Paul Watzlawick ist einer seiner bedeutendsten Vertreter. Seine Anleitung zum Unglücklichsein gründet unter anderem auf der tragikomischen Geschichte eines Mannes, der eines Tages einen Hammer sucht, um ein Bild aufzuhängen. Nachdem er in seiner Wohnung nicht fündig wird, denkt er darüber nach, den Hammer bei seinem Nachbarn auszuleihen. Von da an übernimmt der Kopf die Regie. Der "Unglückliche" stellt sich immer drastischere Bilder vor, warum sein Nachbar den Wunsch ablehnen könnte. Am Ende klingelt er an dessen Tür und schreit den Nachbarn an, warum er ihm den Hammer nicht ausleihen will. Dieser steht verdutzt im Türrahmen und weiß überhaupt nicht, wie ihm geschieht.
Wer sich heute in Unternehmen und Organisationen umsieht, erkennt dieses "konstruierte" Unglücklichsein an allen Ecken und Enden. Meist läuft es nach folgendem Muster: Chefs und Führungskräfte denken sich ihren Teil Wirklichkeit und erheben diesen zur alleingültigen Instanz. Dann gehen sie davon aus, dass alle Mitarbeiter mit dieser, ihrer Wirklichkeitskonstruktion übereinstimmen. Wer aber garantiert, dass sie alle verstehen und sich dasselbe Bild der Realität machen? Blöderweise niemand. Denn jeder konstruiert seine eigene soziale Wirklichkeit. Womit wir an der Talsohle des Dilemmas angekommen sind: Es gibt keine Garantie, dass die Mitarbeiter eines Unternehmens die Wirklichkeit ihres Chefs identisch wahrnehmen, solange sie selbst wackere Realitätskonstrukteure sind. Im Gegenteil. Es herrscht ein Wildwuchs an Wahrnehmungen und Erkenntnissen. Diesen zu bändigen hieße einen Hornissenschwarm dressieren. Versucht wird es dennoch. Heutzutage nennt man das Leadership. Es ist Teil der Unternehmenskultur. Das aber heißt nicht viel.
Was ist Unternehmenskultur?
Denn eigentlich weiß niemand so recht, was man darunter versteht. Weshalb die Unternehmenskultur derzeit mit großen, hohlen Begriffen und Werten geschmückt wird. Von Kundennähe über Nachhaltigkeit bis zu Respekt und Verantwortung. Glücklicherweise ist der Sachverhalt sehr viel einfacher. In einer Unternehmenskultur versucht man nur Regeln und Methoden zu finden, die der Organisation helfen, mit den auftretenden Wahrnehmungsproblemen der Realität fertig zu werden. Kurzum: Unternehmenskultur ist zuallererst Gesprächskultur. Wer darf wie mit wem wann und zum Wohle der Organisation reden? Die international anerkannten Unternehmenskultur-Forscher Fons Trompenaars und Peter Woolliams haben diese Kardinalfrage mit vier unterschiedlichen Firmenkulturen beantwortet:*
- Der Inkubator: Alle reden mit. "Die Organisation existiert nur, um den Anforderungen ihrer Mitglieder zu genügen." Die Struktur ist lose und flexibel. Aufgaben und Verantwortung werden nach den Bedürfnissen und Wünschen der Mitarbeiter verteilt.
- Der Lenkflugkörper: Jeder macht den Mund nur dann auf, wenn er zur Bewältigung einer Aufgabe mit höchster Kompetenz beitragen kann. Die Arbeit wird von den richtigen Menschen am richtigen Ort bewältigt. Der jeweilige Projektleiter hat absolute Befehlsgewalt.
- Die Familie: Es redet nur einer. Er hat die Macht und gibt die Wirklichkeitsdefinition vor. Persönliche Beziehungen bestimmen die Rangordnung in der Organisation. Alle versuchen, sich möglichst nah am Zentrum zu positionieren.
