Eine Revolution der Fantasie?

Living at Work Series | Folge 38 | - Mihai Nadin über Technologie und Fantasie.

Mihai Nadin bemerkt einen Mangel an Fantasie bei fast allen Industrieprodukten und auch in unserer Arbeit. Das Problem: Wir wollen Individualisiertes, Kreatives. Aber wir wollen dafür nicht zahlen. Wir finden es zu teuer und geben uns doch mit mittelmäßiger Mechanik zufrieden. Und alles, was mechanisierbar ist, wird schließlich von Maschinen übernommen, und wir werden wiederum wie Maschinen behandelt.

Eines der verblüffendsten Merkmale der neuen Technologie ist ihr Mangel an Fantasie. Nun werden viele protestieren: "Aber schaut euch doch nur die neuen Handys an! Die Plasma-Screens! Seht euch die DVD-Player an! Schaut nur den iPod an, den Palm Pilot!" (Oder andere ähnliche persönliche Assistenten.) Nun, wollen wir mal sehen. Sogar das Qualia 007 Stereo System von Sony, das 15.000 Dollar kostet, oder das Handy von Nokia (vertrieben von Vertu) mit einem Preis von 20.000 Dollar, aus Platin gefertigt, erweist sich letztlich als langweilig. Fünf Minuten Aufregung. Danach ist es lediglich ein sperriges, unhandliches Telefon, das manche mit sich herumtragen, sogar, wenn sie auf die Toilette gehen. Lasst uns den Tatsachen ins Auge sehen: Nach Milliarden von Dollars und Euros, die wir für UMTS-Sendefrequenzen ausgegeben haben, ist das Höchste der Gefühle, was die meisten Leute mit ihrem Handy machen, einander Fotos zu schicken, Fotos, die meist genauso wenig unvergesslich sind wie die Technologie, mit der sie aufgenommen wurden. Und das zu einem Preis, der nicht zu rechtfertigen ist. Bald werden sie auch noch Videos versenden. Na und? Ganz im Ernst, ein Kind beweist mehr Fantasie als die "großen" Designer und Technologen, die hinter den neuesten Gadgets stecken. Kinder nehmen die einfachsten Formen und erfinden eine Fantasiewelt, mit der sich nicht einmal die neuen Spezialeffekt-"Fabriken" in Hollywood, Berlin oder Neuseeland messen können.
Habe ich die Absicht, die neue Technologie zu verteufeln? Sie niederzumachen? Mich über die Designer und Technologen lustig zu machen, die auf den großen Coup warten? Keineswegs. Ich bin mit Leib und Seele für die technologische Revolution, und was ich feststelle, sage ich nicht leichten Herzens. Es tut weh. Meine Studenten in Deutschland und in vielen anderen Ländern, wo ich schon unterrichtet habe, wissen, dass ich ein Enthusiast dieses Zeitalters bin. Sie wissen ebenfalls, dass ich mich nicht von seinem irreführenden spektakulären Aussehen blenden lasse. Ich bin vielmehr gewillt, in aller Öffentlichkeit auszusprechen, dass wir uns - Profis ebenso wie Konsumenten - trotz all der Versprechungen der neuen Technologie weiterhin mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufrieden geben. "Idiotensicher" - das berühmte Adjektiv, das von all denen benutzt wird, die sich mit der Interaktion Mensch/Computer beschäftigen - sagt letztlich genau das, was die Worte sagen. Nämlich: "für Idioten". Uns selbst eingeschlossen - die Wissenschaftler, Technologen, Designer und Marketing-Leute, die nicht gewillt sind, die Messlatte höher zu legen oder wenigstens darauf hinzuweisen, dass des Kaisers neue Kleider seine Blöße nicht verdecken.

Fantasie ist per Gesetz verboten.


