Der Stoff, aus dem die Zukunft ist
Living at Work-Serie | Folge 43 | - Klaus Burmeister und Andreas Neef über Innovationskultur.
Der Begriff "Innovation" ist genauso verwässert worden wie das Wörtchen "Reform". Es wird Zeit, Ideen wieder eine Chance zu geben - und damit Innovationen, die diesen Namen verdienen, Tür und Tor zu öffnen. Das ist dringend notwendig, denn die heutigen Konsumenten sind so gereift und anspruchsvoll wie noch nie.
Nie gab es so viel Innovation. Und selten herrschte so viel gähnende Langeweile in der Konsum- und Warenwelt. Die Produkte werden augenscheinlich immer ähnlicher und die Marketingkampagnen immer austauschbarer. Jedes neue Feature wird von der Konkurrenz postwendend nachgeahmt. Sei es nun das coole 1-Megapixel-Fotohandy oder der lauwarme 1-Minuten-Tassenpudding. Das Neue wird vom Kunden kaum noch wahrgenommen und es verliert in Anbetracht des ständigen Stroms von marginalen Neuerungen, die zu Innovationen hochstilisiert werden, an Faszination und Bedeutung. Innovation verkommt so zur bloßen Attitüde. Der Begriff wird Sinn-entleert. Die Demontage des Innovationsbegriffs in der Wirtschaft findet ihre Entsprechung auf der politischen Ebene mit dem Niedergang des Reformbegriffs. Was bleibt, ist ein weites Feld mit einem zunehmend trostloser werdenden Ausblick auf eine verkümmerte Innovationslandschaft. Eine ernüchternde Diagnose, die nach Antworten verlangt.

Das Innovationsparadox.


Eine schlichte Antwort lautet, dass man das wirklich Neue und Bahnbrechende, das Überraschende und Begeisternde nicht im Akkord produzieren kann. Noch dazu, wenn man keinen rechten Begriff mehr davon hat, was Innovation bedeutet und welches kreative Umfeld Innovationen benötigen. Je schneller sich die Produktzyklen verändern, desto dünner scheint die Substanz des Neuen zu werden. Andererseits fehlen die Maßstäbe, fehlen die Kriterien für die Auswahl von Innovationen. Es fehlen noch dazu die Ziele, die gesellschaftlichen Leitbilder für die Suche nach Innovationen. Es fehlt die Vision und es fehlt das Herzblut, mit dem wagemutige Unternehmer einen risikoreichen Weg beschreiten, um Innovationen den Weg zu ebnen oder mit ihnen unterzugehen. Warum ist das so?
Es herrscht eine paradoxe Innovationskultur in den Unternehmen. Einerseits wird in Sachen Innovation unglaublich auf die Tube gedrückt. "Time-to-Market" heißt das aktuelle Glaubensbekenntnis des Geschäftserfolgs. Innovationen sollen generalstabsmäßig und im Eiltempo zur Marktreife gebracht werden. Auf der anderen Seite regiert die Angst auf den Führungsetagen und in den Vorstandszimmern. Nach den Wirren der New Economy gilt jeder, der sich mit Zukunftsentwürfen oder gar mit Visionen beschäftigt, als gefährlicher Geldvernichter. Da wird jede originelle Idee sofort mit einer Marktpotenzialanalyse drangsaliert. Jeder kreative Keim wird unter der strengen Lupe des Innovationscontrollings zerpflückt. Absicherungsstrategien und Zahlenbürokratie herrschen vor, wo Kreativität und Lust an der produktiven Zerstörung gedeihen sollten. Was durch diese Mühle kommt, ist leider allzu oft uninspirierter Mainstream, getarnt als "Produktpflege".
In Zeiten des High-Speed-Business haben Innovationen kein Ziel, keinen Raum und keine Zeit, sich zu entwickeln und zu reifen. Das merkt man den Konzepten und Produkten, den Strategien und Geschäftsmodellen einfach an. Echte Innovationen stellen für die Unternehmen und die Gesellschaft ein seltenes und kostbares Gewächs dar. Grob gesagt, geht man davon aus, dass gerade mal ein Prozent der Neuerungen innovativ sind. Sie benötigen daher eine Reife- und Auslesekultur, die sie nährt und fördert. Innovationen brauchen Menschen, die ihnen ihre Leidenschaft schenken, sie brauchen Fürsprecher und Türöffner, die sie in und mit der Welt bekannt machen, und vor allem die kleinen Helden, die für sie kämpfen.
Innovation zu schaffen ist eine Kunst mit vielen Facetten. Doch im Moment herrscht die Holzhammermethode vor. Das kann auf Dauer nicht gut gehen, denn der Konsument von heute ist nicht mehr der trendgeleitete von gestern. Geiz mag er zwar geil finden, aber er besitzt auf der anderen Seite auch ein feines und sensibles Gespür für Qualität. Seine Ansprüche an Produkte und Dienstleistungen nehmen zu. Ein Tatbestand, der in der Diskussion über die Ursachen des so genannten Konsumentenstreiks geflissentlich übersehen wird. Über die Qualitäten von Innovationen spricht heute kaum jemand. Wann hat Sie eigentlich das letzte Mal ein neues Produkt wirklich überzeugt, wenn nicht sogar begeistert, mal abgesehen vom wunderbaren Apple iPod?

