Auf dem Weg zur Eigenzeit
Living at Work-Serie | Folge 25 | - Norbert Bolz über den Menschen in der Informationsgesellschaft.
Ein Mensch aus dem frühen 20. Jahrhundert käme aus dem Staunen über die heutige Gesellschaft nicht mehr heraus. Nur noch mit Hilfe von Vertrauen lassen sich das Zuviel an Informationen und die hohe Komplexität bewältigen. Geschickt steuern Unternehmen mit Hilfe von Gefühlsmustern unsere Aufmerksamkeit. Und der wahre Luxus, die neue Leitwährung, ist nicht mehr Geld, sondern Zeit.
Wir leben in einer
Informationsgesellschaft. Doch die Information ist nicht, wie
immer versprochen, die Lösung unserer Probleme - sondern das
Problem selbst. Wir haben es nicht wie bisher in der
Kulturgeschichte mit einem Mangel an Information zu tun, sondern
mit einem Zuviel. Es geht nicht mehr um das Suchen und Erarbeiten
von Informationen, sondern um Filtern und Selektion. Die
Information muss erst modelliert werden; das ist die eigentliche
Herausforderung. Da die meisten Menschen damit überfordert sind,
erzeugt das fundamentale Orientierungsprobleme.
Aber wer liefert diese Orientierung? Vor allem Medien und
halbwegs glaubwürdige Autoritäten. Nehmen wir mal ein Thema wie
die Zukunft des Internets. Wenn Sie wissen wollen, was das
Internet ist, könnten Sie theoretisch ins Internet gehen und den
Begriff suchen. Aber dann bekommen Sie ungefähr eine Million
Hinweise. Sie werden wahrscheinlich stattdessen in eine
Buchhandlung oder die Bibliothek gehen und sich ein Buch über das
Internet kaufen. Ältere Medien haben den Vorteil, dass sie
überschaubarer und einfacher sind. Ein Buch fängt irgendwo an und
hört irgendwo auf, erzeugt also rein formal den Eindruck von
Zusammenhang und Übersichtlichkeit (auch wenn das im Einzelfall
trügerisch sein kann). Das ist etwas, was das Internet niemals
bieten kann.
Die zweite Möglichkeit: Sie rufen jemand an - einen
kompetenten Freund oder einen Wissenschaftler - und fragen
denjenigen. Sie verlassen sich also auf die Autorität und die
Kompetenz bestimmter Spezialisten oder Wissensmanager. Diese
Möglichkeit, Komplexität zu bewältigen, wird immer wichtiger. Je
mehr wir von Informationen abhängig werden, desto weniger können
wir Probleme durch Informationen selber lösen - das steigert nur
die Verwirrung -, sondern nur noch über Vertrauen. Deshalb ist
die Informationsgesellschaft mehr auf Vertrauen angewiesen als
jede frühere Gesellschaft.
Aufmerksamkeitsökonomie = Emotionalisierung.
Längst hat sich in dieser
Informationsgesellschaft eine Ökonomie der Aufmerksamkeit
herausgebildet. Herbert Simon, der berühmte
Kognitionswissenschaftler und Ökonom, hat schon vor Jahren den
Begriff
"attention management" geprägt. Gemeint ist damit, dass
Aufmerksamkeit eine wertvolle Ressource ist - denn nichts ist für
den Menschen knapper als seine Lebenszeit, und um diese Zeit
konkurrieren sämtliche Informations- und Konsumangebote. In einer
Konsum- und Informationsgesellschaft wird dieser Kampf natürlich
immer härter.