Aber warum ist Technologie, wie wir sie erfahren, so langweilig? Wo ist unsere Fantasie geblieben? Unsere Verspieltheit? Ist es billiger, sich mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufrieden zu geben? Effektiver? Lohnender? Profitabler? Wenn das der Fall gewesen wäre, wäre Picasso auch nicht bekannter geworden als du und ich, Beethoven wäre in Vergessenheit geraten und Schönberg aus den Archiven sogar der Menschen ausradiert, die seine Identität verabscheuten (aber nie seine Musik anhörten).
So manch einer wird anführen, dass der Marktdruck der Sündenbock ist: Man muss so viele Produkte verkaufen, dass es besser ist, wenn alle Idioten und ihre Schwestern sie kaufen. Gegen dieses Argument muss ich schon einmal Einspruch erheben. Die Industriegesellschaft hat ihr Leben auf der Formel eins-für-alle ("one-to-many") aufgebaut. Das war effektiv, förderte aber eine alles gleichmachende Mittelmäßigkeit bei der menschlichen Bildung, dem Lebensstil, der Produktqualität und dem Gesundheitssystem ... Wie schon einmal gesagt wurde: Man darf die Attraktivität der Mittelmäßigkeit nicht unterschätzen! Das postindustrielle Zeitalter, das heißt, das digitale Zeitalter der Vernetzung und der Arbeitsteilung, ist ein Zeitalter extremer Individualität - vorausgesetzt, dass die Kräfte, die einer derartigen individuellen Entfaltung entgegenwirken, bei diesem Prozess nicht hinderlich sind.
An diesem Punkt angekommen, ist der Leser vielleicht (endlich!) perplex: Langweilige neue Technologie, die in Zukunft so viel verspricht? Mihai Nadin, du widersprichst dir selbst und hoffst, dass wir es nicht merken. Haben Sie Geduld und denken Sie daran: "Warum?", ist die Frage, die Sie sich hoffentlich stellen. Blicken wir den Dingen ins Auge. Die Designer, Ingenieure und Computerwissenschaftler wurden nicht über Nacht vom Mangel an Fantasie überkommen. Der Prozess wurde schon vor einiger Zeit ins Rollen gebracht. Die Folgen sind nicht nur in der technologischen Entwicklung zu spüren, sondern auch auf anderen Gebieten menschlicher Handlung. Der Mangel an Kreativität kann zurückverfolgt werden zu einer fundamentalen Konzeption des menschlichen Wesens als Maschine. Darauf kommen wir gleich noch einmal zu sprechen.
Regierungspolitik, die keinerlei Fantasie erkennen lässt, keine Bereitschaft, mutig zu sein, verkörpert dieses fundamentale Konzept. Nehmen Sie einmal die Renten, das Reizthema dieser Tage. In den Büros und bei den Fachberufen gibt es weniger Arbeitsplätze, und es werden immer weniger. Aber die Antwort der Regierung lautet immer und immer wieder: Die Lebensarbeitszeit verlängern. Das ist doch absurd - wer würde einen 70-Jährigen einstellen? Betrachten Sie einmal ein anderes Feld, das der Regierungskontrolle unterliegt: Bildung. Todlangweilig. Lange Jugendjahre werden beim Erlernen von Dingen verschwendet, die der Vergangenheit angehören und heute völlig irrelevant sind - so, wie Latein - und die in Zukunft noch irrelevanter sein werden. Oder schauen Sie sich einmal die Büros an - egal welche: Joschka Fischers Büro, entworfen mit Hilfe virtueller Realitätstechnologie, oder die Büros, in denen die Angestellten von Banken, Fabriken, Regierungsbehörden und Kultureinrichtungen arbeiten. Fantasie ist von Gesetz wegen ausgeschlossen. Die Regierung legt die Quadratmeterzahl, die Luftqualität (air-conditioned, natürlich), das Licht und den Geräuschpegel fest. Das Büro als Maschine! Betrachten Sie die Arbeit als solche - in einem Büro oder wo auch sonst - als nichts anderes als eine monotone Übung in repetitiven Aufgaben, die im Detail von Gesetzen und Vorschriften kontrolliert werden.

Die Maschinen-Metapher.


