen: Das Alter, ein unbekannter Kontinent. >>
[11:00 bis 12:00] Peter Prange: Geschafft! >>
[12:00 bis 13:00]
Gerd Ruge
Fernsehjournalist, Moderator und Bestsellerautor. Als
Korrespondent arbeitete er in Moskau und in den USA. Seine Reisen
führten ihn in viele russische Provinzen, nach China, Afghanistan
und Afrika. Überall tauchte er in die Alltagskultur ein, um dem
heimischen Publikum das Fremde nahe zu bringen.
Die Mauern durchbrechen.
Es war als hätten die Propheten des Clash of Cultures den
Donnergott geschickt. Schwer ziehen schwarze Wolken über den
Berliner Hauptbahnhof. Dunkles Grollen durchzittert die hohen
Hallen. Regen peitscht gegen die Glasfronten. Rasch eilen die
Reisenden, das Regenwasser von ihren Schirmen schüttelnd, ins
Innere des Palastes am Rande des Regierungsviertels, in dem sich
seit einem Jahr Züge aus Ost und West und Nord und Süd kreuzen.
Vor dem Hintereingang Richtung Kanzleramt reihen sich die
Fahrradrikschas, Taxis hupen, heulend rast ein Krankenwagen
vorbei, auf dem Weg zur nahe gelegenen Charité. Das lebensechte
Skelett eines Diplodocus überragt die Bahnhofsbesucher, ein
stummer Zeuge längst vergangener Zeiten, als die Erde noch nichts
vom späteren Gewimmel menschlicher Kulturen ahnte.
In der Austernbar stehen die Kameras in Position. Der
Blick aus dem gläsernen Ecksalon mit seinen schweren
Samtvorhängen reicht weit über Spreebogen, Abgeordnetenhaus,
Reichstag, bis zum Fernsehturm am Alexanderplatz in der Ferne.
Zwei Dutzend Besucher haben auf den Zuschauerstühlen Platz
genommen. Seite an Seite sitzen die beiden Interviewer der
Culture Counts Crew am Tisch, gegenüber Gerd Ruge. Ihn werden
Peter Felixberger und Michael Gleich als erstes befragen. "Ihre
Prognose, Herr Ruge, halten wir 24 Stunden die Spannung",
flüstert Gleich. Ruge lächelt. "Die Frage ist: Halten Sie durch?"
Die Maskenbildnerin tupft noch schnell die Gesichter ab. Aus der
Austernbar dringt das leise Klappern von Geschirr. Stühle
quietschen. Psst. Es geht los.
"Es ist 12 Uhr Mitteleuropäische Zeit. Wir befinden uns im Berliner Hauptbahnhof. Das Experiment kann beginnen, der 24-Stunden-Marathon mit Persönlichkeiten aus Kultur, Wirtschaft, Medien", Peter Felixberger hebt die Stimme. "Wir fragen sie: Was ist fremd? Was ist kulturelle Vielfalt?" Nicht einen Positionsaustausch mit Funktionären haben die Publizisten im Sinn. Sondern eine persönliche, eine emotionale Annäherung an das Thema. Einen offenen, spontanen, gerne auch mal chaotischen Austausch von Erleben und Erfahrung. Gleich lächelt. "Denn Kultur ist immer ein spannender Prozess mit viel Gefühl".
Da ist Gerd
Ruge zum Auftakt der Richtige. Er weiß, wie wichtig das Gefühl
ist, wenn es darum geht, sich Menschen einer anderen Kultur zu
nähern, sie zu entdecken, ihre Motive, Haltungen, Sichtweisen auf
das Leben zu ergründen. Jahrzehntelang war der Fernsehjournalist
in vielen Ländern der Welt unterwegs, in China und Russland vor
allem. Als "Eindringling in fremde Kulturen" hat er sich dabei
schon oft empfunden. Wie ist er den Menschen nahe genommen? "Man
muss herausfinden, was die Menschen selbst beschäftigt, was sie
interessiert. Und darüber reden." Über ihren Alltag, ihr Leben,
aber auch, natürlich über die Spannungslinien und Konflikte in
den Ländern. Und dabei die eigenen Werte, die eigene kulturelle
Brille so weit wie möglich zurückhalten. Auch wenn es nie möglich
ist, die Brille der eigenen Kultur gänzlich abzulegen.
Wenn Ruge gefragt wird, ob er mal selbst etwas erlebt hat,
das er nicht verstand, denkt er an China. Diese ferne Kultur,
"deren Emotionalität für uns - gerade im China nach der
Kulturevolution - nicht vorhanden war, versteckt hinter einer
Maske". 1976 zum Beispiel, als die Chinesen nach dem Tod des
Staatspräsidenten Angst vor einer Rückkehr der Mao-Anhänger
hatten. Hunderttausende Menschen, alle blau angezogen, wie damals
üblich, versammelt auf einem Platz. Eine Totenfeier. Eine
Demonstration. Still. Sehr still. Plakate, die Ruge und sein Team
fotografierten, um in wochenlanger Kleinarbeit überhaupt
herausfinden zu können, worum es hier überhaupt geht.
Verklausulierte Reden, voller literarischer Anspielungen, kaum
entwirrbar. Ein Redner zitiert die Rede, die Marx am Grab von
Engels gehalten hat. Ein versteckter Protest. Welch ein unendlich
fernes Land. Wie viel näher aus dieser Perspektive Russland
erscheint, wird bei Ruges Schilderungen offensichtlich. Wer von
Berlin über Moskau nach Warschau fährt, landet tief, tief im
Osten Europas. Wer von China über Sibirien nach Moskau reist,
kommt in einer westlichen Stadt an: La Traviata in der Oper,
McDonalds in der Innenstadt, vertraute Geschäfte und Produkte.
Fremdsein ist immer wieder eine Frage der Perspektive. Kein
Wunder, dass der bekannte Journalist so gerne in Russland gelebt
hat. "Wenn es einem dort gelingt, die Mauer zu durchbrechen,
landet man ganz nah an der russischen Seele - Menschen, die
pladdern, die weinen, die unglaublich offen sind. Das hat mir
gefallen", sagt Ruge und grinst. "Auch wenn natürlich nicht alle
Russen so eine russische Seele haben." Das gehört auch zu seiner
Aufgabe als Journalist: kein idyllisches Klischee nacherzählen.
"Unsere Aufgabe ist es nicht, den Menschen zu sagen, dass die
Iraker auch nette Leute sind, sondern zu erklären, aus welchen
Motiven sie handeln. Und damit einen Beitrag zur Verständigung
zwischen den Kulturen zu leisten." (ad)
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Die dunkeln Wolken sind weiter gezogen. Die Sonne bricht hervor. Volker Ludwig, der Leiter des berühmten Berliner Grips-Theaters für Kinder und Jugendliche, kann kommen.
[13:00 bis 14:00]
Volker Ludwig
Schriftsteller, Kabarettist und Leiter des Berliner GRIPS
Theaters, eine der berühmtesten Kinder- und Jugendbühnen der
Welt. Seine Stücke sind dort angesiedelt, wo das Publikum zu
Hause ist. Ludwigs Stücke wurden in 47 Ländern nachinszeniert und
mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Gefühle verbinden.
Überlebensstücke nennt Volker Ludwig seine
Theaterproduktionen für Kinder und Jugendliche. Die Probleme des
Publikums sind der Stoff, aus dem die Grips-Stücke sind. Es geht
um Konflikte, die junge Menschen mit sich und ihrer Umwelt
auszutragen haben: Ausgrenzung, Einsamkeit, Ängste,
Selbstzweifel, Freundschaft, Unterdrückung. In den
Siebzigerjahren ging es auf der Bühne um Kinderfeindlichkeit und
den Zwang zur Unterordnung. In den Achzigerjahren um die
Hoffnungslosigkeit der No-Future-Generation, um existenzielle
Bedrohungen wie Aids, Atomkraft, Umweltkatastrophen. In den
Neunzigern dann um soziale Spannungen und Fremdenfeindlichkeit.
Alles Konflikte, die irgendwie nach "typisch deutsch" klingen.
Wie aber kommt es, dass Ludwigs Stücke Kinder und Jugendliche auf
der ganzen Welt begeistern? "Es geht um die Grundprobleme der
jungen Generation, und die sind alle gleich", sagt der
Theaterregisseur. Zum Beispiel "Max und Milli" - ein Stück über
die Freundschaft zwischen einem Unterschichtkind und einem
Oberschichtkind. In der indischen Adaption wurde daraus die
Geschichte zweier Kinder aus verschiedenen Kasten.
Oder "Linie 1": ein junges Mädchen fährt einen Tag lang
mit der U-Bahn durch Berlin und begegnet dabei allerlei seltsamen
Großstadtmenschen. Die reaktionären Witwen aus Wilmersdorf etwa
gibt es als Archetyp auch in Kalkutta. Es sind die Witwen der
Ex-Diktatoren, die immer, wenn die U-Bahn über eine Weiche
rumpelt, empört ausrufen: "Sofort den Fahrer entlassen." Also
gibt es gar nicht das typisch Deutsche, das typisch Indische, das
typisch Amerikanische? Doch, sagt Volker Ludwig. "Die Chinesen
etwa haben eine Kultur der Nichteinmischung. Dort kann ein Mann
seine Frau auf offener Straße verprügeln und niemand wird
dazwischen gehen." Und was ist ihm in Deutschland fremd? Die
Angstbesetztheit. Die Furcht davor, etwas zu verlieren. Die tiefe
Skepsis gegenüber dem Fremden. In Deutschland leben 15 Millionen
Menschen mit Migrationshintergrund - das ist ein Fünftel der
Bevölkerung. Jeder weiß, dass die Wirtschaft ohne diese
Arbeitskräfte ins Stocken kommen würde. "Und trotzdem gibt es
diese furchtbare Bleiberechtsdebatte". Der Theatermann hat selbst
erlebt, dass zwei seiner besten Schauspieler abgeschoben wurden,
er kennt viele Asylanten, die seit Jahren hier leben, und von
heute auf morgen das Land verlassen müssen.
Gegen diese Front der Fremdenphobie setzt Volker Ludwig
die Kraft des Theaters. Wenn der Vorhang gefallen ist, sieht das
Publikum die Menschen auf der Bühne anders. Theater kann
Denkschablonen aufbrechen. Es ist die Sprache der Gefühle, die
das Publikum und die Schauspieler vereint. Liebe, Unterdrückung,
Ablehnung - das Emotionale fühlt sich bei allen Menschen, in
allen Kulturen, auf allen Kontinenten dieser Welt ähnlich an. Das
Menschliche ist keinem fremd - eine universelle Sprache. Deshalb
hat es bisher noch kein Stück der Grips-Truppe gegeben, dass sich
nicht in den Kulturkreis eines anderen Landes übersetzen ließ.
