Rettet Europa!
Ein Buch? Eine Flugschrift? Eine Streitschrift auf jeden Fall. Angelegt als internationales Buchprojekt, das zugleich in sieben europäischen Sprachen erscheint, übt sie beißende Kritik an dem Supermachtgehabe des wieder erstarkten Deutschland. Und formuliert ein leidenschaftliches Plädoyer für ein geeintes Europa. Die Botschaft: Europa darf uns nicht egal sein.
Bei Büchern geht es um den Inhalt. Die Form hingegen spielt kaum eine Rolle, denn was ein Buch ist und wie es auszusehen hat, hat sich zu einem kulturellen Muster verfestigt.
Bei diesem hier ist es anders. Hier ist die Form ein eigenes Thema. Detlef Gürtlers 48 Seiten umfassende Streitschrift Entschuldigung! Ich bin deutsch erscheint nämlich nicht nur in deutscher Sprache - in einer mit 100.000 Exemplaren beachtlichen Startauflage -, sondern zugleich als E-Book in sechs weiteren europäischen Sprachen. Diese Kombination eines Buches im Miniformat mit zeitgleich erscheinenden fremdsprachigen E-Book-Ausgaben ist es, die den Murmann Verlag von der "Buchinnovation des Jahres" sprechen lässt. Einer Innovation, die ihr Vorbild nicht im klassischen Buch sucht, sondern in einer fast in Vergessenheit geratenen Gattung: "Die Flugschrift war eine literarische Gattung der Aufklärung. Im Zeitalter von Internet, App und E-Mail wird diese Gattung wieder bedeutsam", heißt es beim Verlag.
Flugschrift für das digitale Zeitalter
Und hier findet die Form zum Inhalt. Denn Gürtlers Streitschrift richtet sich an alle Europäer. Sein Essay gibt sich den Rahmen eines Briefs, geschrieben von einem wohlmeinenden Deutschen, der sich für sein Deutschsein entschuldigt und den europäischen Nachbarn das deutsche Wesen zu erklären sucht. Erst die Form eines internationalen Buchprojekts verleiht dieser direkten Ansprache Sinn. Die fremdsprachigen E-Book-Ausgaben machen es möglich, dass das Buch seine Adressaten direkt und unmittelbar erreicht - ohne den Umweg über die Medien und ohne zeitlich verzögerte Lizenzausgaben. Wenn man so will, als Flugschrift für das digitale Zeitalter, die sich der elektronischen Kommunikationskanäle bedient, aber die Unmittelbarkeit dieses Mediums erhält.
Gürtlers Entschuldigung ist dabei mehr als eine sympathische Geste. Sondern Ausdruck einer tiefen Sorge, dass eine wieder erstarkte deutsche Großmannssucht die Gräben wieder aufreißt, die nach dem Krieg mühsam und in einer historisch einmaligen Annäherung zwischen ehemals verfeindeten Staaten zugeschüttet worden sind.
Wer beim Wort "Wesen" ein paar Zeilen weiter oben unwillkürlich "... soll die Welt genesen" ergänzt, ist unmittelbar beim Kern dieser Streitschrift angekommen. Dieser deutschen Überheblichkeit, dem notorischen Besserwissen und Besserkönnen, gilt die Entschuldigung Gürtlers. Denn der Wirtschaftsjournalist, Buchautor und Chefredakteur der Zeitschrift GDI Impuls sieht - eine kühne historische Parallele - die folgenreichen Großmachtallüren Wilhelms II. im wirtschaftlich erstarkten Deutschland der Gegenwart wieder aufleben.
