Zukunft selbst gestalten
Die Zukunft ist ein weites Feld. Sie bereits in der Gegenwart sichtbar zu machen, dem hat sich die Trend- und Zukunftsforschung verschrieben. Doch ist Zukunft überhaupt vorhersehbar - und was leisten die Methoden wirklich? Der Methodenkoffer Zukunft bietet einen umfassenden und kritischen Überblick.
"Das Morgen ist schon im Heute vorhanden, aber es maskiert sich noch als harmlos, es tarnt und entlarvt sich hinter dem Gewohnten. Die Zukunft ist keine sauber von der jeweiligen Gegenwart abgelöste Utopie: Die Zukunft hat schon begonnen. Aber noch kann sie, wenn rechtzeitig erkannt, verändert werden." Mit diesem Zitat lässt der Politik- und Wirtschaftsberater Walter Simon in seinem neuen Buch GABALs großer Methodenkoffer Zukunft - Grundlagen und Trends keinen Geringeren zu Wort kommen als einen Begründer der Zukunftsforschung selbst, Robert Jungk. Gleichzeitig markiert er mit Jungks Statement seinen eigenen Standpunkt: Die Zukunft ist offen, aber bereits in der Gegenwart gestaltbar.
Doch das ist nur der eine Teil seiner Position - der zukunftsorientierte, pragmatische, ja beinahe optimistische. Der andere Teil ist seine skeptische Einschätzung der Zukunftsforschung selbst, die sich durch das ganze Buch zieht: "Wie viele Zukunftsstudien auch immer geschrieben werden, die Zukunft wird dadurch nicht klarer. Ein Blick in die relevanten Veröffentlichungen der letzten 100 Jahre zeigt, Zukunft war, ist und bleibt ungewiss. Wer in die Zukunfts-Lostrommel greift, zieht mehr Nieten als Treffer."
Dabei wächst heutzutage das Bedürfnis nach Gewissheit und Orientierung, je ungewisser sich Wirtschaft und Gesellschaft entwickeln. Vor diesem Hintergrund ist das Buch von Simon verortet: Wir wissen nicht, was die Zukunft bringen wird, können aber nicht anders handeln, als wüssten wir es. Hierzu hinterfragt Simon in seinem umfangreichen, fünf Kapitel umfassenden Buch die Aktualität und den Nutzen der Trend- und Zukunftsforschung, widmet sich der Frage nach den Ursachen des Wandels und stellt abschließend acht sogenannte Metatrends dar, also Trends, die als Hauptkräfte des globalen Wandels gelten können. Das vorliegende Buch bildet zudem eine Einheit mit dem zeitgleich erschienenen siebten Band der Reihe GABALs großer Methodenkoffer: Während sich der hier vorgestellte sechste Band allgemein von Grundlagen und Trends der Zukunftsforschung widmet, geht der siebte Band direkt in medias res: Hier stellt Simon Konzepte, Methoden und Instrumente dar, die die Zukunftsnavigation erleichtern sollen.
Alles in Bewegung
Doch nun zurück in die Zukunft: Diesem schillernden Begriff widmet Simon sein erstes Kapitel. Darin geht er allgemeinen Fragen nach wie: Was ist Zukunft, und wann beginnt sie? Was brachte die Zukunft aus dem Blick der Vergangenheit? Sind wir zukunftsfähig? - Und ganz grundsätzlich: Ist die Zukunft vorhersehbar? Diese Fragen beantwortet Simon vor dem Horizont der Gegenwart: Es vollziehen sich gewaltige Veränderungen im Leben der Menschen. Alles ist in Bewegung: Werte, Orientierungen, Lebensformen, Produktionsverfahren, wirtschaftliche Beziehungen, Geschlechterrollen und Kommunikationsformen. Kein Wunder, dass manchem vor der Zukunft und den ungewissen Umwälzungen auf dem Weg dorthin angst und bange ist. Jedoch ist das nach Simon die falsche Haltung: "Es muss uns gelingen, den Wandel zu unserem Freund statt zu unserem Feind zu machen."
Um den Freund an die Hand zu nehmen, muss jedoch unsere Vorausschau zurückgestuft werden. In unserem Hochgeschwindigkeitszeitalter machten nach Simon nur noch Prognosen über einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren Sinn. Prognostische Genauigkeit muss also relativ zu der Zeitspanne bewertet werden, über die ein Zukunftsmodell Aussagen zu treffen sucht: So ergibt sich ein "minimales Zukunftsmodell", welches nicht weit von der Gegenwart entfernt liegt - und dadurch das Bild einer relativ überraschungsfreien Zukunft liefern soll.