Und oft wird viel mehr Fremdheit akzeptiert als man glaubt. Bei
einer Aufführung in Kalkutta gehörte ein Hochbett zur Requisite.
Es sollte ersetzt werden, weil es so etwas in Indien nicht gibt,
blieb aber schließlich doch auf der Bühne. Seitdem kaufen
indische Familien begeistert Hochbetten. (ge)
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[14:00 bis 15:00]
Florian Gaag
Filmemacher aus München, sein preisgekrönter Debütfilm
Wholetrain taucht in den geheimen Kosmos der
Graffiti-Szene ein und zeichnet ein vielschichtiges Porträt
dieser Subkultur, zu der Gaag, heute 33 Jahre alt, in seiner
Jugend selbst gehört hat.
Kultur am Limit.
Wholetrain heißt
im Jargon der Sprayer, einen kompletten Zug mit Graffitis zu
bemalen. Was treibt junge Menschen dazu, sich bei Nacht und Nebel
mit Sprühflaschen auf öffentlichen Freiflächen zu verewigen,
immer am Limit der Illegalität und ständig auf der Flucht vor
Ordnungshütern? "Man will sich sichtbar machen", sagt Florian
Gaag. Graffitis sind mehr als bunte Kleckse auf Fabrikmauern, sie
sind die künstlerische Ausgestaltung des eigenen Namens in
originärem Stil. Mit diesen sogenannten Tags erobern sich die
Sprayer den öffentlichen Raum zurück - ihr Ventil für Kreativität
in einer Welt, die zugepflastert ist mit Werbeflächen. Keimzelle
dieser Subkultur waren die amerikanischen Großstädte der
Sechzigerjahre. In den trostlosen Betonwüsten fanden diejenigen,
die nichts hatten, genügend leere Wände um sich auszuleben. Gaags
Film zeigt Graffiti als komplexe Untergrundkultur mit eigenen
Regeln, Werten und Codes. Doch ist Graffiti nicht längst
Mainstream? Die Werbeszene spielt gerne mit den Motiven der
Sprühkünstler. Neuerdings können sogar gestresste Manager ihren
Frust bei Graffiti-Kursen loswerden. "Graffiti lässt sich
instrumentalisieren, aber nicht kommerzialisieren", sagt der
Filmemacher. So ist es wohl mit jeder Kultur, sonst wäre sie
keine Kultur mehr. (ge)
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[15:00 bis 16:00]
Ilja Trojanow
Entstammt einer bulgarischen Familie, die nach Deutschland
floh und nach Kenia weiterzog. Er hat in München, Bombay,
Kapstadt und Paris gelebt. Mitglied des deutschen
P.E.N.-Zentrums, Träger des Berliner Literaturpreises. Romane
u.a.
Der Weltensammler,
Zu den heiligen Quellen des Islam.
Die Sprache finden.
Wer ist Ilja
Trojanow? Er selbst weiß, wer er ist. Gerade deshalb macht sich
der Schriftsteller es nicht leicht, über Identität zu reden. "Es
gibt keine statische Identität. Veränderung schafft Identität".
Das sagt einer, der mit sechs Jahren seine Heimat verlassen
musste. Trojanow schreibt auf Deutsch, seine Werke sind in viele
Sprachen übersetzt worden. Er redet über Identität und über die
Sprache, die sein wichtigstes Handwerkszeug ist und zugleich der
Rohstoff, der von ihm bearbeitet wird: "Wenn man sich für eine
Sprache entscheidet, nimmt man nicht die Identität an. Sprache
ist ein Stoffmuster, das jeder für sich selbst zuschneidet." Das
verbittere ja gerade die alten Engländer, wenn sie nicht mehr
wiedererkennen würden, was jemand zum Beispiel aus Simbabwe mit
"ihrem" Englisch macht, wenn er es spricht.
Und hierzulande? "Das Deutsche ist ausländerfreundlicher
als die Deutschen", entgegnet Trojanow und wird lyrisch: Deutsch
könne fließend sein, warm, rhythmisch, mystisch. Dennoch würden
die Deutschen mit ihrer Sprache hadern, denn nach dem Zweiten
Weltkrieg hätte sich der Selbsthass gegen die eigene Sprache
gewandt. "Es war eine intellektuelle Attitüde, gegen die deutsche
Sprache zu sein." Deshalb empfand man romanische Sprachen
melodischer und schöner - zu Unrecht, so Trojanow, und bricht
eine Lanze für Georg Trakl und Paul Celan.
Mit klaren Worten wendet sich Trojanow gegen eine lange
Zeit gültige Sichtweise zum Spracherwerb von Migranten:
"Beherrschung der Sprache ist Ermächtigung. Wer Ausländern ihre
Sprache lässt, schließt sie aus." Ist das nicht intolerant?
Trojanow dreht es um: "Ist es nicht problematisch, wenn man sich
selbst als tolerant bezeichnet?" Hier trifft er einen Punkt
deutschen Selbstverständnisses, das er mit "Toleranz als den
Rücken zukehren" benennt. Man könne sich höchstens tolerant
verhalten und dann von anderen so bezeichnet werden.
Unwillkürlich denkt man an eine andere deutsche Eigenart, nämlich
die, sich selbst zu entschuldigen. Dabei kann man dies ebenso
wenig - man kann nur um Entschuldigung durch andere bitten, die
dann möglicherweise gewährt wird.
Immer braucht man die Anderen, sogar wenn sie Fremde sind.
Für Trojanow braucht es das Fremde, gerade um das Eigene zu
erkennen. Trojanow unterscheidet hier die Hybridisierung von der
Fusion (er spricht es englisch aus). Die "Fusion" sei
intellektuelle Rosinenpickerei, zum Beispiel wenn Björk für eine
Platte ein paar neue Sounds braucht und sich an fremden Klängen
bedient. "Die kann sich balinesische Rhythmen aneignen, obwohl
sie vielleicht nur 48 Stunden auf Bali war."
Den Trend zu einem globalisierten Einheitsbrei kultureller
Ausdrücke und Äußerungen sieht er kritisch: "Wenn uns das Fremde
ausgeht, findet keine Vermischung mehr statt." Dabei hätten die
Einwanderer immer viel mitgebracht, was Deutschland bereichert
habe - und nicht nur die wohlhabenden, gut ausgebildeten
Hugenotten. Und was ist deutsch? Er sagt lieber, was es nicht
ist: "Leitkultur, das ist wie Leitplanke: es begrenzt links und
rechts, aber was eigentlich Verkehr sei, darüber sagt sie
nichts." Doch was ist mit der Angst vor dem Fremden? In diesem
Moment spricht aus Trojanow der europäische Humanist: "Wenn wir
diese Angst nicht überwinden können, ist die Idee der Aufklärung
nichts wert." (ar)
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[16:00 bis 17:00]
Reinhard K. Sprenger
Gilt als einer der profiliertesten Managementexperten in
Deutschland. Mit seinen Büchern hat Sprenger die spießige
Managementwelt von Grund auf verändert. Er ist nicht nur ein
gefragter Redner auf Kongressen und Tagungen, sondern tritt
nebenbei auch mit einer Musikband auf.
Dem Management entwachsen.
"Manager -
im Grunde sind die mir immer fremd geblieben". Wenn Reinhard
Sprenger über Wirtschaft redet und schreibt, dann fragt er sich
wohl manches Mal, welche Wirtschaft das eigentlich ist, die
solche Menschen an der Spitze hat. "Es gibt Manager, die sich aus
der Solidargemeinschaft der Zivilisierten herausgeschossen
haben". Man merke es schon an der Sprache, so Sprenger, etwa bei
der Verwendung des Begriffs "Sub". Nein, nicht als Präfix für
Einordnungen wie "suboptimal" - das ergebe ja noch einen Sinn:
mit "Sub" meint man eine der vielen weltweit verzweigten
Tochtergesellschaften, auf englisch subsidary company oder eben
"sub". Sprenger weiß aus Erfahrung: "Man adelt den größten
Schwachsinn, wenn man ihn anglisiert".
Und ein gewisses Maß an Minderintelligenz gehört laut
Sprenger schon dazu, um Topmanager zu werden: "Sie müssen doch
nur sehen, wie die ins Flugzeug einsteigen, dann wissen Sie, was
Systemintelligenz ist." Für Sprenger zeigt sich dabei immer
wieder eines: "Das sind herzlich arme Socken." Dabei seien längst
nicht alle Manager so. Sprenger könnte es wissen: Er hat alle
DAX-Konzerne und viele andere Unternehmen beraten. Er sagt: "98
Prozent sind anders. Die leben in Dilemmata, und halten das aus."
Vielleicht kommt er auch deshalb zu dem deutlichen Urteil: "Wir
brauchen eine Entidiotisierung der Managementlehre - doch davon
sind wir weit entfernt."
Dass Manager aber oft als Leistungselite gesehen werden,
was entsprechende Gehälter erst rechtfertigt, ist für Sprenger
keine hinreichende Begründung: "Die Eliten in Deutschland sind
Herkunftseliten. Leute mit dem richtigen Stallgeruch, die
vorgezogen werden, warum auch immer". Der Elitenforscher Michael
Hartmann von der TU Darmstadt, einer der übrig gebliebenen
marxistischen Wissenschaftler, forscht genau hierzu und kommt zu
demselben Ergebnis. Das Irritierende ist dabei jedoch: Während
Hartmann im Elfenbeinturm sitzt, verkehrt Sprenger auf der
Teppichetage der deutschen Industrie. Vielleicht klingen seine
Worte deshalb so unglaublich wie glaubwürdig.
Denn
Sprenger kennt die Vorstandsvorsitzenden, neudeutsch "CEO", die
Verschmelzung von Popkultur und Wirtschaft. "Ein Unternehmen, das
ist nur noch der CEO. Der Rest zählt nicht mehr. " Ein großer
Apparat an Inszenierung, sichtbar ist nur noch der Vorstand -
doch die ganze Vielfalt der Menschen darunter sieht man nicht
mehr.
