Kinderland ist abgebrannt
Über die Kunst, in Deutschland Kinder zu haben � ein Gespräch mit Karen Pfundt.
Deutschland ist ein armes Land. Vor allem arm an Kindern. Immer mehr Frauen entscheiden sich gegen ein Kind. Das hat klare Gründe. Zum Beispiel die Unvereinbarkeit mit dem Job, veraltete Rollenklischees oder eine vorsintflutliche Familienpolitik. Der Staat pennt vor sich hin, sagt eine Berliner Journalistin und fordert konkrete Maßnahmen: Etwa die Einführung einer einjährigen Elternzeit, für die der Staat vier Fünftel des letzten Bruttogehalts zahlt. Oder umfassende Kleinkindbetreuung in Vorschulen. Oder die Abschaffung des Ehegattensplittings, das vor allem belohnt, wenn die Frau zu Hause bleibt. Frankreich oder Schweden könnten als Vorbild dienen.
Karen Pfundt hat in Toulouse, München und Berlin Geschichte, Politik und Soziologie studiert. Sie arbeitet als Radio-Journalistin und moderiert verschiedene Kultur-Magazine. Nach der Geburt ihrer Tochter vor vier Jahren hat sie sich intensiv mit Familienpolitik in Deutschland, Frankreich und Skandinavien beschäftigt.
Frau Pfundt, in Deutschland gilt in weiten Kreisen immer noch
die Aufteilung: der Vater malocht im Job, die Mutter kümmert sich
um die Kinder. Bei unseren französischen, schwedischen und
dänischen Nachbarn sieht es anders aus. Sind die deutschen Frauen
zu dumm und bequem, um sich ihr Recht zu holen?
Deutschland ist vor allem ungeheuer gespalten. In Schweden,
Dänemark und Frankreich gibt es spätestens seit den 70er Jahren
ein eindeutiges Bild, wie eine Familie leben soll, und vor allem,
wie eine gute Mutter zu sein hat. Sie soll weiter in ihrem Beruf
arbeiten, darf Frau bleiben und muss nicht nur für das Kind da
sein. Entsprechend haben diese Länder ihre Strukturen in den
vergangenen Jahrzehnten geändert: Kinderbetreuung, steuerliche
Anerkennung des Doppelverdiener-Modells, Elterngeld und so
weiter.
In Deutschland gibt es dieses Leitbild nicht. In den 70er
Jahren entstanden in der BRD zwei Fraktionen: in Teilen der
Frauenbewegung wurde Kinderkriegen als Verrat am gemeinsamen
Kampf gegen das Patriarchat verurteilt und gesagt, wer sich noch
aufs Mutterdasein einlässt, ist selbst schuld; daneben hielten
die Konservativen gemeinsam mit einem anderen Teil der
Frauenbewegung das alte bürgerliche Ideal der Hausfrauenmutter
hoch. Diese Fraktionen bestehen im Prinzip bis heute fort.
Hinzugekommen ist jedoch die wachsende Gruppe der Kinderlosen,
die sich gegen Nachwuchs entscheidet, weil sie nicht weiß, wie
sich alles unter einen Hut bringen lässt. Die deutschen Frauen
versäumen weniger, sich ihr Recht zu holen, sie ziehen nur
einfach nicht an einem Strang.
Wieso ist es den Skandinaviern und Franzosen gelungen, ein
klares Leitbild entwickeln, uns aber nicht?
Die Wurzeln dieser Entwicklungen reichen lange zurück. Es
ist ja keineswegs so, dass in Frankreich oder Skandinavien Frauen
mit Kindern immer schon Beruf und Familie wunderbar vereinen
konnten. Nach dem 2. Weltkrieg galt auch dort das Modell der
Hausfrauenmutter. Doch dann stieg die Zahl der Studentinnen,
immer mehr gut ausgebildete Frauen drängten auf den Arbeitsmarkt.
Die Franzosen und Skandinavier brauchten die gut qualifizierten
Frauen, es fehlte an Fachkräften, man wollte die Qualifikationen
nicht ungenutzt brachliegen lassen. Schon damals setzten die
Schweden auf Frauen statt auf Ausländer, Kampagnen à la "Kinder
statt Inder" wogten durchs Land. Die Bundesrepublik dagegen
stopfte den leer gefegten Arbeitsmarkt mit DDR-Flüchtlingen und
Gastarbeitern.
Über eine langfristige Bevölkerungspolitik, um den
Arbeitsmarkt zu stützen, wurde nicht nachgedacht ...
... nein, denn die "Volk ohne Raum"-Politik der Nazis hatte
sie gründlich in Verruf gebracht. Während es in Frankreich
bezüglich Familienpolitik von Beginn an um neue Bürger für die
Nation ging, beginnt in Deutschland das Tabu erst jetzt langsam
zu fallen. Es wird zunehmend legitim, dass sich der Staat
Gedanken um die demographische Entwicklung macht.