- Der Eiffelturm: Jeder weiß genau, was er zu sagen hat. "Die Kontrolle wird ausgeübt über Regelsysteme, streng rechtlich orientierte Verfahren, zugewiesene Rechte und Verantwortlichkeiten." Eine starke Bürokratie wacht darüber, dass kein Verhalten von den Normen abweicht.
Das klassische Dilemma der Unternehmenskultur.
Betrachten wir an einem Beispiel
näher, warum die Sache mit der Unternehmenskultur oft so
schwierig ist. Folgende Konstellation: Der höchste Wert eines
Unternehmens X ist für die Geschäftsführung das Ergebnis des
nächsten Quartals. Im Gegensatz dazu sind viele Mitarbeiter der
Meinung, dass dadurch zu wenig Zeit bleibe, um kreativ zu sein
und die nächste Generation an Innovationen zu entwickeln. In
dieser Unternehmenskultur herrscht zweifellos große Spannung. Die
Chefetage betrachtet die Firma als Lenkflugkörper, der zielgenau
den nächsten Finanzquartalsbericht im Auge hat. Teile der
Belegschaft hätten aber gerne mehr Inkubator-Kultur, um das
Geschäftsmodell langfristig zu sichern. Anders gesagt: Die Bosse
wollen den Erfolg aus der Vergangenheit konservieren, die
Mitarbeiter wollen den Weg für den langfristigen Erfolg ebnen.
Diese Spannung zwischen aktueller und idealer Kultur zu meistern
ist normalerweise die Aufgabe von Führung. Womit es nicht weit
her ist.
In der Regel wird nämlich das Problem dadurch gelöst, dass
die Chefetage vorsorglich in die Familienkultur wechselt. Oben
schafft an, was unten zu denken hat! Wer ausschert, wird
zurechtgewiesen. Die Reihen dicht geschlossen. Wie eine Wand nach
außen. Undurchsichtig, undurchdringbar. Die Mitarbeiter rätseln
zwar, fügen sich aber von leicht murrend bis erleichtert in die
autoritäre Unternehmenskultur ein. Bei Volkswagen in Wolfsburg
sieht man derzeit, wie hartnäckig sich dieser Ansatz hält. Eine
autoritäre Vaterfigur mobbt den Ziehsohn aus der Geschäftsführung
und dichtet nach außen alles ab. Selbst die Mitarbeiter wissen
nicht, was gespielt wird. Sie erfahren alles Wichtige aus den
Medien. Das ist der Tiefpunkt jeder Unternehmenskultur: Es denkt
und redet nur mehr einer. Die anderen sind entweder froh, weil
sie nicht mehr selbst denken und handeln müssen, oder ballen die
Faust in der Tasche, weil ihr kreativer Gestaltungs- und
Selbstentfaltungswille in die Tonne getreten wird.
53 Prozent der Deutschen sind Individualisten.
Halt!, sagen Kritiker. Die Menschen
sind doch ganz froh, wenn ihnen jemand vorschreibt, wo es
langgeht. Mal sehen, wie stark der Wille zur individuellen
Mitgestaltung überhaupt ausgeprägt ist. Das Ergebnis einer
Befragung von weltweit 65.000 Managern zeigt eine ungleiche
Verteilung über den Erdball. 53 Prozent der Deutschen stimmten
folgendem Satz zu: "Es liegt auf der Hand: Wenn man möglichst
viel Freiheit und alle Möglichkeiten hat, sich zu entfalten, wird
sich die Lebensqualität erhöhen." Damit sind die Deutschen jedoch
nur Mittelmaß. Noch schlechter steht zwar Frankreich mit 41
Prozent da. An der Spitze mit bis zu 89 Prozent liegen allerdings
Dänemark, die USA, Kanada und Israel. Die meisten Individualisten
findet man übrigens in der jüdischen Kultur, am Ende der Tabelle
stehen Moslems (27 Prozent), Buddhisten (25 Prozent) und
Hinduisten (20 Prozent).
Man unterschätzt also nicht nur die persönliche
Wahrnehmung, sondern auch die kulturell verfasste. Der kulturelle
Code eines Menschen beeinflusst ihn mehr, als man bisher dachte.