Kein Wunder, dass es da mit dem Vertrauen der Menschen in
Unternehmen nicht so weit her ist. Denn für Sprenger gibt es auch
kein DAX-Unternehmen, das mehrheitlich vertrauensbasiert geführt
wird. Dabei ist Vertrauen die Grundvoraussetzung gelingenden
Managements, so Sprenger. Es gelte auch, die Fremdheit, die
Andersartigkeit auszuhalten. Doch die Machtfrage ist stets
präsent: "In dem Moment, wo ich was von Ihnen will, wird
Anderssein zum Risiko."
Vielleicht wird es Zeit, dass unsere Manager erwachsen
werden und ein Leben leben. Für Reinhard Sprenger ist diese
Aufgabe zu schaffen, wenn er sagt: "Jeder Mensch ist immer und
überall fremd - das auszuhalten, nenne ich erwachsenes Leben."
(ar)
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[17:00 bis 18:00]
Joana Breidenbach & Ina Zukrigl-Schief
Ethnologinnen und Autorinnen. Gemeinsam veröffentlichten
sie u.a.
Tanz der Kulturen, wissenschaftliche Studien und Kolumnen
zur kulturellen Globalisierung in
brand eins. Ihrer Meinung nach führt Globalisierung nicht
unbedingt zur weltweiten Einebnung, sondern stärkt lokale
Kulturen.
Jeder ist global.
Warum ist
MacDonalds bei Chinesen so beliebt? Nicht so sehr wegen der
schlappen Buletten, sondern weil es dort die saubersten Toiletten
gibt. Warum bevölkern Heerscharen von Jugendlichen die
Fast-Food-Ketten in Singapur? Nicht nur wegen der Fritten,
sondern eher wegen der häuslichen Enge. An den Tischen von
MacDonalds finden Schüler einfach mehr Platz um ihre Hausaufgaben
zu machen. Kultur wird weltweit importiert und exportiert, aber
die Menschen vor Ort eignen sich diese globale Ware auf ihre ganz
spezielle Art an.
Joana Breidenbach und Ina Zukrigl-Schief lassen die
Kulturen tanzen - locker hinweg über die Gleichschaltungsängste
der Globalisierungsgegner und die Statistiken der
Globalisierungsexperten. "Es lohnt sich, genauer hinzusehen",
sagen die beiden Ethnologinnen. "Zahlen sagen nichts, man muss
sich die Menschen anschauen."
Von außen betrachtet sehen die Discotheken in Kalkutta oder
New York gleich aus. Aber der Club in Kalkutta öffnet schon um
vier Uhr und schließt um zehn, weil kaum jemand später auf der
Straße unterwegs ist. Der DJ in Kalkutta spielt auch keinen
Hip-Hop, sondern Bollywood-Musik. Und kaum einer der Besucher
trinkt Alkohol.
Kultur
ist nicht die vordergründige Kulisse von Zeichen und Codes,
sondern das Leben, das die Menschen ihr einhauchen. Auch
Globalisierung ist nicht die tolle Idee der westlichen
Zivilisation respektive ihrer Wirtschaftsbosse. Viel älter ist
zum Beispiel die chinesische Globalisierung - Millionen von
Chinesen, die seit Jahrzehnten, ja Jahrhunderten, in aller Welt
zerstreut ihre familiären Netzwerke pflegen und ihre eigenen
Medien unterhalten. Globalisierung ist gleich kulturelle
Gleichmache? Von dieser schlichten Gleichung halten die beiden
weit gereisten Wissenschaftlerinnen nichts. Erstens wurden
vielfältige Ethnien schon immer von zentralistischen Machthabern
platt gemacht - die Idee des Nationalstaats etwa fußt auf diesem
Vereinheitlichungsprozess. Und zweitens werden sich Menschen in
aller Welt ihrer Kultur stärker bewusst als jemals zuvor. In der
Ausdifferenzierung von Nischen liegt heute großes
wirtschaftliches Potenzial. Dank World Wide Web muss keine dieser
kulturellen Nischen ein Schattendasein fristen. Australische
Ureinwohner verschicken ihre Malereien als Druckvorlage zu
Stoffdesignern in Mailand. Jeder ist global - in aller Vielfalt.
Man muss nur mehr darüber reden. (ge)
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[18:00 bis 19:00]
Wolf Lotter
Der gebürtige Österreicher ist Mitbegründer und Redakteur
des Wirtschaftsmagazins
brand eins. Er ist Autor mehrerer Bücher und gilt als
einer der führenden Publizisten auf dem Gebiet des
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels.
Fremde Nachbarn.
Österreicher
und Deutsche trennt nichts - außer der gemeinsamen Sprache, sagte
Karl Kraus. Und Wolf Lotter buchstabiert den
deutsch-österreichischen Kampf der Kulturen aus: Wenn sich ein
Österreicher mit einem Deutschen verabredet, sitzt letzterer
pünktlich im Café und wartet oft vergebens auf den Kollegen aus
dem Nachbarland. Der Deutsche nimmt alles schrecklich ernst, der
Österreicher geht schlampiger mit Verbindlichkeiten um. Bei
Diskussionen greift der Österreicher seinen Gegner nach
vermeintlichem Rückzug von der Flanke an, der Deutsche aber setzt
volle Kraft voraus auf den Frontalangriff. Deutsche fühlen sich
bei Entscheidung wohler, wenn sie dabei den Rückhalt einer Gruppe
haben und führen den Plan dann auch generalstabsmäßig aus.
Österreicher entscheiden lieber im stillen Kämmerlein und lassen
ihre Pläne fallen, sobald sich neue Umstände ergeben. Aber
wirklich fremd sind sich die beiden Nationalitäten nicht - außer,
wie gesagt beim Deutsch sprechen.
Was den Wirtschaftsjournalisten Lotter mehr befremdet, ist
des Deutschen fremdeln mit der Wirtschaft, frei nach dem Motto
"Was ich arbeite, hat nichts mit meinem Leben zu tun." Zwei
Drittel der deutschen Arbeitnehmer sind laut Gallup-Umfrage
unzufrieden mit ihrem Job und empfinden ihn als lästigen
Fremdkörper, den man sich so gut wie möglich vom Hals zu halten
versucht. Genauso wie die ökonomischen Potenziale der Migranten.
Die meisten von ihnen kommen leistungsbereit ins Land, werden
aber schon bei der Einreise direkt in die Versorgungsecke
geschickt. "Weil sie dort sozialpolitisch verwaltet und unter
Kontrolle gehalten werden können", stellt Wolf Lotter fest. Und
wo hat er sich selbst einmal besonders fremd gefühlt? "In meiner
Heimat." Als der Wahl-Hamburger einmal in einem Dorf in
Vorarlberg nach dem Weg gefragt hat, konnte er den Dialekt der
Einheimischen beim besten Willen nicht verstehen. Die
Verständigung hat dann aber doch noch geklappt - auf Englisch.
(ge)
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[19:00 bis 20:00]
Gayle Tufts
Autorin, Sängerin und Stand-up-Comedian. Seit 1991 lebt
sie in Berlin und hat in dieser Zeit eine einzigartige Karriere
gemacht. Von der Backupsängerin für Max Goldt bis hin zu eigenen
Kolumnen und Shows in Tageszeitungen, Radio und Fernsehen. Erfand
und pflegt "Dinglish" als neue Weltsprache, die jeder verstehen
kann.
Eine Liebeserklärung.
Die
blutroten Lippen dehnen sich zu einem Lächeln, der Mund öffnet
sich zu einem herzhaften Lachen. Gayle Tufts kann sich nicht mehr
halten. Die Deutschen sind verkniffen? Humorfrei? Ewig ernsthaft?
"Jetzt sind sie aber typisch deutsch". Die Amerikanerin schüttelt
sich, immer wieder versperren ihr die dunkeln Ponyhaare kurz die
Sicht, amüsiert umtänzelt ihr Blick den Interviewer. Bitte, Herr
Gleich. Die Deutschen sind in Gayle Tufts lebensberstender,
wortmächtiger Schilderung ein Volk lustiger Genießer saisonaler
Köstlichkeiten (Spargel, Federweißer ...), offen für Spaß und
Lust und Heiterkeit. Republik, Du schönes Wellnessland, Paradies
für freies Rauchen, freies Trinken, freie Fahrt und gerne
entblätterte Körper.
Gayle Tufts zuzuhören, ist wie eine Anleitung zum
Selber-lieben. Wie immer, wenn der Blick des Fremden das Eigene
irritierend zurückspiegelt, ist die Begegnung eine
Entdeckungsfahrt. Erstaunlich, dass die Amerikaner Deutschland
als Land der Freiheit erleben. Rührend die fast kindliche Freude
an ein bisschen beiläufiger Nacktheit auf den Wiesen der
deutschen Parklandschaft. Als die amerikanische Schauspielerin
und Komödiantin Mitte der Achtzigerjahre nach Berlin kam, blieb
ihr die Sprache weg. Wie ist es, ein Land zu entdecken, ohne
Deutsch zu können? "Ich hatte das Gefühl die Menschen seien sehr,
sehr tief." Geheimnisse, die durch Sprachlosigkeit entstehen.
Durch Mangel an Verständigungsmöglichkeiten. Gayle Tufts, Tochter
einer Supermarktkassiererin und eines Barkeepers stürzte, sich
rein mit ganzer Kraft. Und entdeckte, dass das Tiefe manchmal
flach sein kann. Dass Freiheit eine mentale Kehrseite haben kann,
die "Krautcontrol", den Perfektions- und Sicherheitswahn der
Menschen namens Deutsche.
Es war zu
einer Zeit, als sich das Deutschlandbild der Amerikaner noch aus
Wochenschau und Billy Wilder-Filmen, aus John le Carré, aus grau,
grau, grau zusammensetzte. Die Zeiten sind vorbei. "Germany ist
very hip. Die Twentysomethings in New York raunen, Prenzlauer
Berg, Prenzlauer Berg." Ruft sie. Lacht, lacht, lacht. Gayle
Tufts ist wie ein ICE 3 ohne Speedcontrol. Atemlos galoppiert sie
durch den Wald ihrer eigenen Assoziationen, kaum einer kann sich
ihr entziehen. Ihren warmen Schilderungen vom neuen, bunten
Deutschland in den Augen der Amerikanern, einem Puzzle aus
Prenzlberg, Love Parade, Weltmeisterschaft und dem lieben Knut.
Jetzt heißt es: "Wir sind süß."
