Aufbruch in die Schwarm-Gesellschaft
Deutschland und Europa 2020 - Ein Zukunfts-Szenario.
Willkommen in der Zukunft! Netzwerke sind schon wieder "out", denn Netzwerk-Organisationen steigerten den Abstimmungsbedarf und waren damit extreme Zeitfresser. Erfolgreiche Unternehmen definieren sich als Schwärme von Mitarbeitern, die durch gemeinsame Leitbilder zusammen- und auf Kurs gehalten werden. Und was ist mit den Sauriern des Industriezeitalters, den Großkonzernen? Die sterben langsam aus.
Forscher von Z_punkt haben eine Reihe von Szenarien für unsere Gesellschaft im Jahr 2020 entwickelt. Die Themen: Globalisierung mit menschlichem Antlitz, Futurizing Society, Werte-Kompetenzen, Schwarm-Gesellschaft, Klarheit vor Überfluss und unüberwindliche Ungleichheiten. Hier ein Auszug daraus - die anderen Szenarien finden Sie in der aktuellen Ausgabe des Magazins "brand eins".
Die klassische Kleinfamilie bleibt
das Modell, an dem sich die meisten orientieren - doch es wird
immer seltener erreicht. Eine Vielfalt familiärer, pseudo- und
postfamiliärer Lebensformen hat sich entwickelt; Soziologen haben
etwa 900 haushaltsbezogene Gemeinschaftsformen identifiziert.
Wahlverwandtschaften ersetzen Blutsverwandtschaften. Kinder
spielen mit ihren Halb-, Stief- und Wahlgeschwistern.
Trotzdem könnte 2020 eine Trendwende erreicht sein: Die
Beziehungen halten wieder länger. Vielleicht gerade, weil sie
nicht mehr so zementiert erscheinen wie früher.
Man befindet sich eine Zeit lang auf gleichem Kurs und
bewegt sich, ohne die eigene Selbstständigkeit aufzugeben, im
Schwarm der Wahlverwandten, die sich durch Sympathien,
Lebensumstände und gemeinsame Interessen gefunden haben.
Wie in den privaten Beziehungen hat auch im Geschäftsleben
die Schwarm-Metapher das Bild des Netzwerkes abgelöst. "Netzwerk"
klingt in den Ohren der Menschen von 2020 fürchterlich technisch
und starr. Das Wort "Schwarm" hingegen verheißt die volle
individuelle Beweglichkeit und zugleich die Fähigkeit, nahezu
instinktiv gemeinsam zu handeln - aus der kollektiven Intelligenz
heraus. Erfolgreiche Unternehmen definieren sich als Schwärme von
Mitarbeitern, die durch gemeinsame Leitbilder zusammen- und auf
Kurs gehalten werden. Die Saurier des Industriezeitalters, die
Großkonzerne, sterben aus. Allerdings sehr, sehr langsam.
Die Kinder der Netzwerkkinder.
Wie lauteten noch gleich, so um das
Jahr 2002 herum, die soziologischen Etiketten, die der damaligen
Jugend, den Kindern der digitalen Revolution, angeheftet wurden?
Pragmatisch, unideologisch, individualistisch in Denken und
Aussehen, aber kooperativ und verbindlich im Sozialen sollten sie
sein. Aufstiegs-, bildungs- und leistungsorientiert,
gesellschaftlich aktiv, aber desinteressiert an Politik - eine
Generation der Selbermacher, die vor allem eines gut beherrscht:
Networking. Inzwischen sind aus den Netzwerkkindern selbst Eltern
geworden. Und welche Situation hat ihr Nachwuchs vorgefunden?
Auch um das Jahr 2020 hat sich der Trend zur Ein- oder
Kein-Kind-Familie fortgesetzt, mit Ausnahme der Familien
nichtdeutscher Herkunft, die allerdings ebenfalls immer weniger
Kinder bekommen, aber vielfach noch vom Ideal der Großfamilie
geprägt sind. Zuwanderer und ihre Nachkommen stellen inzwischen
mehr als die Hälfte der Großstadteinwohner unter 40 Jahren. Immer
mehr deutsche Kinder werden mittlerweile ohne Geschwister groß.
Außerdem haben sie gleich mehrere leibliche und nichtleibliche
Eltern - soziale Eltern -, die sie großziehen. Es sind in der
Regel Wunschkinder, wobei ihre Eltern sie in immer höherem Alter
bekommen, sich dann aber umso intensiver um sie kümmern.
