Aufbruch in die Schwarm-Gesellschaft

Deutschland und Europa 2020 - Ein Zukunfts-Szenario.

Von Klaus Burmeister, Andreas Neef, Beate Schulz-Montag und Karlheinz Steinmüller

Willkommen in der Zukunft! Netzwerke sind schon wieder "out", denn Netzwerk-Organisationen steigerten den Abstimmungsbedarf und waren damit extreme Zeitfresser. Erfolgreiche Unternehmen definieren sich als Schwärme von Mitarbeitern, die durch gemeinsame Leitbilder zusammen- und auf Kurs gehalten werden. Und was ist mit den Sauriern des Industriezeitalters, den Großkonzernen? Die sterben langsam aus.

Forscher von Z_punkt haben eine Reihe von Szenarien für unsere Gesellschaft im Jahr 2020 entwickelt. Die Themen: Globalisierung mit menschlichem Antlitz, Futurizing Society, Werte-Kompetenzen, Schwarm-Gesellschaft, Klarheit vor Überfluss und unüberwindliche Ungleichheiten. Hier ein Auszug daraus - die anderen Szenarien finden Sie in der aktuellen Ausgabe des Magazins "brand eins".

Die klassische Kleinfamilie bleibt das Modell, an dem sich die meisten orientieren - doch es wird immer seltener erreicht. Eine Vielfalt familiärer, pseudo- und postfamiliärer Lebensformen hat sich entwickelt; Soziologen haben etwa 900 haushaltsbezogene Gemeinschaftsformen identifiziert. Wahlverwandtschaften ersetzen Blutsverwandtschaften. Kinder spielen mit ihren Halb-, Stief- und Wahlgeschwistern.
Trotzdem könnte 2020 eine Trendwende erreicht sein: Die Beziehungen halten wieder länger. Vielleicht gerade, weil sie nicht mehr so zementiert erscheinen wie früher.
Man befindet sich eine Zeit lang auf gleichem Kurs und bewegt sich, ohne die eigene Selbstständigkeit aufzugeben, im Schwarm der Wahlverwandten, die sich durch Sympathien, Lebensumstände und gemeinsame Interessen gefunden haben.
Wie in den privaten Beziehungen hat auch im Geschäftsleben die Schwarm-Metapher das Bild des Netzwerkes abgelöst. "Netzwerk" klingt in den Ohren der Menschen von 2020 fürchterlich technisch und starr. Das Wort "Schwarm" hingegen verheißt die volle individuelle Beweglichkeit und zugleich die Fähigkeit, nahezu instinktiv gemeinsam zu handeln - aus der kollektiven Intelligenz heraus. Erfolgreiche Unternehmen definieren sich als Schwärme von Mitarbeitern, die durch gemeinsame Leitbilder zusammen- und auf Kurs gehalten werden. Die Saurier des Industriezeitalters, die Großkonzerne, sterben aus. Allerdings sehr, sehr langsam.

Die Kinder der Netzwerkkinder.


Wie lauteten noch gleich, so um das Jahr 2002 herum, die soziologischen Etiketten, die der damaligen Jugend, den Kindern der digitalen Revolution, angeheftet wurden? Pragmatisch, unideologisch, individualistisch in Denken und Aussehen, aber kooperativ und verbindlich im Sozialen sollten sie sein. Aufstiegs-, bildungs- und leistungsorientiert, gesellschaftlich aktiv, aber desinteressiert an Politik - eine Generation der Selbermacher, die vor allem eines gut beherrscht: Networking. Inzwischen sind aus den Netzwerkkindern selbst Eltern geworden. Und welche Situation hat ihr Nachwuchs vorgefunden? Auch um das Jahr 2020 hat sich der Trend zur Ein- oder Kein-Kind-Familie fortgesetzt, mit Ausnahme der Familien nichtdeutscher Herkunft, die allerdings ebenfalls immer weniger Kinder bekommen, aber vielfach noch vom Ideal der Großfamilie geprägt sind. Zuwanderer und ihre Nachkommen stellen inzwischen mehr als die Hälfte der Großstadteinwohner unter 40 Jahren. Immer mehr deutsche Kinder werden mittlerweile ohne Geschwister groß. Außerdem haben sie gleich mehrere leibliche und nichtleibliche Eltern - soziale Eltern -, die sie großziehen. Es sind in der Regel Wunschkinder, wobei ihre Eltern sie in immer höherem Alter bekommen, sich dann aber umso intensiver um sie kümmern.
Die "Erziehungsschere" geht indes immer weiter auf: auf der einen Seite die kleinen Mittelschichts-Prinzen und -Prinzessinnen, deren Eltern nichts unversucht lassen, die Talente ihrer Lieblinge zu entfalten. Auf der anderen Seite stehen die Kinder bildungsferner Schichten, die entweder völlig unpädagogisch verwöhnt oder vernachlässigt groß werden. Doch schon vor 15 Jahren wurde damit begonnen, das Schulsystem grundlegend zu reformieren. Oberste Maxime: Der Nachwuchs wird als wertvolle Ressource wahrgenommen und gut ausgebildet. Neue Schulfächer wie Gesundheit und Ernährung, aber auch Selbstmanagement stehen auf dem Lehrplan. Mehrsprachigkeit von der ersten Klasse an ist eine Selbstverständlichkeit. Als fächerübergreifende Bildungsideale werden aber auch Herzensbildung und Originalität gefördert.
Unvorstellbar, dass vor 20 Jahren Ganztagsschulen noch die Ausnahme waren. Die ehemaligen Netzwerkkinder, die heutigen Eltern, haben endlich die Notbremse gezogen und ihre Interessen konsequent durch- und umgesetzt.