Dabei ist Tufts keine oberflächliche Blödeltante, sondern
Eine, die genau hinschaut. Auf die unterschiedlichen Lesarten,
die kulturelle Differenz eröffnen kann. Wie in der Rezeption vom
Film "Das Leben der anderen", der Stasi-Abrechnung, die die
Amerikaner zur Allegorie für den drohenden Überwachungsstaat
unter Busch und seinem Patriot Act umdeuteten. Und so ist es kein
Zufall, dass sie verspielt und klug in die Schatzkiste der
kulturellen Wahrnehmungen greift, um den Blick zu erweitern:
Dinglisch, ein Mix aus Englisch und Deutsch. Doppelgänger,
Schadenfreude, Motherfucker, fabulous - alternativlos.
Nach der Dreiviertelstunde lehnt man sich wohlig ermattet
zurück. Und irgendwie ist es auch ganz schön, mal nicht als
ernsthaft, seriös, effizient und pünktlich wahrgenommen zu
werden. Da ist hübsch, nett und zur Not auch süß doch mal was
anderes. (ad)
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[20:00 bis 21:00] Julian Nida-Rümelin
Entstammt einer Münchner Künstlerfamilie. Studierte Philosophie, Physik, Mathematik und Politikwissenschaft und habilitierte 1989 in München. Nach Professuren an amerikanischen und deutschen Universitäten war er 1998 bis 2000 Kulturreferent Münchens und daraufhin Kulturstaatsminister in der Regierung Schröder.
Wechselseitiger Veränderungsdruck.
Selten
ist ein Gegensatz größer als dieser: Die atem-raubende
Komödiantin räumt den Platz. Die sprühend aus dem Leben erzählt.
Der überlegte Intellektuelle betritt die Bühne. Der leise,
gestochen klar sein Denkgebäude aufbaut. Die Debatte weiterdreht.
Er erinnert an die Stoa, an den neuen Humanismus, einer Zäsur in
der Menschheitsgeschichte: Der Erkenntnis, dass der Mensch als
Mensch eine Dignitas hat - nicht nur als Träger einer Funktion,
als Senator oder Pater Familias etwa. Die Ideen des neuen
Humanismus: Jeder Mensch hat Respekt verdient. Jeder Mensch muss
sein Leben selbst verantworten, muss Autor seines Lebens sein.
Der Sozialstaat hat sicherzustellen, dass der Mensch auch in
Krisensituationen Kontrolle über ihr Leben behält.
Wie verhält sich der Humanismus zu kulturellen Differenzen?
Was ist fremd? Wie kann ich eine andere Kultur kritisieren, wenn
ich nicht bei dem radikalen Standpunkt stehen bleiben möchte,
dass jede Kultur ihre prinzipiell gleichwertigen Werte hat, die
nicht zu beurteilen seien?
Julian Nida-Rümelin ist keiner, der ein Problem damit hat,
sich einzumischen. Nicht zufällig war er Staatsminister für
Kultur unter Schröder. Doch er weiß, dass nur Kritik, die von
innen wächst, eine Chance hat. Der Anstoß für Kritik kann von
außen kommen, das ist legitim. Zum Beispiel an der kulturell
etablierten Beschneidung in manchen Staaten der Dritten Welt.
Doch: "Kritik, die lediglich von außen kommt, hat keine Chance
Gehör zu finden. Aber wer im Inneren die Frage anregt, wieso
eigentlich machen wir das, kann etwas in Gang setzen."
Kulturelle Differenzen sind Nida-Rümelins Terrain.
Wenn er von den unterschiedlichen Strategien zur Bewältigung von
heterogen zusammengesetzten Bevölkerungen spricht, bringt er die
ganze Macht seiner Erfahrung ein. Erfahrungen aus München, wo die
25 Prozent Ausländeranteil dank einer gegen Segregation und für
Durchmischung und Kooperation ausgerichteten
Stadtentwicklungspolitik nur wenig zu spüren sind. Erfahrungen
aus Berlin, wo die 13 Prozent Ausländeranteil hingegen stets
Diskussionsthema sind - weil sich seit Jahrzehnten ethnisch
homogene Viertel gebildet haben. Nida-Rümelins Forderung leuchtet
ein: Wir brauchen einen "overlapping consensus", einen
wechselseitigen Veränderungsdruck von Einwanderungs- und
Inlandskultur. Eine neue Erkenntnis ist das nicht. Schon lange
schallt diese Forderung durch die Republik. Geschehen freilich
ist wenig. Das zeigen etwa die beschämenden Demonstrationen gegen
Moscheebauten in München oder Hamburg. Und so wird klar, dass für
das multikulturelle Miteinander - was nie ein Nebeneinander sein
kann - gilt, was auch für die Globaliserung zutrifft: Es kommt
darauf an, was wir daraus machen. (ad)
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[21:00 bis 22:00]
Pepe Danquart
Der Oscar-Preisträger (für den Kurzfilm
Schwarzfahrer) liebt die Extreme. Das spiegeln die Themen
seiner Filme wider: Sportler am Limit, eine indische Banditin,
Freeclimber beim Rekordversuch, körperliche Höchstleistungen ganz
normaler Arbeiter. Ihn reizen Projekte, die auch scheitern
können.
Nähe braucht Zeit.
Bergeweise Tierkadaver, abgeschlagene Köpfe,
blutüberströmte Menschen, derbe Sprüche - ein Ausschnitt aus
Danquarts Film
Working Mens Death, der die Arbeit in einem Schlachthof in
Nigeria dokumentiert. Wer würde freiwillig in diese Szenerie des
Grauens eintauchen, in diese fremde, unvertraute Welt, von der
sich die meisten Menschen angeekelt abwenden. Wie schaffen der
Regisseur und sein Team diesen Sprung vom Gruseln vor dem Fremden
in das hautnahe und bewusste Hinschauen? "Es ist der genaue Blick
auf den Akt des Tötens, auf eine Arbeit, die das ganze Land
ernährt", sagt der Dokumentarfilmer. Wer das Fremde vorbehaltlos
auf sich zukommen lässt und sich mit ihm auf Du und Du vertraut
macht, muss bereit sein, Sicherheiten aufzugeben. Das Unbekannte
reizt und macht Angst zugleich. Bei Danquard ist die Neugier
stärker als die Angst. Was er am meisten fürchtet, ist seine
Neugier zu verlieren. Deshalb gibt es Filme wie
Am Limit: Zwei Extremkletterer versuchen sich am beinahe
Unmöglichen und verlieren dabei fast ihr Leben. Bei den
Dreharbeiten hängen Danquard und sein Team mit in der Wand. Alle
teilen sich die Gefahr, gehen gemeinsam bis zum Limit - und
darüber hinaus. Wenn dieser Schritt auf unbekanntes Terrain
gelingt, ist das ein unbeschreiblicher Höhenflug. Aber es kann
auch schief gehen. "Im Scheitern liegt viel eher die Größe zum
Wachsen als in der Hybris des Erfolgs", sagt der Regisseur und
zitiert Samuel Backett: Versuche, scheitere, versuche noch mal
scheitere besser. Wer sich mit der unbekannte Erfahrung, der
Unmachbarkeit, dem Fremden vertraut machen will, muss sich Zeit
dafür nehmen. (ge)
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[22:00 bis 23:00]
Culcha Candela
"Culcha" steht im englischen Slang für Kultur, "candela"
ist der spanische Ausdruck für eine heiße Mischung der Stile und
Nationalitäten. Die acht Bandmitglieder kommen aus Korea,
Kolumbien, Uganda, Polen und Deutschland, singen auf deutsch,
spanisch, englisch, mischen Elemente aus Reggae, Hiphop und
Rap.
Multimusikalische Kultur.
Was kommt
heraus, wenn sieben Musiker aus fünf Nationen eine Band gründen?
Nicht Hiphop, nicht Reggae, nicht Salsa, sondern Culcha-Sound.
Bei Culcha Candela gibt jedes Bandmitglied sein landestypisches
Gewürz in die Song-Suppe: Karibische Rhythmen vom kolumbianischen
Trommler Larsito. Reggae-Gesang von Ree-doo, dem einzigen
Deutschen. Itchyban, der Pole, steuert eine Prise Rap bei. Jonny
Strange eine ugandische Rap-Interpretation. Lafrotino und Don
Cali runden mit Salsa ab. Und DJ Chino aus Korea ist für die Cuts
und Scratches zuständig. Damit kreieren alle zusammen einen
unvergleichbaren Stilmix und drücken der Musikszene einen höchst
eigenwilligen Stempel auf. Manchmal zu eigenwillig für viele
Mainstream-Scheuklappenträger in der Musikindustrie und den
Medien, meint Ree-doo. "Deutschland ist noch nicht bereit für
unsere Musik." Vielleicht fehlt aber auch in diesem Fall einfach
wieder nur die Neugier auf das Fremde.
Was eint eine Band, die aus unterschiedlichsten Kulturen,
Musikrichtungen und Charakteren zusammengewürfelt ist? Das Ziel,
die gleiche Musik zu machen und die gleichen Grundwerte. "Wir
sind pazifistisch, antisexistisch und wollen positive Botschaften
ins Publikum transportieren", sagt Itchyban. Und zwar in drei
Sprachen. Diese musikalische Vollversammlung der Vereinten
Nationen singt, trommelt und scracht, damit mehr Leute auf der
Welt ihren Kopf benutzen und ihren Hintern bewegen. Die
gegenseitigen Beschimpfungs-Tiraden des Battle-Rap sind ihnen
zuwider. Culcha Candela zählt sich zum anderen Lager des
Sprechgesangs, die Musiker machen keinen Kampf- sondern
Bewusstseins-Rap, oder besser gesagt "Culcha Sound". Ohne
geteilte Werte würde diese Band nicht existieren. Sieben Jungs
aus fünf Nationen, die ein Drittel des Jahres gemeinsam im engen
Tourbus verbringen - das geht nur gut, wenn man sich gegenseitig
respektiert und toleriert. "Was bei uns im Kleinen funktioniert,
kann auch im Großen gelingen", meint Jonny Strange. Sind Culcha
Candela die "Vorzeigeausländer" der Nation? Gelächter auf dem
Podium. Alle Sieben haben tiefe Wurzeln in der deutschen Kultur,
sind in Deutschland geboren oder aufgewachsen, haben deutsche
Väter oder Mütter. Vorzeigeausländer? "Nein, wir sind
Vorzeigedeutsche." (ge)
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[23:00 bis 24:00]
Bruno Baumann
Forschungsreisender, Autor und Filmemacher aus München.