Angela Merkel sei "drauf und dran, so etwas wie die Wilhelmina des 21. Jahrhunderts" zu werden, polemisiert Gürtler und datiert den Zeitpunkt des Umschaltens auf eine neue Überlegenheit auf den Spätherbst 2008, den Höhepunkt der Finanzkrise. Danach, so Gürtler, schaltete die Sprache auf Stärke und die Haltung auf Vorbild um. Deutschlands soziale Marktwirtschaft als ökonomisches Erfolgsrezept, die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte des Landes, das sich vom Schlusslicht Europas zum wirtschaftlichen Schwergewicht emporarbeitete, als leuchtendes Beispiel dafür, wie man eine lahmende Wirtschaft wieder in Schwung bringt. "Wir hätten es dabei belassen können - und es den anderen überlassen, ob und wie sie sich diese Vorgeschichte zum Vorbild nehmen wollen. Aber wir wollten mehr, vor allem Angela Merkel wollte mehr. Wir selbst sollten jetzt diejenigen sein, die die Benchmark setzen." Mit "neu erwachtem Sendungsbewusstsein" präsentierten die Deutschen Deutschland nicht nur als leuchtendes Vorbild, sondern diktierten auch die Regeln, nach denen die anderen zu handeln hätten - wenn sie denn in der Eurozone bleiben wollten.
Drohendes Ende des geeinten Europa
Fatal daran: Dass es der "Undiplomatin" Merkel - wie ehemals Wilhelm II. - an der Fähigkeit mangele, in "Gleichgewichten und Kräftefeldern" zu denken. Dieser Mangel ist Wurzel dieser Politik der Stärke und zugleich Ursache ihres wahrscheinlichen Scheiterns. "Deutschland hat sich auf einen Weg begeben, an dessen Ende ein Europa nach deutschem Vorbild stehen soll, aber viel wahrscheinlicher die Zerstörung der Europäischen Union stehen wird." Das ist Gürtlers Kernthese. Irgendwann werde Deutschland verbittert feststellen, von allen betrogen, belogen und ausgenutzt worden zu sein - und das wäre dann der Bruch, das Ende des geeinten Europa.
Dazu dürfe es aber nicht kommen. Ans Ende des Buches stellt Gürtler deshalb vier Strategien, die Europa aus der Sackgasse herausholen sollen, "in die Deutschland uns alle gerade hineinführt". Sein Lieblingsrezept klingt drastisch, nimmt aber nur die unausweichliche Situation, aus der Deutschlands Einheit erwuchs, zum Prototyp für die Rettung der Einheit Europas: "Schaffen Sie ein riesiges Chaos und einen ebensolchen Investitionsbedarf!", empfiehlt er den Nachbarn. Erst wenn die europäische Einheit komplett unkalkulierbar werde, sei die Chance auf Rettung gegeben. Mittel dazu: Ein gewaltiges Investitionsprogramm, das den Deutschen freilich das Gefühl geben müsse, nicht nur zur Kasse gebeten zu werden, sondern in eine bessere Zukunft zu investieren.
So richtet sich dieser Schluss vielleicht gar nicht so sehr an die Europäer, sondern vor allem an die Deutschen selbst. Will sie vorbereiten auf das, was kommen könnte: Dass Deutschland allein auf sich gestellt für ganz Europa handeln muss. Und da muss klar sein, was uns unser Kontinent bedeutet. "Immerhin war die politische Union die Antwort Europas auf zwei Weltkriege, mit denen hauptsächlich wir Deutschen diesen Kontinent verheert haben. Dazu sollte es eigentlich nie wieder kommen."
Leidenschaftliches Plädoyer eines Europäers für ein geeintes Europa
Nun ist dies eine recht ernste Rezension eines Buches geworden, das sehr leicht daherkommt. Gürtler schreibt angriffslustig, pointiert und hat stets eine überraschende Wendung parat. Er hält den Text elegant in der Schwebe zwischen Polemik, Ironie und Selbstironie. Bei aller Leichtigkeit verleugnet das Buch aber seinen ernsten Gehalt nicht. Es ist ein leidenschaftliches Plädoyer eines Europäers für ein geeintes Europa. Gürtler appelliert an Solidarität und Pflichtgefühl der Deutschen. Und erinnert an ihre Verantwortung, die aus ihrer Geschichte resultiert. Europa darf uns nicht egal sein.
changeX 08.07.2011. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Detlef Gürtler: Entschuldigung! Ich bin deutsch. Eine Streitschrift. Murmann Verlag, Hamburg 2011, 48 Seiten, 5 Euro, ISBN 978-3-86774-154-5
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.