Weiter in die Zukunft reichen drei Modelle, die Simon von dieser Minimalzukunft abgrenzt: Ein "wahrscheinliches Zukunftsmodell" ist ein einigermaßen empirisch abgesicherter Zukunftsentwurf; ein "wünschenswertes Zukunftsmodell" enthält neben dem Bild des wahrscheinlichen Zukunftsmodells noch Ideen einer erstrebenswerten Zukunft; und das "utopische Zukunftsmodell" reicht weit in die Zukunft: Es enthält wünsch- und denkbare Zukunftsentwürfe auf der Basis von Wünschen, Visionen und Fantasien.
Doch all diese Zukunftsentwürfe müssen auf der Basis einer noch nie da gewesenen Komplexität der Veränderungen erstellt werden. So schreibt Simon: "Auch der Wandel hat sich gewandelt. Er bewegt sich nicht mehr schrittweise und nicht mehr in eine bestimmte Richtung. Er kommt nicht mehr nur aus einer Richtung, sondern gleichzeitig aus Ost und West, Nord und Süd. Der Begriff Wandel ist nicht mehr geeignet, die Situation zu beschreiben." Vielmehr könne von einer Revolution die Rede sein, denn die Umwälzung, derer wir Zeuge sind, ist allumfassend, grundlegend und unumkehrbar. Im zweiten Kapitel geht der Autor den Ursachen dieser Umwälzung nach und diskutiert unterschiedliche Ansätze wie Religion als Auslöser für den Wandel, den dialektisch-materialistischen Erklärungsansatz, die kondratjewschen Zyklen sowie Schumpeter und die kreative Zerstörung des Alten.
Zukunftsforschung in moralischer Pflicht
Im dritten Kapitel geht Simon die Zukunftsforschung direkt an - und fragt nach ihrer Stellung im Spektrum der Wissenschaften, beleuchtet Methoden, um abschließend seinen Todesstoß "Futurologie ohne future" zu formulieren. Doch kritisch, wie der Autor gegenüber der wissenschaftstheoretischen Verfasstheit der Zukunftsforschung ist, schlägt er sich zunächst pragmatisch auf eine Seite, die gleichzeitig die Ergebnisse dieser Forschungsrichtung gewissermaßen im Sinne von "besser als gar nichts" würdigt: "Soll die Zukunftswissenschaft gar Partei ergreifen?"
Ja, lautet die Antwort des Autors. "Wir brauchen die Einheit von Wissenschaftlichkeit und humanistischer Parteilichkeit. Es gibt keinen Grund, die Analyse von der Anklage zu trennen. Zukunftsforscher sind in der moralischen Pflicht, sich auf die Seite jener zu stellen, die schuldlos Verlierer oder Opfer der Zukunft sind, besonders in einer Zeit, in der Zukunft leider kein Synonym mehr für Hoffnung ist. Aber selbst wenn die Zukunftswissenschaft nur eine rechnerische Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent hat, lohnt es sich, für die verbleibenden 50 Prozent Hoffnung zu kämpfen." Grundsätzlich ergeht sich der Autor in diesem Kapitel darin, dass sich die Zukunftsforschung bitte schön endlich mal ein logisches, wissenschaftstheoretisches Fundament zulegen solle, was ihn dann auch abschließend zu dem Urteil verleitet: "Die futurologische Ausbeute war selbst bei den technokratisch ausgerichteten Futurologen zu gering. Es war der Futurologie nicht möglich, deren Erkenntnisse in eine Art Zukunftsgesamtschau zu integrieren. Man erkannte, dass die mittel- bis langfristige Zukunft nicht vorhersehbar ist. Darum kehrte die Zukunftsprognose wieder zurück zu den Einzelwissenschaften."
Trendforschung - Marktschreierei, Begriffscomedy und Halluzination
In diese Lücke ist nun die Trendforschung eingerückt, der der Autor ebenfalls im Grundsätzlichen auf den Zahn fühlt; so fragt er forsch, ob die Trendforschung überhaupt "noch im Trend" sei. Eingezwängt zwischen der Marktforschung einerseits und der Zukunftsforschung andererseits ließe sich die Trendforschung mit Matthias Horx und Peter Wippermann noch am ehesten als Metainstanz der Bewertung sozialer Wandlungsprozesse charakterisieren. In den Worten der beiden Trendforscher: "Trendforschung ist nicht zuletzt die Supervision der Supervisionäre. Profan ausgedrückt: Wir analysieren diejenigen, die Analysen machen. Wir recherchieren diejenigen, die recherchieren. Wir bilden Meinungen auf Meinungen."