Durchquerte zu Fuß die größten Sandwüsten der Welt, fuhr als
erster durch den Sutley-Canyon in Tibet und entdeckte die
versunkene Kultur des Königreichs Shang Shung. Baumann lebt die
Hälfte des Jahres in Asien. Seine Bücher und Filme sind
Bestseller.
Extreme Pfade.
Wer einmal
am Rande der Wüste gestanden hat, die warme Wüstenluft gerochen,
die sanfte Weite sich auffaltender Dünen mit dem Auge vermessen,
den heißen Sand unter seinen Füßen nachgeben gefühlt hat, die
flirrende Sonne im Anlitz, der hat keine Mühe Bruno Baumann zu
folgen. "Es hat mich interessiert, wie es sich anfühlt, alleine
die Wüste zu durchwandern." Nichts als Sand und Sonne und
irgendwo - vielleicht - eine Oase. Wieso eigentlich? Was
interessiert einen Mann aus Süddeutschland an einer Welt, in der
fast nichts mehr gedeiht? "Die Natur habe ich immer als Lernort
erlebt", sagt Baumann. "Als Bereich, in dem ich erleben kann, was
in der Komfortzone meines Alltagslebens nicht erfahrbar ist." In
das "eigene Portfolio hineinschauen, erkennen, wo die eigenen
Möglichkeiten liegen." Und sich vorbreiten auf den fiktiven
Ernstfall, mit dem der moderne Mensch gewöhnlich nicht gut
zurecht kommt: Tod, Krankheit, Verlust. Trotzdem. Reicht das, um
sich allein durch die Wüste Gobi zu quälen? Zum Wasserloch zu
kriechen auf allen Vieren, um der Welt doch noch das schon
verloren geglaubte Leben abzutrotzen? "Ja, denn nur durch eine
Herausforderung, die so groß ist, dass Lernen unabdingbar wird."
Es ist immer wieder faszinierend, wenn Menschen, die auf
extremen Pfaden unterwegs sind, zu erklären versuchen, wieso sie
das tun. Immer bleibt ein Zauber, aber auch ein Rest an
Unverständnis, was sie auf den extremen Weg treibt. Baumann ist
ein nüchterner Erzähler und ein bescheidener Erklärer. Einer, der
sich selbst manchmal fragen mag, was ihn bewegt, immer wieder
solche Risiken einzugehen. Diese Offenheit macht ihn sympathisch.
Macht ihn zu einem Suchenden - nach sich, nach dem Fremden in
sich und in anderen. Da scheint es skurril, dass der
Forschungsreisende irgendwann aus seiner Leidenschaft ein
Geschäft machte - auf Nachfrage einer Gruppe interessierter
Manager schleifte er sie mit in die Wüste. Teambildungstraining
der anderen Art. Eine Karawane, soundsoviel Liter Wasser und
1.000 Kilometer Wüste. Wie kommen wir durch? Verbissen machten
sich die Manager an die Arbeit. Gaben nicht auf. Lauschten auf
kleinste Zeichen. Vorschlag von Michael Gleich: "Vielleicht
sollten wir unsere Manager öfters in die Wüste schicken."
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[00:00 bis 01:00]
André Sarrasani
Deutschlands jüngster Zirkuschef. Als Magier hat er sich
international große Anerkennung erworben. Er setzt die Tradition
des Dresdner Sarrasani-Zirkus fort, der seit über 100 Jahren
durch die ganze Welt tourt. Eigenwillig und anders. Aufsehen
erregte er jüngst mit einer Kombination aus Dinner-Show und
Artistik.
Alltag im Nationalitätengemisch.
Die
Rolltreppen im Hauptbahnhof sind leer geworden. Ein Mann vom
Reinigungstrupp wischt nachdrücklich den Gummigriff der
Rolltreppen entlang. Null Uhr. Halbzeit. Zwölf Kerzen brennen auf
dem Nusskuchen. Glückwunsch. Andrée Sarrasani sieht gar nicht
müde aus. Der Alltag in der Zirkuswelt scheint auf Nachschichten
gut vorzubereiten. Was heißt Zirkus? Das Klischeebild vom
Zirkusdirektor, sagt der jüngste Zirkusdirektor Deutschlands,
dieses Bild von dem dicken Mann in Frack, Zylinder, mit
Schnauzbart unter der Nase, das stimmt heute ebenso wenig mehr
wie Zirkus einfach Zirkus ist. Eventagentur,
Veranstaltungserfinder, Entertainer - das ist die Zukunft des
Gewerbes jenseits von Pferdchen rechts rum, Pferdchen links rum.
Sagt Sarrasani. Entscheidend: "Wir müssen Zirkus wieder hip
machen."
Denn Zirkus ist eine tolle Sache. Ein Gemisch dutzender
Nationalitäten, von Tieren, Aufregung, Abenteuer. Sarrasani hat
es geliebt in seiner Kindheit. Doch ebenso hat er die Zeit im
Internat geschätzt, in der der die andere Seite kennen lernte:
Den Blickwinkel der sesshaften Welt, das solide Leben.
Realschulabschluss, Schlosserlehre. Aber es zog ihn zurück in die
Welt der Magie, als Illusionskünstler. Derzeit tüftelt er an
einer Zaubernummer mit Raubtieren. Ein Raubtier in einen Menschen
verwandeln und zurück. Geht das? Unbemerkt? "Ich arbeite daran",
sagt der Mann, dem zwei Tiger gehören, die er selbst aufzog, mit
der Flasche. Und wie funktioniert das Gemisch der Kulturen in der
Zirkuswelt? Konflikte, Reibereien? Das geht nur mit Disziplin und
Pünktlichkeit, mit dem gleichen Respekt vor dem Stalljungen wie
vor dem Starkünstler. Das Schöne ist: "Jede Nation bringt eigene
Feste mit. Deshalb feiern wir praktisch alle zwei Tage." Zuckrige
Idylle? Unsinn, sagt Sarrasani. So ist das einfach im Zirkus. Da
lernt man Toleranz. (ad)
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[01:00 bis 02:00]
Jochen Sandig
Kulturmanager und Netzwerker. Er gründete das Kunsthaus
Tacheles, dessen Leiter er bis 1994 war. Mit seiner
Lebenspartnerin, der Choreographin Sasha Waltz, gründete er die
Tanzcompagnie Sasha Waltz & Guests. Gemeinsam mit dem
Musikmanager Folkert Uhde ist Jochen Sandig Geschäftsführer und
Künstlerischer Leiter des Radialsystem V, das im September 2006
eröffnet wurde.
Schwellen zur Kunst abbauen.
Es ist
ein Uhr morgens. Im Studio kehrt langsam angestrengte Ruhe ein.
Jochen Sandig ist hellwach. Seine Augen funkeln, wenn er über das
Radialsystem V erzählt. Ein neuer Veranstaltungsort mitten in
Berlin. In einer Stadt, die notorisch pleite ist, errichten sich
Künstler ihre eigene Bühne und erobern sich öffentliche Räume
zurück. In diesem Fall ein altes Abwasserwerk von 1880. Sandigs
Vision ist luzide: "Das Radialsystem V möchte Grenzen zwischen
Künstler und Zuschauer durchlässig machen, Allianzen zwischen
Sub- und Hochkultur bilden und den modernen Tanz mit alter Musik
zusammenbringen."
Es ist ein offenes System, das jedes Mal ganz neu bespielt
wird. "Nur wenn Leere herrscht - zum Beispiel ein leerer Raum
vorhanden ist-, kann sich etwas spontan entwickeln. Wenn hingegen
alles gesetzt ('möbliert') ist, liegt zu viel fest." Sandig hat
keine Angst vor der Unübersichtlichkeit, dem Unscharfen und
Undurchdringlichen. Für ihn sind sie die Luft zum Atmen.
Sandig kam aus der baden-württembergischen Provinz Anfang
der 90er Jahre nach Berlin. Seine Selbstentfaltungslinie ist ohne
Brüche: Begründer des Tacheles, dann zusammen mit Sasha Waltz in
den Sophiensälen und in der Schaubühne. Jetzt das Radialsystem V
am Ufer der Spree. Auch ein Ort der Vernetzung? "Klar", sagt
Sandig, "der alte, imagegemäße Pseudoindividualismus in der
Kunstszene weicht der Erkenntnis, dass das Neue von Mischungen
lebt, von künstlerischen Grenzgängern, von Hybridisierung und
Kreolisierung".
Sandig ist ein Grenzgänger, der das Fremde sucht. Das
Vorhersehbare, das Erwartbare langweilt ihn. Deshalb hat er im
August die Akteure der Zentralen Intelligenz Agentur eingeladen,
drei Tage lang jeweils von 21 Uhr bis 5 Uhr morgens zu wohnen, zu
arbeiten und zu diskutieren, wie das wilde, ungezähmte
Arbeitsleben von morgen aussehen wird. Nine to five - anders
gedacht.
Ein elitäres Kunstverständnis ist ihm ebenfalls fremd. Ein
weiteres Ziel: Alltagskultur mit den hohen Künsten vermischen.
Den Normalbürgern die Schwellenangst vor der hehren Kunst zu
nehmen. Sandig hat das Problem erkannt. Die Angebote des
Radialsystems sind deshalb niedrigschwellig. "Es gibt Tage, in
denen ganze Familien kommen und Kunst schnuppern können."
Mit Sasha Waltz, der innovativsten Tanzchoreografin
Deutschlands, ist Sandig privat liiert. Zwei Kinder, ein
Familienleben, ein Künstlerleben. Kreative Spannung zwischen
Ordnung, Zeitplan, Kontrolle und Chaos, Zeitverschwendung und
Experimenten. "Ja, anstrengend, ungewöhnlich, aber auch voller
Kraft und Liebe."
Jochen Sandig bleibt nach dem Interview noch sitzen. Lehnt
sich zurück und genießt das Unfertige, das Ungewollte und
Unbedarfte des Interview Marathons. Ein starker Auftritt!
(ge)
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[02:00 bis 03:00]
Holm Friebe
Geschäftsführer der Zentralen Intelligenz-Agentur in
Berlin. Für seinen Weblog "riesenmaschine" erhielt er den Grimme
Online Award 2006. Sein Bestseller
Wir nennen es Arbeit beschäftigt sich mit
Lebensunternehmern, Jobnomaden und Mikrounternehmern, die für
eine neue Arbeitswelt stehen.
Fremde neue Arbeitswelt.