Es ist deshalb kein Wunder, wenn europäische oder amerikanische
Unternehmenskulturen im Umgang mit fremden Kulturen so oft
scheitern. Beispiel: Ein US-amerikanischer Chip-Konzern wollte
vor einigen Jahren mit einem japanischen Unternehmen den
leistungsfähigsten Chip aller Zeiten entwickeln. Zu diesem Zweck
wurden japanische Forscher in die USA geholt. Eine der ersten
Schwierigkeiten betraf den Arbeitsplatz. Die Japaner waren
Teamarbeit und Gedankenaustausch in großen, weitläufigen
Großbüros gewohnt. Die Amerikaner arbeiteten lieber in kleinen
Einzelbüros. Das behagte den Japanern überhaupt nicht und sie
baten um große Arbeitsräume. Die Amerikaner gingen jedoch nicht
darauf ein, so dass die Japaner schließlich auf den Korridoren
zusammenkamen, um sich auszutauschen. Die interkulturelle
Kommunikation war nachhaltig gestört.
Was lernen wir daraus? Unternehmenskultur definiert sich
durch kulturelle Vielfalt. Die individuelle Programmierung und
kulturelle Codierung jedes Einzelnen ist ein wichtiger Teil
davon. Deshalb sollte sie sichtbar werden. Erst dann kann man
über Werte und Leitbilder der gesamten Organisation reden. Eines
ist sicher: Von der Vielfalt der Mitarbeiter kann ein Unternehmen
mehr lernen als von der exklusiven Sichtweise des Chefs auf die
Welt. Die ukrainische Verkäuferin, der portugiesische
Lagerarbeiter, der indische Programmierer, die tschechische
Krankenschwester, die russische Sekretärin oder der amerikanische
Marketingleiter? Wer hat sie je danach gefragt? Und die deutschen
Mitarbeiter?
Hierzulande hat der Budenzauber um Unternehmenskultur,
Cultural Diversity und Corporate Social Responsibility gerade
erst begonnen. Kaum mehr ein Unternehmen, das sich nicht zu
grundsätzlichen Werten, Visionen und Leitbildern bekennt. Kaum
mehr ein Unternehmen, das sich nicht in Hochglanzbroschüren als
kunden- und mitarbeiternah feiert - natürlich immer mit dem
Menschen im Mittelpunkt.
Wie gesagt: Unternehmenskultur ist vielfältige, offene
Gesprächskultur. Mit allen Mitarbeitern, nicht nur innerhalb der
Chefriege. Sie findet hoffentlich bald ohne den Firlefanz der
Altherrenliga von Potentaten und Diktatoren statt. Cultural
Diversity beruht auf einem einzigen Grundsatz: Je mehr Vertrauen
dem Einzelnen geschenkt wird, je mehr er also sichtbar werden
darf, desto mehr wird er sich einbringen und mitmachen. Die
kulturelle Vielfalt ist der eigentliche Schatz, auf dem jedes
Unternehmen sitzt. Oder andersherum: Der einzelne Mensch weiß
mehr als das ganze Unternehmen. Nur aus dieser Wissensvielfalt
entspringt lebendige Unternehmenskultur. Die Diktatur des Führers
hingegen, die bei Volkswagen & Co. gerade wieder ausgebrochen
ist, hat in der neuen Wirtschaftswelt nichts mehr verloren.
Lies nach bei Kant, Hegel und Nietzsche!
* Fons Trompenaars / Peter Woolliams: Business Weltweit. Der Weg zum interkulturellen Management, Murmann Verlag, Hamburg 2004.
Peter Felixberger ist Publizist und Geschäftsführer des Online-Magazins changeX. Zusammen mit Michael Gleich leitet er die Culture Counts Foundation.
Mit einer Illustration von Limo Lechner.
© changeX [16.11.2006] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Peter FelixbergerPeter Felixberger ist Publizist, Buchautor und Medienentwickler.
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