Und in die Hände gespuckt
Wachsen durch Bildung. Das gilt nicht nur individuell, sondern auch volkswirtschaftlich. Bildung steigert die Wirtschaftsleistung. Eine Studie zeigt: Bildung kostet nicht – unzureichende Bildung kostet.
Bis ins Jahr 2000 herrschte hierzulande der Glaube, Musterknabe in Sachen Bildung zu sein: Kulturnation zu sein, dünkte man sich, mit Berufung auf eine lange Reihe hochkultureller Ahnen wie Goethe, Schiller oder Hegel. Mit der ersten PISA-Studie kam es dann, das böse Erwachen: Deutschlands Bildungswesen lag keinesfalls an der Spitze. Gerade mal im Mittelfeld fanden sich die durchschnittlichen Leistungen der deutschen Schüler im OECD-Vergleich. Über Ursachen und Wirkungen ist in der Folge viel gestritten worden. Unbestritten unter Fachleuten aber ist: Deutschland produziert im Vergleich mit anderen Ländern viel zu viele Bildungsverlierer, in der PISA-Studie „Risikoschüler“ genannt. Das sind Schüler, die im Alter von 15 Jahren nicht viel besser lesen und rechnen können als Grundschüler. Sie verlassen das deutsche Bildungssystem häufig ohne Berufs- oder sogar ohne Schulabschluss.
Die Folgen sind bekannt: Geringqualifizierte tragen ein wesentlich höheres Risiko, keinen Job zu finden oder im Niedriglohnbereich zu arbeiten. So lag 2006 die Arbeitslosenquote von Erwerbspersonen ohne abgeschlossene Berufsausbildung bei knapp 20 Prozent, diejenige von Erwerbspersonen ohne abgeschlossene Schulausbildung gar bei fast 30 Prozent. Und das bedeutet einen finanziellen Verlust – und zwar sowohl für die Betroffenen selbst als auch für die Allgemeinheit.
Die Studie Was unzureichende Bildung kostet. Eine Berechnung der Folgekosten durch entgangenes Wirtschaftswachstum, erstellt vom ifo Institut für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, hat ausgerechnet, wie viel Geld Deutschland erwirtschaften könnte, wenn es sein Bildungssystem in den nächsten zehn Jahren so umstellt, dass es die Kompetenzen der meisten Risikoschüler auf ein Grundbildungsniveau anhebt. Oder anders herum ausgedrückt: Wie viel Geld Deutschland durch die Lappen geht, wenn es auf Reformen verzichtet und weiterhin so viele Bildungsverlierer produziert wie bisher.
Bildung rechnet sich
Dazu setzen die Autoren der Studie, die Bildungsökonomen Ludger Wößmann und Marc Piopiunik, eine Bildungsreform voraus, die 2010 beginnt und im Verlauf von zehn Jahren „das Ausmaß an unzureichender Bildung um 90 Prozent verringert“. Die Wirkungen dieser Reform projizieren sie in die Zukunft und rechnen aus, wie das Bruttoinlandsprodukt dadurch bis 2090 wachsen würde. Dabei gehen sie davon aus, dass 50 zusätzliche PISA-Punkte langfristig „mit einem zusätzlichen jährlichen Wachstum von gut 0,6 Prozentpunkten“ einhergehen.
Die Ergebnisse dieser Langzeitprojektion sind spektakulär:
- Bis ins Jahr 2090 sind Erträge in Höhe von insgesamt 2,8 Billionen Euro möglich. Das ist mehr, als das Land in einem Jahr erwirtschaftet; zum Vergleich liegt das BIP heute bei 2,5 Billionen Euro.
- Von den Bundesländern würden Länder wie Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Hamburg und Hessen, in denen der Anteil von „Risikoschülern“ heute über 23 Prozent liegt, am meisten profitieren. So ist beispielsweise für Nordrhein-Westfalen ein Ertrag von 791 Milliarden Euro möglich. Aber auch für Bundesländer mit weniger „Risikoschülern“ zahlt sich die Reform auf Dauer kräftig aus.
