Vertrauen führt - mit Augenmaß

Living at Work-Serie | Folge 8 | - Reinhard K. Sprenger über Unternehmenskultur.

Langfristig führt an einer vertrauensbasierten Arbeitskultur kein Weg vorbei. Denn Vertrauen kann ein wichtiger Wettbewerbsvorteil sein. Eine Atmosphäre des Vertrauens senkt den Reibungswiderstand in Organisationen, die hohen Kosten für Kontrolle und Monitoring schrumpfen, die Reaktionsgeschwindigkeit steigt. Kurz: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser!

In Zeiten wie diesen wird klar, wie wertvoll, ja unersetzlich Vertrauen ist und was uns fehlt, wenn wir es zerstören. Wer einem anderen vertraut, macht sich verwundbar und verzichtet auf Kontrolle. Aber er erhält auch etwas dafür. All das, was nicht durch Macht oder Geld zu steuern ist: echtes Commitment, eine Zusammenarbeit, die diesen Namen verdient, Innovation durch geteiltes Wissen, letztlich ein Unternehmen, in das die Menschen morgens gerne kommen. Und damit die Chance, für gute Mitarbeiter zum employer of choice zu werden.
Was immer dem Menschen wichtig ist - es gedeiht in einer Atmosphäre des Vertrauens. Das kann aus individueller Sicht vielerlei sein. Denken wir nur an die Netzwerkwirtschaft, die auf Technologie gründet, aber nur auf Beziehungen errichtet werden kann. Oder an die Führung virtueller Teams. Wenn Menschen spüren, dass man sich um sie sorgt und das Management ihnen wohlwollend gegenübertritt, wird der Widerstand bei Reorganisationen geringer. In einer Atmosphäre des Vertrauens reduzieren sich auch die Reibungsverluste durch permanente Absprachen und Vereinbarungen sowie die zum Teil prohibitiv hohen Kosten für Kontrolle und Monitoring. Und nicht zuletzt ist Vertrauen die einzig wirklich funktionierende Basis wirksamer Führung. Die Ökonomie des Vertrauens beschreibt einen Mechanismus, der Menschen wirkungsvoller bindet, als es jede vertragliche Regelung je könnte: die enorme Verpflichtungswirkung, die aus selbstbewusster Freiwilligkeit und dem geraden Verzicht auf explizite Verträge erwächst. Was man loslässt, sucht die Bindung. Und was man festhält, flieht.

Selbstvertrauen und Augenmaß.


Doch Vertrauen gibt es nicht kostenlos. Wer einem anderen vertraut, braucht Selbstvertrauen und ein gutes Auge. Ein Preis ist immer fällig, wie bei den anderen Steuerungsmitteln Macht und Geld auch. Dieses persönliche Risiko des Kontrollverzichts ertragen nur Menschen mit einem Minimum an Selbstvertrauen - mit der inneren Gelassenheit und Ich-Stärke, die einen die Spannung zwischen Vertrauenserwartung und Verratsmöglichkeit aushalten lässt. Nur wer sich selbst vertraut, kann anderen vertrauen.
Vertrauen ist ein Relationsbegriff. Es gibt ihn keineswegs, wie viele Menschen überzeugt sind, im Entweder-oder, sondern im Mehr oder Weniger. Dafür braucht man Augenmaß. Sonst orientiert man jede Pommesbude an der Gefahrenklasse von Atomkraftwerken. Vertrauen bewegt sich zwischen den Extremen "blindes Vertrauen" und "blindes Misstrauen". Irgendwo dazwischen ist das richtige Mischungsverhältnis. Wenn ich in meinem Buch Vertrauen führt für Angemessenheit streite, für ein neues Maß des Vertrauens, dann plädiere ich dafür, eine neue Urteilskraft zu entwickeln. Das ist die Fähigkeit, Urteile über die relative, die proportionale Wichtigkeit von diesem oder jenem zu fällen. Das kann ich nur, indem ich den Einzelnen würdige, den Einzelfall sehe, es möglichst vermeide, ins Misstrauen zu eskalieren, wenn ich enttäuscht werde. Wenn es eine Orientierung gibt, dann daran: Ich vertraue, und manchmal werde ich enttäuscht, und das nehme ich in Kauf.