Der gereifte Konsument.


Der gereifte Konsument, den wir identifiziert haben, fragt wieder nach dem Sinn der Produkte, nach ihrer Qualität. Reif ist er im zweifachen Sinne. Einerseits ist er übersättigt durch das vielfältige Angebot; er hat schon vieles ausprobiert. Zum anderen ist er aber auch an Lebensalter gereift. Er ist angesichts des demografischen Wandels älter und erfahrener geworden. So, wie der durchschnittliche BMW-Käufer bereits 53 Lebensjahre auf dem Buckel hat. Dieser gereifte Konsument ist nicht mehr so einfach durch kurzlebige Zeitgeistartikel, hippe Events oder ein sich nicht einstellen wollendes Erlebnisshopping an die Kassen zu bringen. Er beginnt, wieder in Kategorien der 70er Jahre zu denken. Fast vergessen tauchen wieder solche Begrifflichkeiten wie "Lebensqualität" auf. Eine Diskussion, die damals übrigens stark von der Gewerkschaftsbewegung mitgetragen wurde. Es ging nicht nur um solche elementaren Dinge wie die Humanisierung des Arbeitslebens, sondern um einen ganzheitlichen Ansatz, in dem auch Bedürfnisbefriedigung durch Produkte eine Rolle spielte. Heute kehrt diese Diskussion nicht eins zu eins zurück, aber im Angesicht der nachhaltig verschlechterten ökonomischen Rahmenbedingungen wird der gereifte Konsument zu einem relevanten Konsumententypus, der durch Qualität von den Produkten überzeugt werden möchte.

Die vier Innovationsqualitäten.


Denn das Neue an sich ist kein Selbstzweck. Das Neue braucht Inhalt und Sinn. Es benötigt die Verbindung von sozialen Kontexten und den eigenen Denkwelten. Und es braucht in den Produkten einen Funken, der überspringt. Wenn dies alles fehlt, findet wahre Innovation nicht statt. Da wir jedoch keinen klaren Begriff mehr haben vom Sinn des Fortschritts als Legitimation des Erneuerns, benötigen wir andere Attraktoren für die Orientierung in Innovationsprozessen. Wir müssen uns die Welt wieder aneignen. Wichtige Impulse dafür könnten aus der Open-Source-Bewegung und aus den Peer-to-Peer-Netzwerken kommen. Aber die Wiederaneignung der Welt findet auch im eigenen Umfeld statt. Innovationen müssen sich, wollen sie erfolgreich sein, auf eine veränderte Wirklichkeit einstellen. Wir brauchen ein neues Qualitätsbewusstsein bei der Gestaltung und Umsetzung von Innovationen.
Wir möchten deshalb Ihren Blick auf die vier Qualitäten der Innovation lenken. Ohne sie werden wir in der Innovationssackgasse festsitzen bleiben, medienwirksam mit den Füßen scharren, viel Staub aufwirbeln, aber nicht von der Stelle kommen.

Der Neu-Wert
Innovationen brauchen innere Werte. Sie müssen für etwas stehen, für eine Haltung, eine Perspektive, ein Verhältnis zur Welt und zu den Dingen. Sie sind die Vorboten einer neuen Zeit und unterliegen deshalb in besonderem Maße der öffentlichen Kritik. Innovationen müssen über das Bestehende ein Stück weit hinausragen, eine Ahnung vermitteln von den Möglichkeiten und der Reichweite der Veränderung. Warum gibt es dieses Neue? Welcher Wert drückt sich in dieser Neuerung aus? Wohl den Unternehmen, die auf diese Fragen zukünftig eine überzeugende Antwort bieten können.