Zu den arbeitsmarkt- und bevölkerungspolitischen Erwägungen
kam in Frankreich und Schweden zudem früh die Erkenntnis, dass
man gut ausgebildete Frauen auf Dauer nicht von der
Berufstätigkeit würde abbringen können. Also wollte man alles
dafür tun, dass Frauen trotz Beruf Kinder kriegen. In Deutschland
dachte man umgekehrt: Nur wenn man die Frauen davon abhält,
arbeiten zu gehen, werden sie Kinder bekommen. Wenn man dem
deutschen Erziehungsverständnis nachgeht, ist das nur konsequent.
Denn für die Kindererziehung war in Deutschland die Familie
zuständig, der Staat hatte da nichts zu suchen.
Seit der Nazizeit ist die Einmischung des Staates in die
Erziehung verpönt. Wir sind das einzige europäische Land, das
diese Überzeugung sogar in seiner Verfassung verankert hat: "Die
Erziehung ist das erste Recht der Eltern" steht im Grundgesetz.
In Frankreich sieht das anders aus. Erziehung wird als
öffentliche Aufgabe verstanden, der Staat hat die Pflicht, allen
Kindern gute Startchancen zu bieten. Deshalb wurden dort
beispielsweise die "écoles maternelles", die Vorschulen,
eingeführt. Und deshalb verstehen die Franzosen staatliche
Kleinkindbetreuung auch als Recht des Kindes ...
... und nicht als Notlösung für doppelt belastete Eltern wie
hierzulande ...
... ja, absolut. Historisch hat diese staatliche Fürsorge
eine emanzipatorische Spirale in Gang gesetzt: Frauen konnten
leichter arbeiten gehen, die Ansprüche wuchsen, sie forderten
mehr Rechte ein.
In Deutschland scheinen wir uns auch deshalb so schwer zu tun
mit neuen Familienleitbildern, weil wir fest in alte Bilder
verhakt sind: Das Kind braucht seine Mutter, in den ersten drei
Jahren ist die Mutterbindung das Entscheidende. Ist das noch
zeitgemäß?
Ganz und gar nicht. Die Mutter als einzige und
entscheidende Bezugsperson gehört ins Reich der Mythen. Und die
viel beschworene Grenze: "Kinder unter drei Jahren" ist nichts
als kollektive Folklore. In keinem anderen Land gibt es diese
Grenzziehung. In dieser Gemengelage verstehen wir es vorzüglich,
die neuesten Forschungsergebnisse zu ignorieren. Noch immer
halten die Deutschen an der Bindungstheorie des britischen
Forschers John Bolwby fest. Sie stammt aus den 50er Jahren. Die
These: Die Mutterbindung sei entscheidend für das Gedeihen des
Kindes. Bolwbys Theorie war schon damals international vom Tisch.
Er hatte Kriegswaisen untersucht. Schnell stellte sich heraus:
Die Ergebnisse seiner Studien waren überhaupt nicht übertragbar
auf Kinder, die in normalen Familien aufwachsen.
Während alle anderen Länder Bolwbys Thesen längst in die
Tonne geworfen hatten, erlebte er hierzulande erst in den 70er
Jahren seinen großen Boom
� und fand Eingang in alle
Erziehungsratgeber. Seine Ergebnisse passten gut zu dem, was
gesellschaftlich gewollt war. Aktuelle Forschungen über fremd
betreute Kinder berufstätiger Eltern ignorierte man hingegen in
Deutschland. Davon gab es ziemlich viele, schon weil
beispielsweise die Schweden ihre neue Familienpolitik
wissenschaftlich begleiten ließen.
Das ist 30 Jahre her. Derzeit wird so viel wie nie zuvor über
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf diskutiert. Tatsächlich
scheint sich wenig zu tun, immer noch versteifen wir uns auf alte
Rollenbilder. Woher kommen die Widerstände?
Das hat viele Ursachen. Zum einen die Gespaltenheit, von
der ich sprach. Zum anderen fehlt es im Arbeitsleben an
Vorbildern: Wo gibt es in Führungspositionen Frauen mit Kindern
wie in Frankreich? Wo gibt es Top-Politikerinnen der jüngeren
Generation mit Familie wie in Schweden? Führungskräfte in
Deutschland müssen sich nicht um Kinder kümmern, entweder, weil
sie keine haben, oder weil die Ehefrauen es tun. In einem Land
wie Frankreich ist die Perspektive anders. Ich bekomme ein Kind
und weiß, dass es nicht das Ende meines Berufslebens ist. Und ich
erkenne, dass Familienpolitik ganz oben auf der politischen
Agenda steht. Gerade erst hat der französische Staat ein
milliardenschweres Programm für die Betreuung von unter
3-Jährigen aufgelegt
� trotz Wirtschaftsflaute. In Frankreich ist
die Familienpolitik ein eigenständiger Zweig der Sozialpolitik.