Eine große neue Industrie konzentriert sich darauf, die
Orientierungsprobleme, die sich aus dieser Situation ergeben, zu
lösen. Auf unterschiedlichen Ebenen. Einerseits mit dem
klassischen Mechanismus des Vertrauens. Beim Thema
Aufmerksamkeitsmanagement spielt aber auch die Funktion der
Emotionen eine große Rolle. Deshalb kommt es zu einer Art
Konjunktur der Gefühle in unserer Gesellschaft, man kann es auch
Emotionalisierung nennen. Gefühle sind eine Art
Umschaltmechanismus, mit ihrer Hilfe switcht man aus einem
Denkzusammenhang in einen anderen um. Beispiel: Zurzeit schreibe
ich gerade einen Aufsatz. Aber wenn im Stockwerk unter mir ein
Feuer ausbrechen sollte, dann werde ich plötzlich überhaupt nicht
mehr in diesem Raster denken, sondern überlegen, was tue ich
jetzt und wie kann ich mich retten. Das ist es, was Gefühle
ausmacht. Sie verändern die Prioritäten. Deshalb versucht man
über Gefühle, Aufmerksamkeit abzulenken und sie mit Hilfe von
gefühlsstarken Mustern zu dirigieren. Die Wirtschaft der
Aufmerksamkeit ist im Wesentlichen eine Art
"emotional design", ein Angebot von Gefühlsmustern.
Kommunikation, nicht mehr Produkt.
Die Wirtschaft funktioniert nicht
nur in dieser Beziehung anders als früher. Die Wortneuschöpfung
"Coopetition" (aus
cooperation, Zusammenarbeit, und
competition, Wettbewerb) steht für die Einsicht, dass
Wettbewerb und Kooperation sich nicht ausschließen, im Gegenteil.
Zwar wird das in unterschiedlichen Denkmodellen diskutiert, aber
der Grundgedanke ist richtig und bestätigt sich immer mehr: Man
kann sehr viel profitabler wirtschaften, wenn man die Rivalen auf
dem Feld als mögliche Kooperationspartner begreift. Wettbewerb
kann eine Variante der Kooperation sein und umgekehrt. Die alte
Vorstellung "Mein Erfolg auf dem Markt hängt vom Misserfolg
meiner Konkurrenten ab" ist zu einfach. Inzwischen hat man ein
komplexeres Bild und erkennt zunehmend, dass der Erfolg von
anderen die Bedingung dafür ist, dass ich selbst erfolgreich bin.
Lustigerweise zeigt sich, dass der Ellenbogentyp in
netzwerkartigen Zusammenhängen die wenigsten Profite macht. Das
ist kein Lob des Gutmenschentums in der Wirtschaft, aber es
zeigt, dass kooperative Strategien in der Wirtschaft des 21.
Jahrhunderts viel erfolgreicher sind als aggressive Strategien.
Diese Ergebnisse, die eigentlich schon 20 bis 30 Jahre alt sind,
bestätigen sich jetzt unter Bedingungen der Netzwerkwirtschaft
auf sehr eindrucksvolle Weise.
Netzwerkunternehmen sehen das, was sie tun, nicht mehr
primär vom eigenen Produkt her, sondern von der Kommunikation mit
dem Kunden und dem Konkurrenten. Das Produkt tritt in den
Hintergrund, und in den Vordergrund schieben sich die
Kommunikationsaufgaben mit dem Markt und anderen Organisationen,
aber auch der Politik. Wer diese Kommunikationsaufgaben löst, der
arbeitet mit an diesem profitablen Netzwerk.
Eine neue Spaltung.
Ein ungelöstes Problem ist die
Kluft zwischen den Menschen, die dieses Netzwerk und diese
Informationswelten aktiv gestalten, und denjenigen, die nur als
passive Konsumenten in Frage kommen. Das ist eine viel
interessantere und zurzeit sehr viel wichtigere Spaltung als die
zwischen Kapital und Arbeit. Ich fürchte, dass sich diese
Gegensätze immer weiter verschärfen werden. Das hat nichts mit
dem oft sentimental-dramatisch abgehandelten Thema
"Ausgeschlossenheit der Dritten Welt aus der
Informationsgesellschaft" zu tun. Die Spaltung, auf die ich mich
beziehe, findet innerhalb unserer eigenen Ersten Welt statt.
Zunehmend wird es wichtig, ob man intelligent, flexibel,
geistesgegenwärtig genug ist, um zu den Gewinnern dieser neuen
Welt zu gehören. Den anderen bleibt nur die Welt der persönlichen
Serviceleistungen. Man muss abwarten, wie die Gesellschaft es
verkraftet, dass auf der einen Seite die Wissensarbeiter stehen
und auf der anderen Seite die Menschen, die Leistungen für sie
erbringen. Das ist eine Spaltung, die quer durch alle Länder
hindurchgehen wird.