Schwärmende Unternehmen.


Unsere Leitbilder haben sich radikal gewandelt. Früher dachte man mechanistisch und wollte Organisationen wie Uhrwerke managen. Exakt und im Takt. Die Netzwerkkinder dachten dagegen eher soziotechnisch. Unter ihrer Führung flachten Hierarchien ab, es wurden ganze Managementebenen eingedampft und es wurde auf technisch hoch gerüstete Teams gesetzt. Die Idee der Vernetzung hatte eine ganze Generation verzaubert. Alles wurde mit allem vernetzt. Damit nahmen aber auch die Abhängigkeiten zu - interne wie externe. Und die mit der Vernetzung verbundene Zunahme an Komplexität hat im Rückblick nur selten zu mehr Effizienz geführt: Netzwerk-Organisationen steigerten den Abstimmungsbedarf und waren damit extreme Zeitfresser (Wozu muss ein Mensch 600 E-Mails am Tag bekommen?). Außerdem neigten sie zu diffusen Verantwortlichkeitsverhältnissen, was ihre Handlungsfähigkeit deutlich einschränkte. Letztendlich nahmen die Schnittstellen-Probleme in der Netzwerk-Wirtschaft überhand und waren auch mit künstlicher Intelligenz nicht in den Griff zu bekommen.
Seit einiger Zeit denken wir nun soziobiologisch und managen nach Schwarm-Logik. Führung ist Strategiearbeit. Die operativen Handlungskompetenzen der einzelnen Mitarbeiter haben massiv zugenommen. Im Grunde sind wir kein Unternehmen im klassischen Sinn mehr, wir sind ein Schwarm von unternehmerisch handelnden Individuen, die sich über strategische Ziele koordinieren. Wir denken extrem kleinteilig und situativ. Kooperationen werden nicht mehr unternehmensweit gesteuert, sondern finden ständig auf der Mikro-Ebene statt - die Mitarbeiter entscheiden selbst darüber. Die Grenzen zwischen den Unternehmen, den Kunden und den Kooperationspartnern sind unübersichtlich geworden. Damit umzugehen verlangt ein extrem hohes Maß an Selbstverantwortung und Selbstorganisation.
Obwohl wir heute wieder sehr stark auf die entwickelten Fähigkeiten der Einzelnen setzen, statt uns in Teams zu behindern, lebt im Unternehmen tatsächlich so etwas wie ein kollektives Bewusstsein. Die Bereitschaft, im Sinne des Unternehmens als Kollektiv zu handeln, ist trotz erheblichem Leistungsdruck erstaunlich entwickelt. Die Mitarbeiter sind sehr professionell geworden, sie erwarten im Job keine soziale Wärmflasche, sondern wollen Effektivität. Denn nur die schafft ihnen die Freiräume, die sie in ihrem Leben brauchen.
Ganz im Sinne des Schwarm-Paradigmas finden Abstimmungen nur noch zwischen den Leuten statt, die es tatsächlich betrifft und die konkret etwas zur Aufgabenstellung beizutragen haben. Für die großen Runden von früher ist wenig Bedarf - und man sieht auch keinen echten Nutzen darin.

Klaus Burmeister, Andreas Neef, Beate Schulz-Montag und Karlheinz Steinmüller sind Zukunftsforscher und Gesellschafter der Z-punkt GmbH - Büro für Zukunftsgestaltung. Ihre fünf anderen Szenarien zu "Deutschland und Europa 2020" sind in der aktuellen Ausgabe des Magazins brand eins zu finden.

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Autor

Klaus Burmeister
Burmeister

Klaus Burmeister ist Gründer und Managing Partner von Z_punkt The Foresight Company.

Autor

Andreas Neef
Neef

Andreas Neef ist Managing Partner von Z_punkt.

Autorin

Beate Schulz-Montag

Autor

Karlheinz Steinmüller

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