Die digitale
Bohème ist auf dem Vormarsch - ihre Geschäftsräume sind virtuell
und der Job dient vorrangig der Selbstverwirklichung. Immer mehr
Menschen lassen die herkömmliche Arbeitskultur hinter sich und
basteln sich ein Erwerbsleben, das dem braven Angestellten des
Industriezeitalters so fremd vorkommen muss, wie ein entfernter
Stern. "In den vergangenen zwanzig Jahren haben sich die Werte
innerhalb der Gesellschaft in Richtung Individualität und
Selbstverwirklichung verschoben", meint Holm Friebe. Die Krux ist
allerdings, dass die Wirtschaft diesen Anspruch nicht einlöst.
Zum Glück gibt es heute Technologien, mit denen man leicht an den
Türstehern der alten Arbeitskultur vorbeikommen kann. Man braucht
sein Expertentum einfach nur ins Netz zu stellen und darf darauf
hoffen, dass es an dieser Verwertungsschnittstelle irgendwann auf
Interessenten trifft. Befremdlich nur, dass der Verdienst bei
dieser Art von Tätigkeit nicht halb so wichtig ist, wie Respekt
und Anerkennung durch eine Community. "Wenn man allerdings eine
Zeitlang in der neuen Kultur arbeitet, will man nicht mehr in die
alte zurück", weiß Friebe. Das Problem ist allerdings, dass die
Rahmenbedingungen wie Sozialsystem oder Besteuerung immer noch
auf das Angestelltendasein zugeschnitten sind. Maßgeschneidert.
Die Politik ignoriert die neue Arbeitskultur, und die Mehrheit
der Bevölkerung kann noch nicht viel damit anfangen. Das zu tun,
was man am liebsten tut, ist ein Gedanke, der in krassem
Gegensatz zur protestantischen Ethik steht. Und die sitzt noch
allzu vielen Menschen tief in den Knochen. Die fremde Welt der
Lustarbeiter macht ihnen Angst - lieber auf der sicheren Seite
bleiben, auch wenn der Job dort nur Frust bereitet. "Aber hat in
Wirklichkeit nicht der Siemens-Ingenieur den prekären
Arbeitsplatz?" Fragt Friebe. Es gibt Alternativen zur alten
Arbeitskultur - man muss sich nur trauen. (ge)
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[03:00 bis 04:00]
Michael Hoffmann
Spitzenkoch und Inhaber des Margaux in Berlin. Er gilt als
einer der ambitioniertesten Köche Deutschlands. Im Hamburger
Hotel Vier Jahreszeiten entwickelt er seine Cuisine Avantgarde
Classique, eine Küche klassischen Ursprungs, die ihm einen
Michelin Stern beschert hat.
Experimentieren. Vergleichen. Suchen.
Ja. Schon.
Es kann mal vorkommen, dass man Michael Hoffmann beim
Neuland-Würstchenstand am Brandenburger Tor erwischt. Aber das
ist die Ausnahme. Michael Hoffmann kommt gerade von der Schicht.
Aus den rot-goldenen Hallen neben der französischen Botschaft.
Hoffmann ist Spitzenkoch. Tag für Tag rührt er leichte Sößchen
und lockere Cremes, richtet feines Gemüse, brät saftiges Fleisch.
Nur damals, in der Hochphase der BSE-Skandale, als er merkte,
dass er sich in seiner Küche nicht mehr wohl fühlte, verbannte er
Fleisch rigoros aus seiner Zubereitungsstube. Ein Jahr lang.
Komischerweise hat kaum ein Gast das fehlende Grundelement
moniert.
Kochen ist eine mulikulturelle Angelegenheit. Kein Mix,
aber ein Experimentieren, Vergleichen, Suchen in
unterschiedlichen Kulturen des Kochens. Für einen, der auf dem
Land aufgewachsen ist, von Kindesbeinen an Kühe, Schweine, Hühner
versorgt, Gemüse und Obst geerntet, Nahrungsmittel selbst
hergestellt hat, war der Weg zum Koch nicht weit. In einem
einfachen Restaurant eines Ortes ging er in die Lehre, sog gierig
alles Wissen seines Chefs auf, der viel herumgekommen war, wie es
sich als Koch gehört. "Koch ist ein Wanderberuf. Man muss viele
Küchen, viele Essvorlieben kennen". Und so hoppte er von einem
Job zum nächsten, in Schweizer Hotels, zu Stuben der bürgerlichen
Küche, lernte drei Jahre lang im berühmen "Aubergine" von
Witzigmann. Er aß sich durch die Speisen der Konkurrenz, ging
Essen, um vom Anderen zu lernen. Längst hat er seinen Stil
gefunden: Avantgarde classic, klassische Küche modern zubereitet,
mit knackfrischen, saisonalen Produkten der Region.
Schlangenfleisch und Heuschrecken? Das reizt ihn nicht.
Was braucht man, um den Juroren Sterne abzuzwingen? Wenn
er das wüsste. Nur soviel: Ohne stimmiges Konzept geht es nicht.
Und was sagt der Trend auf dem globalen Kochmarkt? "Die
regionalen Kochkulturen werden gestärkt. Auch an der Vielfalt
kommen wir nicht vorbei: Überall ist alles zu haben - jede Küche
egal aus welchem Erdteil, jedes Produkt." Das muss keine
Bedrohung sein. Solange wir uns darüber nicht selbst verlieren.
(ad)
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[04:00 bis 05:00]
Ibrahim Syed
Germanist und Software-Unternehmer aus Kerala, Indien.
Seine Magisterarbeit schrieb er über Elias Canettis "Masse und
Macht", sein Geld verdient er heute mit "Off-Shoring": Seine 36
Mitarbeiter schreiben Software für deutsche Kunden.
Wanderer zwischen Welten.
In Kerala, dem
südindischen Bundesstaat, hocken die Kollegen um diese Uhrzeit
längst schon vor ihren Monitoren und tüfteln an Programmen.
Kerala ist ein Palmenland. Dort lebt Ibrahim Syed, das ist seine
Heimat. Doch Deutschland ist sein zweiter Herzensort. Immer
wieder reist er hierher. Wegen der Kunden seiner Firma. Aber
stärker noch "aus Liebe zur deutschen Sprache". Das Pendeln ist
auch ein Wandern zwischen Welten. Kann man das Hirn umschalten,
von einem kulturellen Kontext auf den anderen? In München liegen
bei Sonnenschein zehntausende nackte Menschen an der Isar. In
Kerala gehen Frauen nur im langen Sari ins Wasser, und auch nur
bis zu den Knöcheln. "Die Kontraste schocken mich immer wieder,"
sagt Ibrahim. Jede Reise nach Deutschland wird zum Lerntraining
in Sachen Toleranz. "Ich versuche, das Beste aus beiden Welten in
mir zusammen zu führen." Etwa die indische Gelassenheit gegenüber
Fehlern oder wenn einer der Mitarbeiter eine Woche lang nicht zur
Arbeit erscheint, weil er seine Schwester verheiraten muss.
Kombiniert mit deutscher Akuratesse, die im harten
Software-Business von Vorteil ist.
Doch manchmal "zerreißen mich die Kontraste schier", sagt
Ibrahim, dessen wortgewandtes Deutsch manchen Muttersprachler in
den Schatten stellt. Deshalb kann er gut verstehen, dass die
meisten seiner Kollegen eben nicht nach Green Cards für
Deutschland Schlange stehen. Sie bleiben am liebsten in ihrer
Heimat, sind Familienmenschen und fühlen sich im Schatten von
Kokospalmen wohl. Deutschland ist ihnen zu kalt, die Sprache
fremd, die Berichte über Ausländerfeindlichkeit werden im
Internet aufmerksam verfolgt. Fremdes Land. Deshalb gilt die
Devise: Bleibe im Lande und verbinde dich per Satellitenleitung
mit dem Rest der Welt.
Ibrahim Syed repräsentiert den Typus eines global denkenden
Inders, der Weltgewandheit und Heimattreue miteinander verbindet.
Kerala ist ein guter Nährboden für diese Kombination. Das
Bundesland hat die höchste Alphabetisierungsrate aller
Entwicklungsländer. Das Gesundheitssystem gilt als hervorragend.
Religiöse Toleranz verhindert, dass Christen, Buddhisten, Hindus
und Muslime aufeinander einschlagen, wie es zyklisch in anderen
Gegenden Indiens vorkommt. Ibrahims Familie verkörpert diese
kulturelle Offenheit. Er, der Muslim, ist mit einer Hindu
verheiratet, die aber auch gerne im Koran liest. Seine Tochter
geht mal in den Tempel, mal in die Moschee. Sie hört auf einen
Namen, der von weit her ins Palmenland kam: Monika. "Damit möchte
ich meine Dankbarkeit gegenüber der deutschen Sprache
ausdrücken," sagt Ibrahim, "sie ist der Schlüssel zur Kultur
meiner zweiten Heimat." (ad)
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Der Berliner Hauptbahnhof in der Morgendämmerung.
Drinnen geht der Marathon weiter.
[05:00 bis 06:00]
Uli Reinhardt
Als Fotograf hat er auf allen Erdteilen gearbeitet, meist
für den
stern. Für das Magazin berichtete er über Dürren,
Hungersnöte, Überschwemmungen, Bürgerkriege. Vor allem aber über
die Betroffenen. Reportage heißt für ihn, sich in fremde Menschen
und Kulturen einzufühlen und das Echte zu visualisieren.
Der respektvolle Blick.
Als Uli
Reinhard vor zwei Jahren in das Erdbebengebiet nach Pakistan kam,
wusste der Fotograf, dass er ohne Hilfe aufgeschmissen war.
Eigentlich brauchen Menschen nach einer Katastrophe alles andere
als einen Fotografen. Und wie soll man mit Leuten arbeiten, deren
Sprache man noch nicht einmal ansatzweise spricht. "Ich musste
ihr Vertrauen gewinnen - mit Gesten, mit Körperhaltung, mit
Zurückhaltung", erzählt Reinhard. Wenn Menschen merken, dass sie
respektiert werden, kann sich dieses Vertrauen aufbauen.
Das Problem unserer Medien ist aber, dass die Geschichten
nicht schnell genug gemacht sein können. Doch Tempo verhindert
Vertrauensbildung. Nur schnell ein wenig an der Oberfläche des
Fremden zu kratzen, das reicht nicht, um jene Schichten zu
erreichen, wo Verständnis anfängt: die Ebene der grundeigenen
menschlichen Empfindungen. Und noch etwas öffnet das Tor zu dem
Fremden - nicht nur als Fotograf: "Man soll demütig an seine
Arbeit herangehen - mit Demut vor dem, was man nicht weiß."