Davon sind wir noch weit entfernt. Familienpolitisch sind wir
etwa 30 Jahre zurück.
Die Widerstände sind offenbar auch an anderer Ecke größer als
gedacht: Bei den Vätern. Zwar sagt jeder Fünfte, er wolle
Erziehungsurlaub nehmen. Aber nur jeder Fünfzigste tut es dann
auch. Das liegt doch nicht nur am Geld?
Nein, auch wenn es sicher eine Rolle spielt. Und für Männer
ist es immer noch schwieriger, im Berufsleben mal kürzer zu
treten. Noch schneller als Frauen landen sie ganz unten auf der
Karriereleiter. Es fehlt an Vorbildern, an lebbaren Modellen.
Dabei ist eine Vielzahl von Arbeitszeitmodellen denkbar, mit
denen sich Beruf und Familie vereinbaren ließen. Warum gibt es in
Deutschland keinen Rechtsanspruch auf Teilzeit bis zum 7.
Lebensjahr? Warum gibt es nicht analog zur Altersteilzeit eine
staatlich subventionierte Kleinkind-Teilzeit?
Außerdem wird in Deutschland wenig für die Aktivierung der
Väter getan. Es gibt keinen Väterurlaub wie in den meisten
europäischen Ländern. Es gibt keine bezahlten Vätermonate, die
nur die Väter nehmen können, wie in Skandinavien. Es gibt
lediglich eine lächerlich bezahlte dreijährige Elternzeit, statt
einer einjährigen Elternzeit, für die der Staat vier Fünftel des
letzten Bruttogehalts aus Steuermitteln zahlt.
Ein Rürup-Gutachten für das Bundesfamilienministerium hat
ergeben: Würde man dieses Modell deutschlandweit einführen, würde
das 4,3 Milliarden Euro im Jahr kosten. Viel Geld. Aber das
Ehegattensplitting kostet den Staat 22 Milliarden Euro - und
fördert nicht die Erziehungspause von Eltern, sondern die Ehe als
solche, egal ob die Partner Kinder haben oder nicht. Und es
unterstützt ein nicht-egalitäres Elternmodell. Denn
Steuervorteile bekommt nur das Paar, in dem einer oder meist
vielmehr eine, also die Frau, möglichst wenig arbeitet.
Was müsste der Staat tun, damit der Wandel in Schwung
kommt?
Der Staat müsste vor allem in egalitäre Elternmodelle
investieren und alles, was diese behindert, abschaffen. Da steht
das Ehegattensplitting an erster Stelle. Natürlich steht auch der
Ausbau von guter Kinderbetreuung und die bessere Bezahlung der
Erzieher ganz oben. Denn dass der Bedarf und die Bereitschaft da
ist, seine Kinder in staatliche Obhut zu geben, das zeigt die
enorme Nachfrage nach Ganztagsschulen. Wir brauchen endlich eine
neue Arbeitsteilung zwischen Staat und Eltern. Die Familie muss
raus aus der rein privaten Sphäre.
Vor allem müssen wir von den alten Bildern wegkommen, in
deren Mittelpunkt die vom Mann abhängige Frau steht. Da können
wir übrigens nicht nur von anderen Ländern, sondern auch von den
neuen Bundesländern lernen. Auch wenn dort die Kinderzahl
zurückgeht, haben die Ostdeutschen eine grundsätzlich andere
Haltung zu Beruf und Familie. Es ist kein Zufall, dass in
Sachsen-Anhalt gerade zum ersten Mal in der Geschichte
Deutschlands ein Referendum gegen ein Gesetz durchgesetzt wurde,
dass die Betreuungszeiten für Kinder arbeitsloser Eltern
einschränkt. Das Ergebnis dieser anderen Haltung liegt uns in den
jährlichen Geburtsstatistiken vor: Während im Westen 42 Prozent
der Frauen kinderlos bleiben, bekommen die Ostdeutschen zwar
weniger Kinder, aber sie verzichten nicht ganz auf Nachwuchs,
weil sie sich sagen: "Ein Kind schaffen wir immer."
Anja Dilk ist Redakteurin bei changeX.
Karen Pfundt:
Die Kunst, in Deutschland Kinder zu haben,
Argon Verlag, Berlin 2004,
350 Seiten, 18.90 Euro
ISBN 3-87024-593-X
www.argon-verlag.de
© changeX [18.05.2004] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Karen Pfundt: Die Kunst, in Deutschland Kinder zu haben.. Argon Verlag, Berlin 1900, 350 Seiten, ISBN 3-87024-593-X
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Anja DilkAnja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.
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