Zufällig wurde die Wirtschaftsprofessorin Pietra Rivoli Zeugin dieser Demonstration; für sie war dies der Einstieg in eine spannende Reise, die über Tausende von Kilometern durch drei Kontinente führte: von Smyer in Texas über Schanghai und Miami bis nach Daressalam. Der Reisegrund: Pietra Rivoli folgte dem Weg ihres T-Shirts durch die globalisierte Weltwirtschaft. Erstanden hat sie das gute Stück am Strand von Fort Lauderdale: ein Souvenirartikel mit Papagei, Palme und Florida-Schriftzug. Die Herstellerbezeichnung im Etikett führte sie zur größten Textildruckerei der Vereinigten Staaten in Miami, und von dort wies die Spur nach China, wo das Garn gesponnen, der Stoff gewebt und das T-Shirt genäht worden ist. Auf die Frage, aus welcher Provinz des Landes die Baumwolle denn stamme, drehte ihr chinesischer Gesprächspartner indessen den Globus zurück in Richtung Westen und wies mit dem Zeigefinger auf die Mitte Amerikas - Texas. Nach wie vor sind die USA Weltmarktführer in der Baumwollproduktion; sie sind es seit 200 Jahren schon, als die Südstaaten-Farmer den explodierenden Baumwollbedarf des sich industrialisierenden Englands als ihre historische Chance ergriffen. Und immer in diesen 200 Jahren hielt der Staat seine schützende Hand über die Baumwollproduzenten: Von der Sklavenhaltung bis zu den heutigen Importquoten und Textilsubventionen reicht die Geschichte des US-amerikanischen Protektionismus, der die offizielle Freihandelsrhetorik als Lippenbekenntnis entlarvt. Freihandel - in der Textilwirtschaft ist er eine Fiktion.
Sweatshops: besser als die Plackerei auf dem Land.
Pietra Rivoli beschreibt und analysiert mit genauem Blick und klarem Stil und verliert dabei die großen Themen der Ökonomie nicht aus dem Blick: Markt versus Staat, freie Weltwirtschaft versus Globalisierungskritik. Ihr Herz schlägt für den Markt, aber ihre Haltung ist undogmatisch - in jede Richtung. Die Gratwanderung gelingt. Egal, ob sie den Freihandel als Schimäre entlarvt oder globalisierungskritisches Gutmenschentum als satte Überheblichkeit, Rivoli geht den Dingen auf den Grund, schaut selber nach. So hat sie auf ihrer Reise chinesische Textilarbeiterinnen zu ihrer Arbeit befragt. Die Antwort: Sie tun sie gerne, weil sie ihnen "ein Sprungbrett weg von der Plackerei auf dem Land" bietet und ihnen ein Stück Autonomie und Selbstbestimmung verschafft. Obwohl die Arbeit hart ist und längst nicht westlichen Standards entspricht, ist die Rede von frühkapitalistischen Verhältnissen ein falsches Klischee, argumentiert die Autorin, die dem bekannten Entweder-oder ein erfrischendes Sowohl-als-auch entgegenhält: Denn letztlich, argumentiert Rivoli, ziehen beide Seiten in der Globalisierungsdebatte an einem Strang: die Marktkräfte, indem sie mehr Wohlstand schaffen, die Kritiker, indem sie den Konzernen auf die Finger schauen und so für bessere Arbeitsbedingungen sorgen. Also "gemeinsam dazu beitragen, das Los der Menschheit zu verbessern". Nicht anders als in früheren Phasen der Industrialisierung auch.
Entwicklung aus eigener Kraft.
Überraschende Einsichten bietet
auch der Blick auf die letzte Etappe der Weltreise des T-Shirts,
die es - aussortiert aus den gefüllten Kleiderschränken der
Reichen - nach Afrika führt. Das Geschäft mit Altkleidern gilt
als zwielichtiges Gewerbe, das mächtige Profite in dunklen
Kanälen versickern lässt und zudem in den ärmsten Ländern
heimische Arbeitsplätze vernichtet. Rivoli zeichnet ein anderes
Bild. So ist in Daressalam um die Altkleider aus den reichen
Ländern ein wuselnder Markt entstanden, der einer großen Zahl von
Menschen - vom Händler bis zum Änderungsschneider - Arbeit und
Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Und den Menschen Kleidung gibt,
die sie mit Stolz tragen - denn als erniedrigend empfinden sie es
nicht, gebrauchte Kleidung zu tragen, sondern nichts zum Anziehen
zu haben. Dass
Mitumba, wie die Secondhand-Kleidung dort heißt, lokale
Produzenten in den Ruin treibe, hält die Autorin hingegen für
eine Mär. Denn deren Angebot treffe überhaupt nicht die Wünsche
der Konsumenten. In einer globalisierten Wirtschaft läuft das
Spiel anders: Da schaffen der Export von Neukleidung und der
Import von Gebrauchtkleidung gleichermaßen Wert - ein Beispiel,
wie Märkte Probleme lösen. Rivolis Fazit: "Erst hier, in diesem
letzten Abschnitt im Leben eines T-Shirts, gestalten die Kräfte
des Marktes und nicht die Politik den weltweiten Handel."
Das ist eine erfrischend andere Sicht von Globalisierung -
abseits wohlmeinender Political Correctness. Sie lenkt den Blick
auf das eigentliche Ziel von Wirtschaft: die Verbesserung der
Lebensbedingungen der Menschen und die Erweiterung ihrer
Möglichkeiten. Vor allem aber macht das Buch deutlich, dass
Wirtschaft nicht stehen bleibt. Ständig werden Fähigkeiten und
Fertigkeiten weiterentwickelt, treten neue Länder und Regionen
als Herausforderer auf den Plan. Globalisierung realisiert, was
Dritte-Welt-Aktivisten seit langem fordern: Entwicklung! Nur ist
es keine Entwicklung qua staatlicher Transferleistungen, keine am
Tropf der reichen Länder. Sondern aus eigener Kraft: durch die
Entwicklung eigener Fähigkeiten und Ressourcen. Verlierer in
diesem Spiel ist, wer selbst stehen bleibt. Wer vergisst, seine
eigenen Fähigkeiten und Potentiale weiterzuentwickeln. Dann
nämlich helfen nur noch staatliche Schutzmauern, wie sie die
amerikanische Regierung um ihren textilen Binnenmarkt
zieht.
Winfried Kretschmer, Journalist und Autor, arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.
Pietra Rivoli:
Reisebericht eines T-Shirts.
Ein Alltagsprodukt erklärt die Weltwirtschaft,
Econ Verlag, München 2006,
335 Seiten, 16 Euro,
ISBN 3-430-17765-0
www.econ.de
© changeX Partnerforum [23.03.2006] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Pietra Rivoli: Reisebericht eines T-Shirts. . Ein Alltagsprodukt erklärt die Weltwirtschaft. . Econ Verlag, München 1900, 335 Seiten, ISBN 3-430-17765-0
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.