Investition ins Soziale

Armut - was ist das? Die Grundsatzanalyse von Gerhard Willke
Text: Dominik Fehrmann

Was bedeutet eigentlich Armut in einem reichen Land? Und wie schlimm ist es um Armut in Deutschland bestellt? Wirtschaftsexperte Gerhard Willke plädiert für nüchterne Analyse statt empörter Polemik - und für eine Neujustierung der Sozialpolitik: für Sozialinvestition statt Sozialkonsum.

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"Deutschland versagt im Kampf gegen die Armut." So heißt es gerade wieder in einem aktuellen UN-Bericht. Zumindest dieses Fazit würde wohl auch Gerhard Willke sofort unterschreiben. Gemeinsam mit Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und einem großen Teil der politischen Linken. Von denen der emeritierte Professor für Wirtschaftspolitik ansonsten kaum weiter entfernt sein könnte. 

Wer Willkes Buch Armut - was ist das? liest, sieht vor dem inneren Auge förmlich, wie Gewerkschaftern und Wohlfahrtsverbandsfunktionären bei jedem zweiten Satz der Kamm schwillt. Denn in seiner Grundsatzanalyse der Armutsproblematik in Deutschland erweist sich Willke als leidenschaftlicher Liberaler mit unerschütterlichem Vertrauen in die "Kräfte des Marktes". Und als erbitterter Gegner all jener Vertreter von "Wohlfahrts-, Deprivations-, Berichterstattungs- und Sozialamtsgewerbe", deren "mit Empörung getränktes Dauerlamento" nicht zuletzt der eigenen Prosperität diene.


Kollateralschaden der Reichtumsproduktion


Fälle von absoluter Armut - also Lebensverhältnisse, in denen ein Mangel an Grundbedarfsgütern die physische Existenz von Menschen bedroht - sind in Deutschland glücklicherweise selten. Wenn in der Diskussion über Armut in Deutschland Prozentzahlen zwischen zehn und 20 genannt werden, geht es um relative Armut. Also um Einkommensverhältnisse unterhalb einer Schwelle, die relativ zum Durchschnittseinkommen angesetzt wird - hierzulande in der Regel bei 60 Prozent. 

Willkes Ausgangspunkt ist das Axiom, dass relative Armut ein "inoperabler Kollateralschaden der Reichtumsproduktion" sei und damit in einer marktkapitalistischen Gesellschaft unvermeidlich. Das ist provokant formuliert, aber durchaus plausibel. Die Koppelung des Armutsbegriffs an einen Mittelwert hat logisch zur Folge, dass es relative Armut gibt, solange es ungleiche Einkommen gibt. Und die wird es in einer Marktwirtschaft immer geben. Sonst wäre es keine Marktwirtschaft. 

Dass einige zwangsläufig weniger haben als andere, entbindet aber nicht von politischem Handeln. Auch Willke hält es für eine Aufgabe der Politik, relative Armut so weit wie möglich einzudämmen. Und wenngleich er die Armutssituation im Gegensatz zu Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden in Deutschland nicht als dramatisch oder skandalös erachtet, diagnostiziert er doch dringenden Handlungsbedarf: "Was die Sozial- und Armutspolitik wissen muss, ist hinlänglich bekannt und wird von allen Indikatoren und Verfahren übereinstimmend wiedergegeben: dass die Vermögensverteilung zum Himmel schreit, dass die Einkommensverteilung ungleich ist und dass diese Ungleichheiten nicht abgenommen, sondern eher zugenommen haben."


Sozialinvestition statt Sozialkonsum


Was ist also zu tun? Zwar hält auch Willke staatlich organisierte Umverteilung in Form von progressiver Einkommensbesteuerung und Transferzahlungen prinzipiell für sinnvoll, um "marktbedingte Ungleichheiten der Einkommens- und Vermögensverteilung zu verringern". Doch nur in begrenztem Maße. Die Konzentration auf Umverteilung, glaubt Willke, habe das Armutsproblem nicht nur nicht gelöst, sondern letztlich noch verschärft. Zum einen führe sie "zur Verfestigung der Armut infolge zunehmender Deaktivierung" der Leistungsempfänger. Zum anderen schmälerten die steigenden Sozialausgaben inzwischen die Effizienz des Wirtschaftssystems und bedrohten damit das "Fundament einer prosperierenden Gesellschaft und eines finanzierbaren Sozialstaates". 

Vor allem aber lindere die direkte Umverteilung von Geld "zwar die Symptome, reicht aber nicht an die Ursachen heran". Und als Hauptursache für Armut identifiziert Willke den Ausschluss vom regulären Erwerbsleben. Als Hauptbetroffene: Arbeitslose, Alleinerziehende, Migranten. Dementsprechend lautet sein "Hauptsatz der Armutsbekämpfung: Aus dem Armutszirkel kommt nur heraus, wer in die Arbeitsgesellschaft hineinkommt." Die beste und bislang vernachlässigte Form der Armutsbekämpfung sei daher "die Verbesserung der Chancen für Integration, Bildung, Ausbildung und Erwerbsarbeit". Kurzum: Nicht Alimentationen, sondern Investitionen seien gefragt - Investitionen, die zu mehr und besserer Beschäftigung führen. Sozialinvestition statt Sozialkonsum.


Grundlagen der wissenschaftlichen Armutsforschung


Das alles sind keine neuen Thesen. Aber Willke bettet sie in eine argumentativ stringente und faktenreiche Analyse. So macht er den Leser en passant mit Grundlagen der wissenschaftlichen Armutsforschung vertraut, mit Armutstheorien und unterschiedlichen Messgrößen für Armut, mit Begriffen wie "Durchschnittseinkommen", "Medianeinkommen" und "Äquivalenzeinkommen", "Lorenzkurve" und "Gini-Koeffizient". 

Bei aller Ausführlichkeit sind am Ende der Lektüre natürlich nicht alle Fragen beantwortet. Im Gegenteil. Einige stellen sich gerade wegen der vielen Informationen umso drängender. Zum Beispiel die Frage, ob ausgeweitete Beschäftigung im Niedriglohnsektor tatsächlich die relative Armut mindern kann, wenn sie nicht mit Mindestlöhnen einhergeht. Denn die lehnt der Marktwirtschaftler Willke ab. Und selbst wer ihm darin folgt, dass zur Armutsbekämpfung mehr Investition und weniger Alimentation nötig sei, kann sich fragen, wie denn die Gesellschaft die Zeit materiell und mental überbrücken soll, bis die langsam reifenden Früchte dieser Investitionen genossen werden können. 

Streng Andersgläubige wird Willke mit diesem Buch kaum bekehren. Aber selbst ihnen dürfte es nutzen: als ausgezeichnete Gelegenheit, ihre Argumentation auf Wackligkeit zu überprüfen und vielleicht noch einmal ordentlich festzuzurren. 



changeX 14.07.2011. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Armut - was ist das?. Eine Grundsatzanalyse. Murmann Verlag, Hamburg 2011, 256 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86774-126-2

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Autor

Dominik Fehrmann
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Dominik Fehrmann ist freier Journalist in Berlin. Er schreibt als freier Mitarbeiter für changeX.

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