Eine neue Leitwährung.
Parallel dazu ist eine neue
Leitwährung entstanden. Die Unterscheidung Arbeitszeit/Freizeit
ist in der Praxis längst nicht mehr die einzige
Orientierungskoordinate. Genauso wichtig ist die Unterscheidung
von Eigenzeit und Weltzeit. Die Frage ist, inwieweit mein
Tagesablauf von meiner eigenen Zeitdisposition bestimmt wird oder
von Zeitschemata diktiert wird, über die ich nicht verfügen kann.
Zum Beispiel davon, dass um acht Uhr die Schule meiner Kinder
losgeht oder um 20 Uhr die Tagesschau kommt oder dass es
bestimmte Termine gibt, die der Chef vorschreibt.
Ich glaube, diese Unterscheidung wird in Zukunft wichtig,
weil die Menschen erkennen, dass Individualität und konkrete
Freiheit eng damit zusammenhängen, wie man über die eigene
Lebenszeit verfügen kann. Deshalb sind all jene Erfindungen in
Zukunft von besonderem Interesse, die diese Eigenzeit hegen und
pflegen. Nur ein Beispiel: E-Mail ist ein wunderbares Medium zur
Kultivierung von Eigenzeit. Man hat durch sie eine
Gleichzeitigkeit mit der Weltzeit, andererseits können Sie selber
darüber disponieren, wie und wann Sie mit den entsprechenden
Informationen umgehen.
Dieser Wunsch nach Eigenzeit wird anwachsen, weil Zeit
immer mehr zum Luxus des 21. Jahrhunderts wird. Derjenige, der
Geld hat, ist daran interessiert, sich Zeit zu kaufen. Also
Dinge, die ihn Zeit kosten, auf andere abzuwälzen und
Dienstleistungen dafür in Anspruch zu nehmen, vom Einkaufen bis
hin zur Pflege. Ein Beispiel aus dem Alltag: Wenn Ihr Auto mal
wieder eine neue Plakette braucht, können Sie zum TÜV gehen und
dort warten, bis Sie dran sind. Für etwas mehr Geld können Sie
Ihr Auto in eine Werkstatt bringen und den TÜV dort machen
lassen. Für noch mehr Geld können Sie den Werkstattinhaber dazu
bringen, Ihr Auto abzuholen, Ihnen einen Ersatzwagen hinzustellen
und zwei Tage später das Auto wieder zurückzubringen, fast ohne
dass Sie es merken.
Wissensarbeiter kaufen sich Dienstleister, die ihre eigene
Lebenszeit gegen Bezahlung an sie verschwenden. Die "armen
Schlucker" dieser neuen Gesellschaft dagegen jagen nach
Schnäppchen oder vergleichen tausendmal Preise, rennen von einem
Shop in den anderen, um fünf Euro zu sparen. Sie tauschen ihre
Lebenszeit gegen Geld. Diese Trennung im Umgang mit Zeit macht
die neue Klassenspaltung sehr, sehr deutlich.
Übersicht aller bereits erschienenen Beiträge der "Living at Work-Serie".
English version: PDF-File.
Norbert Bolz leitet das Fachgebiet Medienwissenschaft an der TU Berlin. Er ist einer der bekanntesten Trendforscher und Vordenker Deutschlands. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter Das konsumistische Manifest und Das Ende der Gutenberg-Galaxis.
Zum changeX-Partnerportrait: Koelnmesse GmbH.
www.orgatec.de
Vom 19. bis 23. Oktober 2004 |
© changeX Partnerforum [25.06.2004] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Autor
Norbert BolzNorbert Bolz gilt als einer der führenden Denker zur kulturellen Entwicklung. Seit 2002 ist er Professor im Bereich Medienwissenschaft an der TU Berlin; zuvor war er Professor für Kommunikationstheorie an der Universität Essen. Bolz ist Autor zahlreicher Bücher zu Medien, Marketing und Kommunikation.