- Das BIP würde durch die Bildungsreform kräftig wachsen: Es läge im Jahr 2070 um 6,5 Prozent, im Jahr 2080 um 8,4 Prozent und im Jahr 2090 um 10,3 Prozent höher als das BIP, das in diesen Jahren ohne die Bildungsreform erreicht würde.
- Auf den Einzelnen umgerechnet bedeutet das: „Pro Kopf der heutigen Bevölkerung entgeht einem heute geborenen Kind über die nächsten 80 Jahre aufgrund der unzureichenden Bildung mehr als ein Wert von 34.000 Euro an zusätzlichem BIP.“ Die Zahl bezieht sich auf den gesamten Zeitraum.
- Eine Bildungsreform zahlt sich – ähnlich wie Klimaschutzmaßnahmen – erst langfristig aus. In den ersten beiden Jahrzehnten wird der Ertrag noch recht gering sein. Denn die Kinder müssen das bessere Schulsystem erst durchlaufen und in den Arbeitsmarkt eintreten, bevor die Folgen spürbar werden. Insgesamt wird die Übergangsphase daher 50 Jahre dauern. Nach zehn Jahren wird sie für alle Kinder vollständig wirken und nach weiteren 40 Jahren für die gesamte Erwerbsbevölkerung, die in diesem Zeitraum einmal komplett ausgetauscht sein wird.
- Dennoch: „Schon ab dem Jahr 2048 wäre das BIP aufgrund der Bildungsreform jährlich um mindestens 2,6 Prozent höher als ohne die Reform: Damit ließen sich, gemessen als Anteil am BIP, allein aus den Reformerträgen Jahr für Jahr die gesamten öffentlichen Bildungsausgaben im Elementar- und allgemeinbildenden Schulbereich finanzieren“, schreiben die Autoren der Studie. Denn derzeit liegen die gesamten öffentlichen Bildungsausgaben im Elementar- und allgemeinbildenden Schulbereich nur bei rund 2,6 Prozent des BIP.
- Schnelles Handeln lohnt sich: Werden die Reformen in fünf statt in zehn Jahren durchgeführt, ergibt das laut Studie einen Einspareffekt von 280 Milliarden Euro. Dauern sie dagegen 20 Jahre, führt das zu einem Verlust von 500 Milliarden Euro im Vergleich zur Zehn-Jahres-Reform.
Nachhaltige und ertragreiche Investition
Das Fazit der Autoren: „Wirksame Investitionen in Bildung sind aus gesellschaftlicher Perspektive nachhaltig und ertragreich.“ Sie sprechen sich daher für einen Paradigmenwechsel hin zu individueller Förderung aus. Lehrer und Schulen müssten verstärkt Verantwortung für den Schulerfolg der Kinder übernehmen und individueller auf sie eingehen. Sie empfehlen: Kinder und Jugendliche sollten länger gemeinsam in heterogenen Gruppen lernen. Denn die empirische Bildungsforschung habe belegt, dass Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern vom gemeinsamen Lernen profitieren, ohne dass die Kinder aus bildungsnahen Schichten darunter leiden. Und: Eine hochwertige frühkindliche Förderung ist gerade für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern wichtig.
Ludger Wößmann / Marc Piopiunik: Was unzureichende Bildung kostet. Eine Berechnung der Folgekosten durch entgangenes Wirtschaftswachstum, Studie des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2009, 76 Seiten.
changeX 17.02.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Ludger Wößmann / Marc Piopiunik: #/Was unzureichende Bildung kostet. Eine Berechnung der Folgekosten durch entgangenes Wirtschaftswachstum/#, Studie des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2009, 76 Seiten.Die Studie zum Download (PDF 1,3 MB)
Autorin
Annegret NillAnnegret Nill arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Moderatorin in Berlin. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.
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