Simon liefert einen historischen Abriss der Disziplin, beschreibt ihre Methoden ebenso wie die Grundmuster von Trends, um abschließend die vielstimmige Kritik zusammenzufassen: Erstens erhebt die Trendforschung als "Forschung" den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, ihre Methoden jedoch hält er für pseudowissenschaftlich. Zweitens bezweifelt Simon, ob vieles, was Trendforscher als Ergebnisse präsentieren, wirklich etwas Neues darstelle - vieles seien "einfach nur Verdichtungen, andere Perspektiven und mit ‚Leuchtworten‘ ausgestattete Beschreibungen längst ausgebrüteter und erkannter Entwicklungen des gesellschaftlichen Seins". Schließlich ist Simon die Selbstvermarktung der "Trendologen" ein Dorn im Auge, die er als Marktschreierei, Begriffscomedy und Halluzination statt Weitblick sieht.
Die Prognosedefizite von Zukunfts- und Trendforschung sollten, so Simons Fazit, Anlass für Skepsis und für ein Zurückschrauben der Erwartungen sein. Vielmehr sei jeder Einzelne aufgerufen, seine Zukunft selbst zu erforschen - ganz einfach, indem man Weltveränderungen wahrzunehmen und zu verstehen lerne, sich sein eigenes Bild mache, das relevante Umfeld beobachte und permanente Meinungsbildung betreibe.
Zukunft selbst gestalten
Nichtsdestotrotz liefert Simon in seinem fünften und letzten Kapitel eine umfassende, 200-seitige Beschreibung von acht "Metatrends in die Welt von morgen", deren Auswahl der Autor selbst vorgenommen hat. Unter Metatrends versteht Simon "tief greifende Trends mit Ewigkeitscharakter, die zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen führen". Als Über-Übertrends beschreiben sie ein grundsätzliches Klima, in das sich alles andere integriert, unterordnet und organisiert. Diese acht Metatrends sind: Gesundheitswirtschaft, Globalisierung, neue Technologien, Arbeitswelt, Demografie, Migration, Multioptions-Gesellschaft und Wissen - der neue Produktionsfaktor.
Gerade dem Metatrend Wissen bescheinigt Simon ein enormes Potenzial: "Mittlerweile hat sich derart viel Wissen angesammelt, dass Wandel heute exponentiell und mit einer Schnelligkeit erfolgt, die kaum noch mittelfristige Projektionen und Planungen ermöglicht. Der Grund: Unser Wissen interagiert mit all unseren Erkenntnissen und Erfahrungen aus allen verfügbaren Bereichen." Immer mehr Wissen ist also nicht einfach nur immer mehr Wissen, sondern - in Abwandlung eines Satzes von Sokrates - auch immer mehr Wissen darum, was man alles nicht weiß. Der Wunsch nach Wissen treibt unsere eigene, aber auch jede systematische Zukunftsvorausschau.
Simon liefert in seinem Buch eine sehr grundlegende, umfassende und kritische Darstellung von Zukunfts- und Trendforschung. Jedoch lässt seine grundsätzliche Skepsis an der Prognosefähigkeit von Zukunftsforschung den anderen, optimistischeren Teil seiner Position mitunter in den Hintergrund treten: die Erkenntnis, dass wir in der Gegenwart immer die Chance haben, Zukunft bereits vorwegzunehmen, indem wir sie aktiv gestalten.
Zitate
"Das Morgen ist schon im Heute vorhanden, aber es maskiert sich noch als harmlos, es tarnt und entlarvt sich hinter dem Gewohnten. Die Zukunft ist keine sauber von der jeweiligen Gegenwart abgelöste Utopie: Die Zukunft hat schon begonnen. Aber noch kann sie, wenn rechtzeitig erkannt, verändert werden." Robert Jungk Walter Simon: Methodenkoffer Zukunft
"Wie viele Zukunftsstudien auch immer geschrieben werden, die Zukunft wird dadurch nicht klarer. Ein Blick in die relevanten Veröffentlichungen der letzten 100 Jahre zeigt, Zukunft war, ist und bleibt ungewiss. Wer in die Zukunfts-Lostrommel greift, zieht mehr Nieten als Treffer." Walter Simon: Methodenkoffer Zukunft
changeX 23.05.2011. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
Artikeltags
GABAL Verlag
Weitere Artikel dieses Partners
Ein Hoch auf den Kurzschlaf - fünfeinhalb Fragen an Stefanie Demmler zum Kurzinterview
Fünfeinhalb Fragen an Frauke Ion zum Interview
Fünfeinhalb Fragen an Martina Mangelsdorf zum Interview
Ausgewählte Links zum Thema
-
Zum Buch auf der Verlagsseitewww.gabal-verlag.de/...
Zum Buch
Walter Simon: GABALs großer Methodenkoffer Zukunft. Grundlagen und Trends. GABAL Verlag, Offenbach 2011, 456 Seiten, 29.90 Euro, ISBN 978-3-86936-181-9
Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon
Autor
Sascha HellmannSascha Hellmann ist freier Journalist in Heidelberg. Er arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.