"Warum?", lautete meine Frage. Weil vor langer Zeit bewundernswerte Wissenschaftler verkündeten, dass alles, was existiert, auf eine Maschine reduziert werden kann. Sind Descartes und La Mettrie und all die anderen, die die neue Religion des Determinismus und des Reduktionismus predigten, daran schuld, dass wir nun vor einer technologischen Entwicklung stehen, die die Fantasie kastriert und sie erstickt? Keinesfalls. Descartes fertigte ausdrucksvolle Zeichnungen an, um seine Ideen zu illustrieren, und La Mettrie griff mit scharfer Zunge diejenigen an, die nicht gewillt waren, das menschliche Wesen als nichts Besseres als eine Maschine zu betrachten.
Heutzutage heuern wir Professoren (und Agenturen) an, die PowerPoint-Präsentationen für Idioten abhalten, und Geisterschreiber, die Ideen schriftlich festhalten sollen, die von Meinungsumfragen widergespiegelt werden, keine tiefen Überzeugungen, noch nicht einmal unumgängliche Wahrheiten. Die Metapher von der Maschine wurde zur Obsession. Wie kann gewährleistet werden, dass ein Buchhalter, eine Sekretärin, ein Personalchef oder ein Firmenpräsident genauso vorhersagbar und genau funktionieren wie eine Maschine? Sie werden geschult, man überlässt ihnen Technologie, die einige ihrer Aufgaben automatisiert (Addieren, Subtrahieren, Briefetippen), und ihre Leistung wird an der Menge ihres Outputs gemessen. Was sie sagen und tun und denken können, ist reglementiert. Und nachdem all das durch den Konsens von Regierungen, Eigentümern und Verbänden zustande kommt, ist das menschliche Wesen am Ende auf eine Maschine reduziert. Einstmals war diese Maschine namens menschliches Wesen dazu gedacht, zu heiraten und viele Kinder zu bekommen. Heutzutage ist Fortpflanzung nicht mehr erwünscht, die Ehe ist wirtschaftlich uninteressant. Stattdessen sollen wir konsumieren. Um die Wirtschaft am Laufen zu halten! Und hier ist der Haken: Das teure "menschliche Wesen, das auf eine Maschine reduziert ist", kann in der Tat von einer Maschine ersetzt werden. Und wird es auch. Und diese Maschine wird in irgendeinem Teil der Welt produziert werden, wo die Arbeit noch billiger ist. Die Schulung von Softwareentwicklern aus Indien, die die teuren Programmierer aus den USA, Deutschland und England ersetzen, wird genau von den Leuten durchgeführt, die ihre Jobs aufgrund dieser Gleichung verlieren werden.
Ich habe schon angeführt, dass innerhalb des reduktionistischen Maschinenmodells weniger Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, und noch weniger in Aussicht sind. Das gilt für alles, was langweilig, wiederholend, fantasielos und extrem genormt ist. Auch wenn die Regierungen verlangen würden, dass Menschen arbeiten, bis sie 70 oder 80 Jahre alt sind, würde das doch nicht die ganz einfache Gleichung des westlichen industriellen Modells ändern: Je breiter die Basis der sozialen Pyramide, desto mehr Mittel stehen zur Verfügung, um die sozialen Erwartungen zu befriedigen. Je mehr Konsum, desto besser! Und mit dem Konsum wachsen auch die Erwartungen! Ein Jahr Ferien im Ausland? Warum nicht zwei? Ein Auto? Warum nur eines? Und ein größeres, wenn schon. Schönheitsoperationen sind nicht länger ein Luxus, sondern ein verbrieftes Recht; dasselbe gilt für den Zugriff auf digitales Fernsehen, aufs Internet, den Zugang zu medizinischer Versorgung für Ihr Haustier. Der Erwartung sind keine Grenzen gesetzt. Und nachdem jemand für all das, was wir uns wünschen, bezahlen muss, sollte die Pyramide der steuerzahlenden Bürger breit genug sein, um der alternden Bevölkerung, den höheren Erwartungen an Bildung und Gesundheitswesen und an nationale und internationale Stabilität standzuhalten.
Was hat all das mit der Tatsache zu tun, dass die neue Technologie langweilig ist? Für die Leser, denen der Zusammenhang bisher entgangen ist, werde ich die Logik einmal vorbuchstabieren: Diejenigen, die an der Macht sind, haben das industrielle Maschinenmodell aufgegriffen, das Einheitlichkeit gewährleistet, anstatt Vielfalt zu stimulieren, die zum Außergewöhnlichen führt. Das Ergebnis hiervon ist, dass nur noch wenig Arbeit für Menschen zur Verfügung steht, die es akzeptiert haben, zu "arbeiten" wie Maschinen. (Erinnern Sie sich noch an Charlie Chaplin in Moderne Zeiten?) Die Arbeitslosenzahlen steigen - aber versuchen Sie doch einmal, jemand zu finden, der kompetent genug ist, Ihre Rohre oder Ihre Elektrizität, Ihr Auto, Ihren Fernseher oder Ihr Handy (ja, ich weiß, die werden weggeschmissen!) zu reparieren. Versuchen Sie, einen Arzt zu finden, der sich die Zeit nimmt, Ihnen zuzuhören, wenn Sie Ihre Schmerzen oder Ihr Unbehagen beschreiben. Ärzte haben im Durchschnitt sieben Minuten für jeden Patienten Zeit, egal, ob der Patient an Kopfschmerzen oder Krebs, an einem Kratzer oder einer Gehirnblutung leidet.
Das ist doch eine paradoxe Situation. Wir wollen etwas Individuelles, Kreatives. Aber wir wollen nicht dafür bezahlen. Wir finden es zu teuer und geben uns mit mittelmäßiger Mechanik zufrieden. Und was mechanisierbar ist, wird schließlich auch von Maschinen übernommen. Was dazu führt, dass wir wie Maschinen behandelt werden. Es gefällt uns nicht, egal wie sehr wir auf Homogenisierung konditioniert worden sind. Der Bürger entpuppt sich als das Produkt einer Maschine - die sich aus irgendeinem Grund Demokratie nennt -, die Gleichförmigkeit garantiert, was man euphemistisch "Gleichberechtigung" nennt. Das Endergebnis ist eine Gesellschaft, in der kein Individuum mehr übrig ist. Und immer weniger gehen zur Wahl.