(ge)
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[06:00 bis 07:00] Arne Klempert & Delphine Ménard
Programmierer und Macher von Wikipedia. Der deutschsprachige Teil der Online-Enzyklopädie hat bereits über 575.000 Artikel. Wikipedia funktioniert als Plattform des freien Wissens. Eine Wissensdemokratie von unten, die international agiert und kulturelle Schranken zu überwinden hilft.
Neue alte Partizipationskultur.
Warum
machen die Menschen das? Stundenlang Beiträge schreiben,
recherchieren, überarbeiten, gegenchecken? Täglich 500 Mal allein
in Deutschland. Honorarfrei. Arne Klempert lächelt fein.
"Letztlich wissen wir das auch nicht. Außer dass wir die
Rückmeldung bekommen, dass es den Leuten Spaß macht, dadurch ihr
Wissen zu erweitern. Sich Anerkennung in der Gemeinschaft zu
erarbeiten." Der Gemeinschaft von Wikipedia, dem interaktiven
Online-Lexikon.
Arne Klempert und Delphine Ménard sind Programmierer und
Macher von Wikipedia Deutschland. Entsteht hier eine neue Kultur
sich mitteilen zu wollen? Entwickelt sich eine nie zuvor gekannte
Lust an der Partizipation? Vielleicht hat der dutzendfache Hype
ums Internet den Wikipedia-Chef vorsichtig gemacht. Er will hier
keine weltweite Massenbewegung am Horizont erkennen, sondern
weist bescheiden darauf hin, dass es sich nach wie vor um eine
kleine Community handelt, die die berühmte Datenbank mit Wissen
füttert. Umso sympathischer ist es, wenn er sich in einer kleinen
Nebenbemerkung über Verlage und Journalisten freut: "Wikipedia?
Nein, nutzen wir nicht, sagen die. Doch als das Gerücht ging,
dass wir der Süddeutschen die Leserechte verweigern wollten,
bekamen wir panische Anrufe. Das könnt ihr nicht machen.
Natürlich war das ein falsches Gerücht."
Wikipedia ist eine weltweite Community. Doch sie ist in
jedem Land anders. Getrennt durch Sprachbarrieren bosseln die
Schreiber vor sich hin. Doch es ist mehr. Auch kulturelle
Hindernisse, unterschiedliche Lesarten von Geschichte,
unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt spiegeln sich
erstaunlich sichtbar in den nationalen Ausgaben wider. Michael
Gleich hat ein fiktives Beispiel zur Hand: Wäre etwa Napoleon
Alkoholiker gewesen, würde er in England als harter Säufer
dargestellt, den schlimmsten Drogen verfallen, in Deutschland
spräche man verständnisvoll vielleicht von phasenweise starkem
Zuspruch zu leichten Rauschmitteln, in Frankreich hingegen
genehmigte er sich zu Feierlichkeiten gerne mal ein Schlückchen.
Es gibt Wikis in 251 Sprachen. Eine Fundgrube der
Deutungsvielfalt.
Stehen wir nun an der Schwelle zu einer neuen Kultur der
Partizipation? Vorsicht, sagt wieder Arne Klempert. Eigentlich
ist die Idee des Teilens von Wissen und Können eine ebenso alte
Geschichte wie die Lust am Exhibitionismus. Nur dass die Wege mit
Web 2.0 und Communities à la Wikipedia vielfältiger geworden,
Verbreitungsgrad und Sichtbarkeit explodiert sind. "Die
Selbstdarstellung hat globale Dimension bekommen. Partizipation
ist erweitert um Kollaboration." Oder winkt doch eine neue
Dimension am Horizont, wenn nun auf der neuen Mediendatenbank von
Wikipedia virtuelles Teilen real wird? Klingt nicht schlecht:
Open-Source-Anleitungen vom Profi für Jedermann - zum Beispiel
ein Rezept, nach dem sich jeder ein exzellentes Bier selbst
brauen kann. Na bitte, Prost. (ad)
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[07:00 bis 08:00]
Herfried Münkler
Mit seinen Büchern
Die neuen Kriege und
Imperien prägt der Politiktheoretiker Diskussionen in
Deutschland. Er versteckt sich nicht hinter wissenschaftlichem
Jargon, sondern erreicht mit Erzählkunst viele Köpfe - in
akademischen Kreisen ein seltenes Talent.
Ent-fremdet euch!
Er ist
zuhause in einer Welt, die von der Mehrheit der Bürger als fremd
und kryptisch empfunden wird - der Welt der Wissenschaft. Warum
erreicht das, was in den luftigen Höhen akademischer
Elfenbeintürme gedacht und debattiert wird, so selten den Boden
der gesellschaftlichen Realität? Elitedenken? Bequemlichkeit?
Ignoranz? Manchmal ja, meistens aber nicht, meint Herfried
Münkler. Die Welt der wissenschaftlichen Theorie braucht ihre
formalen Sprach- und Denkmuster als praktisches Instrument - sie
schaffen jene Distanz zwischen dem Betrachtungsgegenstand und der
Person des Forschers, die Objektivität erst möglich macht. Es
gibt aber einen weiteren Verfremdungseffekt, der
wissenschaftliche Erkenntnis hervorbringen kann: Der
hermetisch-grauen Theorie Leben einhauchen, indem man sie in
spannende Geschichten kleidet. Und das tut Herfried Münkler in
seinen Büchern und Vorlesungen mit nahezu sportlichem Ehrgeiz:
"Erst wenn ich die Anzahl der Studenten, die während meiner
Vorlesungen Pinkelpause machen, niedrig halten kann, bin ich mit
meiner Arbeit zufrieden." Das Fremde vertraut machen und Menschen
dort abholen, wo sie stehen - was der Politologe Münkler so
virtuos beherrscht, will vielen Politikern so gar nicht gelingen.
Was meint der Experte zu der politischen Entfremdung der Bürger?
"Vermutlich sind die Erwartungen des Volkes an das, was Politik
zu leisten hat, so lange und so erheblich überzogen worden, dass
Enttäuschung nicht zu vermeiden ist." Damit ist die Verständigung
zwischen "denen da oben" und "denen da unten" nachhaltig gestört.
Soziale Probleme werden kulturell verbrämt, damit man den
unbequemen Kern der Konflikte elegant umschiffen kann - bei den
Jugendunruhen in Frankreich ebenso, wie bei der Migrationsdebatte
in Deutschland. Hier wie dort wäre Klartext angesagt. Herfried
Münkler: "Menschen müssen Perspektiven bekommen, um
wirtschaftlich und kulturell teilzuhaben." (ge)
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[08:00 bis 09:00]
Maria Simon & Bernd Michael Lade
Schauspieler. Simon schaffte ihren Durchbruch bei den
Internationalen Filmfestspielen 2003 in Berlin, wo sie in
Good bye, Lenin! die Schwester von Daniel Brühl spielte.
Lade war Schlagzeuger in der ersten Punkband in der DDR. Heute
ist er als Filmregisseur und Schauspieler erfolgreich.
Ostblick: Fröhliche Fremdheit.
Sie
scheinen aus der Nacht zu kommen. Oder sie liegen sonst samstags
um acht Uhr einfach noch in den Federn. Mit ihren vier Kindern.
Welch unerträglich verlockende Vorstellung. Heute. Nach 19
Gesprächen beim Interviemarathon. Zäh wie durchgearbeitetes
Kaugummi ackern sich Maria Simon und Michael Lade durch die
Sätze.
Ein Schauspielerpaar und Erfolgsduett. Maria Simon, den
jüngsten Nachwuchs um den Bauch geschnürt, spielte in
Good Bye Lenin die Schwester von Daniel Brühl. Bernd
Michael Lade, etwas zusammengesackt auf den Tisch gelehnt, schlug
aufs Schlagzeug in der ersten Punkband der DDR. Arbeitete als
Baufacharbeiter, kämpfte sich durch die NVA, schaffte es trotz
Aufmüpfigkeit auf die renommierte Busch-Schauspielschule, nach
der Wende dann zum Fernsehkommissar. 17 Jahre lang, Polizeiruf
110, Tatort.
Ein Tor, wer die beiden nicht in Schwung kommen lässt. Als
Schauspieler sind sie es gewöhnt, in fremde Rolle zu schlüpfen.
Fremd? "Nein", murmelt Lade. "Ich denke, Schauspieler machen sich
etwas vor, wenn sie sagen, dass der aggressive Familienvater
etwa, den sie gerade spielen, nichts mit ihnen zu tun hat. Jeder
hat etwas Aggressives in sich. Es geht darum, eine Rolle nicht
nur als etwas Fremdes zu sehen, sondern auch einen Teil in sich
selbst zu erkennen. Finde ich."
Fremd war für Simon und Lade die Begegnung mit dem Westen.
Wie anders war dieser Teil des Landes als der Osten, aus dem sie
kommen. Der Osten, die Diktatur, die Gängeleien, die Überwachung.
So hat Lade diesen Staat erlebt und zu hassen begonnen von
Herzen. Zuallererst die Polizisten, diese DDR-Vopos. "Das was ein
riesen Hass mit terroristischem Fundament in mir."
Wie rührend dagegen der fremde Westen und seine Bullen.
Als er, der Nachwuchs-Ossi-Kommissar für den Tatort übungshalber
zwei Wochen an der Polizeischule mitmachen durfte, blieb ihm
nichts als Wundern. Er dachte: "Was regen sich die Wester so über
ihre Bullen uff? Die werden hier zur Freundlichkeit erzogen,
zerbrechen sich den Kopf über Bürgernähe und vorsichtigen Umgang
mit Kriminellen. " Hey, was ist hier los? Du kommst aus dem
Polizeistaat mit skeptischem Blick zu den Bullen des anderen
Staates, und plötzlich triffst du so liberalen, demokratischen
Westbullen. Eine Erfahrung, die erst aus dem Blick des Fremden
möglich wird. Bernd Michael Lade hat sie freundlich überrascht.
Und Lust gemacht auf 17 Jahre Bullenspiele. (ad)
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[09:00 bis 10:00]
Seyran Ates
Rechtsanwältin, Menschenrechtlerin, Muslimin, Mutter,
Tochter, Bisexuelle, Ausreißerin, Feministin,
Feministenkritikerin, Berlinerin, Attentatsopfer, Autorin,
Kopftuchgegnerin, Sozialdemokratin. Oder einfach: Seyran. Für ihr
Engagement erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.