Die "Erziehungsschere" geht indes immer weiter auf: auf der
einen Seite die kleinen Mittelschichts-Prinzen und
-Prinzessinnen, deren Eltern nichts unversucht lassen, die
Talente ihrer Lieblinge zu entfalten. Auf der anderen Seite
stehen die Kinder bildungsferner Schichten, die entweder völlig
unpädagogisch verwöhnt oder vernachlässigt groß werden. Doch
schon vor 15 Jahren wurde damit begonnen, das Schulsystem
grundlegend zu reformieren. Oberste Maxime: Der Nachwuchs wird
als wertvolle Ressource wahrgenommen und gut ausgebildet. Neue
Schulfächer wie Gesundheit und Ernährung, aber auch
Selbstmanagement stehen auf dem Lehrplan. Mehrsprachigkeit von
der ersten Klasse an ist eine Selbstverständlichkeit. Als
fächerübergreifende Bildungsideale werden aber auch
Herzensbildung und Originalität gefördert.
Unvorstellbar, dass vor 20 Jahren Ganztagsschulen noch die
Ausnahme waren. Die ehemaligen Netzwerkkinder, die heutigen
Eltern, haben endlich die Notbremse gezogen und ihre Interessen
konsequent durch- und umgesetzt.
Schwärmende Unternehmen.
Unsere Leitbilder haben sich
radikal gewandelt. Früher dachte man mechanistisch und wollte
Organisationen wie Uhrwerke managen. Exakt und im Takt. Die
Netzwerkkinder dachten dagegen eher soziotechnisch. Unter ihrer
Führung flachten Hierarchien ab, es wurden ganze Managementebenen
eingedampft und es wurde auf technisch hoch gerüstete Teams
gesetzt. Die Idee der Vernetzung hatte eine ganze Generation
verzaubert. Alles wurde mit allem vernetzt. Damit nahmen aber
auch die Abhängigkeiten zu - interne wie externe. Und die mit der
Vernetzung verbundene Zunahme an Komplexität hat im Rückblick nur
selten zu mehr Effizienz geführt: Netzwerk-Organisationen
steigerten den Abstimmungsbedarf und waren damit extreme
Zeitfresser (Wozu muss ein Mensch 600 E-Mails am Tag bekommen?).
Außerdem neigten sie zu diffusen
Verantwortlichkeitsverhältnissen, was ihre Handlungsfähigkeit
deutlich einschränkte. Letztendlich nahmen die
Schnittstellen-Probleme in der Netzwerk-Wirtschaft überhand und
waren auch mit künstlicher Intelligenz nicht in den Griff zu
bekommen.
Seit einiger Zeit denken wir nun soziobiologisch und
managen nach Schwarm-Logik. Führung ist Strategiearbeit. Die
operativen Handlungskompetenzen der einzelnen Mitarbeiter haben
massiv zugenommen. Im Grunde sind wir kein Unternehmen im
klassischen Sinn mehr, wir sind ein Schwarm von unternehmerisch
handelnden Individuen, die sich über strategische Ziele
koordinieren. Wir denken extrem kleinteilig und situativ.
Kooperationen werden nicht mehr unternehmensweit gesteuert,
sondern finden ständig auf der Mikro-Ebene statt - die
Mitarbeiter entscheiden selbst darüber. Die Grenzen zwischen den
Unternehmen, den Kunden und den Kooperationspartnern sind
unübersichtlich geworden. Damit umzugehen verlangt ein extrem
hohes Maß an Selbstverantwortung und Selbstorganisation.
Obwohl wir heute wieder sehr stark auf die entwickelten
Fähigkeiten der Einzelnen setzen, statt uns in Teams zu
behindern, lebt im Unternehmen tatsächlich so etwas wie ein
kollektives Bewusstsein. Die Bereitschaft, im Sinne des
Unternehmens als Kollektiv zu handeln, ist trotz erheblichem
Leistungsdruck erstaunlich entwickelt. Die Mitarbeiter sind sehr
professionell geworden, sie erwarten im Job keine soziale
Wärmflasche, sondern wollen Effektivität. Denn nur die schafft
ihnen die Freiräume, die sie in ihrem Leben brauchen.
Ganz im Sinne des Schwarm-Paradigmas finden Abstimmungen
nur noch zwischen den Leuten statt, die es tatsächlich betrifft
und die konkret etwas zur Aufgabenstellung beizutragen haben. Für
die großen Runden von früher ist wenig Bedarf - und man sieht
auch keinen echten Nutzen darin.
Klaus Burmeister, Andreas Neef, Beate Schulz-Montag und Karlheinz Steinmüller sind Zukunftsforscher und Gesellschafter der Z-punkt GmbH - Büro für Zukunftsgestaltung. Ihre fünf anderen Szenarien zu "Deutschland und Europa 2020" sind in der aktuellen Ausgabe des Magazins brand eins zu finden.
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