Zielvereinbarungen und 360-Grad-Feedback - geboren aus Misstrauen.


Wenn sich Vertrauen nicht von selbst einstellt, greifen wir zu so genannten Vertrauensprothesen. Eine davon sind Zielvereinbarungen, wie sie zwischen Chef und Mitarbeitern üblich sind. Zielvereinbarungen sind ihre Misstrauensgeburt nie wirklich losgeworden. Vor allem, wenn ein variabler Einkommensanteil vom Zielgehalt abgespalten und an die Zielerreichung geknüpft wird. Das schafft vielleicht Belohnungs- und Bestrafungsverhältnisse, aber keine Zusammenarbeit. Kohärenz schafft nur Vertrauen auf gemeinsamen Wegen. Mehr noch: Zielvereinbarungen führen oft dazu, dass das Unternehmen als Wertschöpfungsgemeinschaft völlig aus dem Blick gerät und jeder nur noch an das denkt, was Folgen in seiner Brieftasche hat. In Zeiten planbarer, ruhiger Massen- und Verteilungsmärkte war das vielleicht in Ordnung. In einer Economy of Speed ist dieses System neu zu bewerten. Ich glaube, dass ein Mehr an Vertrauen unter den zu erwartenden wirtschaftlichen Bedingungen hilfreich ist. Denn ein hoher Vertrauenspegel in einem Unternehmen ist die einzige Voraussetzung, auf schnellen Märkten Schritt zu halten. Nur Vertrauen macht schnell.
Umso bedauerlicher, dass es im Moment in der Wirtschaft keine echte Entwicklung in Richtung Vertrauen zu geben scheint - dafür aber umso mehr Lippenbekenntnisse. Die scheinbar partizipativen Vorgehensweisen im Management wie 360-Grad-Feedback sind aus Misstrauen und Kontrolle geboren. In den Start-ups hat sich eine Sehnsucht geäußert: danach, "das eigene Ding zu machen", der Wunsch nach mehr Freiraum. Wenn viele dot.coms gescheitert sind, heißt das nicht, dass diese Sehnsucht nicht mehr da wäre. Im Gegenteil. Und da der Wettbewerb der Zukunft zunehmend auf den Personalmärkten entschieden wird und weniger auf den Absatzmärkten, ist es wichtig, die Bedürfnisse der Menschen zu berücksichtigen. Nicht weil es moralisch ist, sondern weil es intelligent ist. Man muss Vertrauen aus der idyllischen Ecke herausholen. Die Frage lautet: Wie rechnet sich Vertrauen? Oder anders herum: Wie teuer ist Misstrauen? All das, was unter der Flagge von Innovation, Kreativität, organisatorischer Verbesserung und Steigerung der Produktivität an Misstrauen inszeniert wird, verursacht in Wirklichkeit extrem hohe Kosten.
Ökonomie ist grundsätzlich eine Misstrauenstheorie. Mehr an Vertrauen kann man daher nicht herstellen, indem man von dem Einzelnen fordert: "Hey, jetzt vertrau mal mehr." Das geht nur, indem man strukturelle Entscheidungen fällt. Und das hat einen Preis: Verlust von Kontrolle. Manchen Leuten tut das extrem weh. Es lohnt sich trotzdem, es zu wagen.

Übersicht aller bereits erschienenen Beiträge der "Living at Work-Serie".

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Reinhard K. Sprenger ist Unternehmensberater und Buchautor. Er gilt als einer der profiliertesten Führungsexperten hierzulande. Mit seinen Büchern Mythos Motivation. Das Prinzip Selbstverantwortung sowie Aufstand des Individuums wirkte er als Trendsetter in der Managementtheorie.

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Vom 19. bis 23. Oktober 2004

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