Ein Loblied auf Vielfalt und Fantasie.


Lebewesen sind von Natur aus unermesslich vielfältig, verschieden. Das macht die Begegnung mit einem anderen menschlichen Wesen so aufregend und vielversprechend. Eine Maschine ist vorhersehbar, wiederholend und auf ihren Wirkungsbereich beschränkt. Deswegen werden Maschinen, egal, wie fortschrittlich sie sind, egal, wie gut entworfen, niemals so aufregend sein wie ein Lebewesen. Im Digitalzeitalter können wir die Beschränkungen der deterministischen Reduzierung auf die Maschine überwinden. Wir können Individualität, Unterschiedlichkeit, Einmaligkeit stimulieren. Maschinen verkörpern unser Verständnis der Welt als eine Sequenz von Ursache und Wirkung, kurzum, als einen Ausdruck von Aktion und Reaktion. Das Lebewesen reagiert ebenfalls, aber das Lebewesen hat die zusätzliche Eigenschaft der Antizipation, das heißt Vorwegnahme - in Bezug auf Gefahr, Vergnügen, Lachen, Überraschung und Kreativität.
Stellen Sie sich die freie Entfaltung dieser Unterschiede vor: nicht länger mehr ein Produkt, das für jedermann entworfen wurde, ein Bürosystem für alle, ein Leben, das nach der Definition eines anderen reglementiert ist, was am besten ist. Im Gegensatz zu der Gesellschaft, die auf dem industriellen Modell basiert, ist diese Aussicht im neuen Kontext zwischen Wissenschaft und Technologie zu verwirklichen. Das Hindernis, das der Verwirklichung dieses Ziels im Wege steht, ist der Mangel an Fantasie seitens der Gesellschaft und die starrköpfige Verteidigung des industriellen Modells durch diejenigen, die am meisten davon profitieren - oder glauben, dass dem so ist.
In der Tat werden wir im traditionellen Sinn des Wortes weniger arbeiten. Die Reproduktion unserer Arbeitsfähigkeit ist schon durch die Automatisierung gewährleistet. Deshalb muss die menschliche Arbeit kreativ werden. Das ist das einzige Kriterium, welches das menschliche Wesen durch Maschinen nicht ersetzbar macht. Das individualisierte, maßgefertigte Produkt ist zukunftsgerecht, und nicht die Massenproduktion langweiliger Gadgets, denen es an Fantasie mangelt und die noch schneller wieder verschwinden werden, als sie aufgetaucht sind.
Wenn wir erst einmal auf diesen Stand gekommen sind, wird sich uns das unermessliche Gebiet von Fantasie und Vorstellungskraft eröffnen. Wenn Sie nicht daran glauben, wenn Sie nicht verstehen, wie und warum dies geschehen muss, dann bekommen Sie, jetzt und auch weiterhin, genau das, was Sie verdient haben. Wenn Sie aber, im Gegenteil, bereit sind, Ihre Kreativität zum Ausdruck zu bringen - jeder ist begabt, nur eben auf verschiedenen Gebieten -, dann wird sich das beschleunigen, was meiner Meinung nach eine unbedingt notwendige Entwicklung darstellt: eine Demokratie, die mit dem Credo "Vive la différence!" lebt und nicht mit den Gleichheitsslogans, die falsch verstanden werden und die auf einem Niveau der Mittelmäßigkeit stagnieren, welches die Mittelmäßigen Demokratie nennen. Eine Revolution der Fantasie? Warum nicht? Wenn wir eine Bezeichnung für alles benötigen, dann passt diese doch. Ein kreativer Journalist oder ein inspirierender Sprecher kann sie als motivierenden Slogan verwenden. Für mich ist das Zeitalter, das ich hier beschreibe, ein Zeitalter der freien Entfaltung des Individuums im Kontext einer Gesellschaft, die weiß, dass sie ihre letzten und besten Ressourcen in der menschlichen Kreativität finden wird.

Übersicht aller bereits erschienenen Beiträge der "Living at Work-Serie".

English version: PDF-File.

Mihai Nadin, war Professor für Computational Design der Universität Wuppertal und Professor für Informatik an der Universität Bremen; er wurde gerade berufen als Ashley Smith Professor for Interactive Arts, Technology and Computer Science an der University of Texas, Dallas.

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Vom 19. bis 23. Oktober 2004

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