Oszillierende Identität.
"Ich bin
Deutschländerin." Wer so locker mit seiner kulturellen Identität
spielt, hat sich wohl schon viele Gedanken darüber gemacht.
Seyran Ates ist eine Wanderin zwischen den Welten. Ihre Kindheit
hat sie auf der türkischen Seite ihrer Persönlichkeit verlebt -
in einer Großfamilie, wo nur das "wir" zählte. Als Heranwachsende
ist sie ausgebrochen, um ihre deutschen Wesenzüge zu entwickeln:
Individualität und Selbstverwirklichung. Dann hat sie gespürt,
dass sie ihre türkische Herkunft nicht ganz aufgeben will. Und
heute oszilliert ihre Persönlichkeit irgendwo zwischen beiden
Welten. "Das ist Transkulturalität", sagt die Anwältin. "Ich bin
die individuelle Kombination meiner kulturellen Wurzeln."
Sie genießt es inzwischen, ihre kulturellen Identitäten wie
einen Mantel zu wechseln. Anderen machen diese Grenzgänge Angst,
vor allem dann, wenn ihnen eine der beiden Kulturen nicht
vertraut ist. Das aber lässt sich ändern, ob im Kindergarten, in
der Schule oder im Sprachkurs. Zerrissenheit bricht auf, wenn
Vorurteile den klaren Blick vernebeln. Und wenn man die Augen vor
den Negativ-Effekten der Wunsch-Identität verschließt. Seyran
Ates etwa kann die Verbundenheit mit der Familie nicht ablegen,
obwohl sie damit oft in Konflikt mit ihrer Freiheitsliebe kommt.
Doch: "Erst wenn das Fremde in allen widersprüchlichen Facetten
ausgehalten wird, kann Toleranz beginnen."
Der große Irrtum der "Multikulti-Fanatiker" ist, dass sie
sich diesen Widersprüchen nicht konsequent genug stellen. Man
fühlt sich tolerant, wenn Migranten gewährt wird, ihre Kultur so
auszuleben wie sie immer war. Damit spricht man ihnen aber
gleichzeitig ihre Wandlungsfähigkeit ab und stellt sie in die
Ecke der unmündigen Opfer. "In diesem Land gibt es Prinzipien,
die für alle Bürger gelten: Deutschkenntnisse, die Achtung des
Rechtssystems und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung."
Was geschieht, wenn die dahinter stehenden Werte wie
Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und Gleichberechtigung
missachtet werden, hat die couragierte Anwältin und
Frauenrechtlerin schmerzhaft zu spüren bekommen. Zweimal entging
sie nur knapp einem Attentat, die Drohungen und Anfeindungen
hören bis heute nicht auf: "Auch Türken sind fremdenfeindlich.
Nicht wenige lachen euch Deutsche einfach aus: kein Rückgrat,
keine Werte, kein Patriotismus - alles Weicheier!"
Auf beiden Seiten ist noch viel zu viel Angst, die
hemmungslos instrumentalisiert wird - das ist das Trennende
zwischen Türken und Deutschen. Aber das Verbindende aber ist auch
präsent - und Seyran Ates ist seine Verkörperung: Wir können uns
stark machen und gemeinsam gegen diese Ängste ankämpfen.
(ge)
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[10:00 bis 11:00]
Silvia Bovenschen
Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Essayistin. Schrieb
den Bestseller "Älter werden". Thematisiert darin ihre Erkrankung
an Multipler Sklerose und ihren scheinbaren Verlust an
Lebensqualität, die an anderen Stellen wieder gestärkt
hervortritt. Jüngst war sie Trägerin des bedeutenden
Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik.
Das Alter, ein unbekannter Kontinent.
Silvia
Bovenschen fährt im Rollstuhl in die Austernbar. Modisch
gekleidet, perfektes Make-up, strahlendes Lächeln - ihr Einzug
hat etwas Triumphales. Im Gespräch mit Michael Gleich und Peter
Felixberger zeigt sie sich widerspenstig. Sie weicht Fragen aus,
stellt Gegenfragen, immer lächelnd. Nachher, als der Ton
abgedreht ist, gesteht sie ihre Lust an der Provokation ein. Für
sie hat das was Sportliches. Die beiden Interviewer nehmen die
Herausforderung an. Lassen nicht locker mit Fragen nach der
Position der Essayistin zum Altern, das sie selbst "ein fremdes
Land" nennt.
Ein Tabu hat sie zum Thema gemacht, Alter und Krankheit.
Und hat mit diesem Tabubruch Erfolg. Das Buch "Älter werden" war
lange in den Bestseller-Listen. Wegen einer starken These? Nein,
eher weil es in seinen Aphorismen und Gedankensplittern seltsam
unscharf bleibt. "Frau Bovenschen, Sie haben diesen unbekannten
Kontinent namens Alter erkundet - bringen Sie schlechte
Nachrichten mit, müssen wir diesen Lebensabschnitt fürchten?" -
"Nein, das habe ich nicht geschrieben. Das Alter hat auch seine
Vorzüge. Eine große Gelassenheit zum Beispiel," sagt Bovenschen
und strahlt diese Gelassenheit auch im Gespräch aus. "Dann ist
altern also gar nicht so fürchterlich, wie man in Zeiten des
Jugendwahns vermuten könnte?" - "Also, auf keinen Fall ist es
angenehm. Der körperliche Verfall, die Einschränkungen - alles
kein Spaß." Und so geht der sportliche Schlagabtausch über 45
Minuten. Ihre Haltung zum Älterwerden basiert nicht auf
Eindeutigkeiten, erst recht möchte sie niemanden einen Rat geben,
vielmehr wagt sie Gedankenexperimente.
Neue Generationen von Deutschen zählen jetzt oder demnächst
zu den Alten - aber "die Alten" gibt es nicht, wie Silvia
Bovenschen verkündet. Eine Vielfalt von Konzepten für den letzten
Lebensabschnitt wird ausprobiert werden. Neue Netzwerke werden
die Kernfamilie ersetzen, "da sind Wohngemeinschaften von Alten
und Jungen erst der Anfang". Altern wird bunter, sagt Silvia
Bovenschen, setzt sich wieder ihren Rollstuhl und rauscht aus der
Austernbar. (ad, ge)
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[11:00 bis 12:00]
Peter Prange
Hatte seinen Durchbruch als Romanautor mit
Das Bernstein-Amulett. Es folgte die grandiose Trilogie:
Die Principessa,
Die Philosophin und
Die Rebellin. Sein letztes Buch
Werte. Von Plato bis Pop wurde von Angela Merkel bei ihrer
Antrittsrede als EU-Ratspräsidentin in Straßburg ausführlich
zitiert.
Geschafft!
Die beiden
schwarzen Rücken mit dem Schriftzug
Culture Counts Crew am Interviewtisch beugen sich gerundet
nach vorn. 23 Stunden in den Knochen. Endspurt mit Peter Prange.
Ein Romanschriftsteller, der sich auf die Spur nach Werten
begeben hat. Kaum zu stoppen in seinen Gedanken über die Natur
des Menschen, der unfertig auf die Welt kommt, aber voller
Potential. Seine Aufgabe: "Werde, der du bist", wie Friedrich
Nietzsche sagte. Und so steht der Mensch vor der Herausforderung,
seine Idee davon, was er sein könnte, damit in Übereinstimmung zu
bringen, was ist. Ein Weg, auf dem ohne Werte die Orientierung
verloren geht.
Auf welche Werte kommt es an, Herr Prange? Freiheit,
Gleichheit, Demokratie, das Übliche? Nein, das ist zu universell,
um europäisch zu sein. Vielleicht hat Prange eine kleine Antwort
gefunden: Den Fortschritt, aber immer gebunden an eine skeptische
Grundhaltung. Das ist der Kern moderner Identität. Europa hat die
Wirtschaft nie entlassen aus der Bindung an die Philosophie.
Wir sind als Menschen nicht fertig, daher müssen wir das
Fremde in uns und das Fremde im Gegenüber immer wieder neu
reflektieren, um uns selbst zu finden - und den anderen.
12 Uhr mittags. Die Augenringe rutschen bis zu den Knien.
Die Stimmung springt adrenalingetränkt ins Hirn. Der
24-Stunden-Interviewmarathon ist geschafft. Applaus, Danke,
Blumen.
Und? Herr Felixberger, was nun? Momente des Zweifels sind
überstanden. Die hastig eingeworfene, ungewohnte Koffeinkeule vor
Zirkuschef André Sarrasani, der folgende Schüttelfrost und
Schwindelattacken sind überwunden. Nach dem Tief ging es bergauf.
Jetzt rauscht das Gefühl durch Körper und Geist, das Gefühl es
geschafft zu haben. Die Erinnerung an Gespräche, in denen
Fremdheit schwer weichen wollte wie mit
Good Bye Lenin-Schauspieler Maria Simon. Die Erinnerung an
besondere Gespräche, jene, bei denen es gefunkt hat. Wie mit
Oscar-Preisträger Pepe Danquart, der mitfühlte, mitlebte,
mitwusste, auf gleicher Ebene, was Grenzen durchbrechen bedeuten
kann. Und nun? Schlafen. Was sonst. Sagt Felixberger, packt Rose,
Trolli und Jacke und eilt aus der Austernbar in den Berliner Tag.
Herr Gleich, was fremd für Sie? Das Gefühl der Angst und
Panik, die Begegnung mit sich selbst. Mit der Angst zu gehen, die
24 Stunden lang in jeder Sekunde, mit dabei war. Und dann die
Grenzen zu überwinden. Meine Sternstunde waren Culcha Candela,
lustig, locker, cool. Kosmische Energie. Sagt Gleich und lehnt
sich, müde, alle, aber sehr, sehr dankbar in seinem Stuhl zurück.
(ad, ge)
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Anja Dilk (ad) und Gundula Englisch (ge) sind freie Redakteurinnen bei changeX, Alexander Ross (ar) ist freier Mitarbeiter bei changeX.
Fotos:
Zeitenspiegel Reportagen - Paul Hahn, Kathrin Harms,
Christoph Püschner und Eric Vazzoler.
www.zeitenspiegel.de
© changeX [11./12./15.05.2007] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Anja DilkAnja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.
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Gundula EnglischGundula Englisch, Journalistin, Autorin und Filmemacherin, arbeitet als freie Autorin und Redakteurin für changeX.
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