Der Simplify-Faktor
Innovationen sollen das Leben nicht komplizierter, sondern einfacher machen und angenehmer gestalten. Diese Forderung ist wahrlich nicht neu, aber sie gewinnt an Brisanz in dem Maße, in dem die Komplexität des Alltags- und Beziehungslebens zunimmt. Beim Simplify-Faktor geht es vor allem um die Qualität der Zeit. Neue Produkte und Dienstleistungen sollten dem Kunden zu mehr Zeitsouveränität verhelfen, statt unkalkulierbare Zeitfresser zu sein. Die Organisation des Alltags, Family Management und Beziehungsarbeit und -pflege bilden die Zielkoordinaten zukunftsfähiger und lebensnaher Produkte.

Der Wow-Effekt
Der Wow-Effekt ist verantwortlich für den Funken der Genialität, der bei gelungener Innovation auf den Kunden überspringt. Innovationen haben nicht nur eine rationale Seite, sondern sie müssen auch im Bauch ankommen. Vielleicht sind es die Schlichtheit und Eleganz einer neuen Idee, eine bedürfnisbefriedigende Funktionalität, die Überzeugungskraft eines gelungenen Designs oder das Erstaunen über einen funktionierenden Service, die das Herz des Kunden höher schlagen lassen und die gelungene Innovation zu einem unverzichtbaren Teil ihres Lebens machen.

Das Aneignungsprinzip
Viele der heutigen Produkte und Hightech-Errungenschaften schaffen zwischen sich und dem Nutzer eine Art unsichtbare Wand. Die mangels notwendiger Programmierkompetenzen in der Bevölkerung notorisch auf 00:00 blinkenden Digitalanzeigen von Videorekordern sind hierfür ein altbekanntes Beispiel, die überbordende Funktionsvielfalt von Mobiltelefonen ein aktuelleres. Und selbst neue Produktgenerationen bringen erstaunlicherweise meist keine Besserung, sondern versuchen, mit nur noch mehr Funktionen und Optionen zu glänzen. Diagnose: Persönliche Aneignung missglückt. Doch Entfremdung führt irgendwann zum Beziehungsabbruch. Das Aneignungsprinzip bedeutet: Bei Innovationen müssen wir uns verstärkter um die Möglichkeiten und Qualitäten ihrer Aneignung kümmern als um ein pures Mehr an Möglichkeiten.

Was tun?


Wie kann und soll es mit den Innovationen nun konkret weitergehen? Wir haben hierzu kein in sich geschlossenes und erprobtes Konzept anzubieten. Ohne eine neue Innovationskultur wird es nicht gehen, so viel ist gewiss. Eine solche Innovationskultur entspringt keinem großen Plan, keiner Programmatik und keinem überparteilichen Konsens. Sie kann nur das Ergebnis vom Handeln seiner Bürger sein. Handeln auf allen Ebenen. Unternehmer, die wieder etwas unternehmen. Mitarbeiter, die, wie geschehen, entgegen dem Willen des Vorstands ein Cabriolet als Prototyp geplant und realisiert haben. Vorgesetzte, die spleenige Ideen nicht gleich abtun. Produktentwickler, die nicht nur wissen, was technisch möglich sein wird, sondern auch wissen, wie die sozialen Kontexte in der Zeit aussehen könnten, in denen ihr Produkt Anwendung finden soll. Zum Beispiel im Jahr 2015. Kreditinstitute, die tatsächlich risikoreiche Ideen absichern. Eltern, denen es nicht zu viel ist, sich in Bildungsprozesse einzubringen. Verbraucher, die ihre Kaufentscheidung von Qualität abhängig machen. Produkte, die den Weg weisen in eine innovative, altersgerechte und nachhaltige Gesellschaft. Ein Gemeinwesen, das eine Innovationskultur entwickelt und lebt, in der das Scheitern kultiviert wird und Anpacken Kult ist.

Übersicht aller bereits erschienenen Beiträge der "Living at Work-Serie".

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Klaus Burmeister und Andreas Neef sind Zukunftsforscher und Geschäftsführer der Z_punkt GmbH The Foresight Company. Sie beschäftigen sich seit Jahren mit Innovationsstrategien in Unternehmen. Ihr neuestes Buch ist Corporate Foresight - Unternehmen gestalten Zukunft.

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Vom 19. bis 23. Oktober 2004

© changeX Partnerforum [29.10.2004] Alle Rechte vorbehalten, All rights reserved.

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Autor

Klaus Burmeister
Burmeister

Klaus Burmeister ist Gründer und Managing Partner von Z_punkt The Foresight Company.

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Andreas Neef
Neef

Andreas Neef ist Managing Partner von Z_punkt.

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