Märchenonkel im Oberstübchen
Das Ich ist ein Märchen, das sich das Gehirn selbst erzählt. Dennoch sind wir für unsere Handlungen selbst verantwortlich. Kein Widerspruch. Ein Hirnforscher erklärt, wie wir funktionieren.
Die moderne Neurowissenschaft sticht mit ihren Ergebnissen ins Wespennest: Unser Selbstverständnis und zentrale Begriffe wie "Ich", "Bewusstsein" und "Freier Wille" stehen auf dem Prüfstand. Nicht nur das. Zugleich drohen gerade deterministische Interpretationen Selbstverständliches und Wichtiges wie unsere eigene Verantwortung auszuhöhlen.
In dieser Situation nimmt der renommierte Hirnforscher Michael Gazzaniga mit seinem neuen Buch Die Ich-Illusion. Wie Bewusstsein und freier Wille entstehen den Leser an die Hand und bezieht unmissverständlich Stellung: "Wir sind als Individuen für unsere Handlungen selbst verantwortlich, obwohl wir in einem kausal vorbestimmten Universum leben." Wobei der Autor zwischen kausal bestimmt und vorhersagbar unterscheidet: kausal ja, vorhersagbar nein. .Auch die Vorstellung von uns Menschen als ferngesteuerten Biomaschinen kontert Gazzaniga und pocht auf die Verantwortlichkeit des Einzelnen. In seinem Buch schildert er, wie sich das Gehirn evolutionär entwickelt hat, wie es aufgebaut ist und funktioniert.
Das Aus für den Homunculus
Die Entwicklung des Gehirns ist seit Millionen Jahren in vollem Gange. Und nicht nur angesichts seiner langen Geschichte, sondern auch beim Blick auf die Aktivitäten dieses Gehirns kann einem schwindelig werden: "Unser Gehirn ist ein stark parallel geschaltetes und verzweigtes System, das unvorstellbar viele Entscheidungsknoten und Integrationszentren umfasst. Es arbeitet rund um die Uhr und beaufsichtigt unsere Gedanken, Triebe und Körper. Die Millionen Netzwerke dieses Systems gleichen eher einem Meer von Kräften und keineswegs Soldaten, die auf einen Befehl ihres Kommandanten warten. Das System ist außerdem determiniert und kein umherstreifender Gesetzloser, der außerhalb der physikalischen und chemischen Kräfte des Universums agiert."
Und trotz dieser Erkenntnis lässt uns der Gedanke nicht los, ein "Ich" oder ein "Selbst" müsse einfach das Ruder in der Hand haben. Wir fühlen uns nämlich als einheitliches Wesen und sind fest davon überzeugt, dass sich dies auch im Gehirn widerspiegeln müsse.
Tut es aber nicht! Gazzaniga zufolge gibt es kein Kommandozentrum, das die übrigen Areale befehligt. Vielmehr hat das Gehirn Millionen örtlicher Prozessoren, die wichtige Entscheidungen treffen. Diese Erkenntnis bedeutet das Aus für den Homunculus als eine zentrale Schaltstelle im Hirn.
Doch warum ist unser Bewusstsein einheitlich, warum hat es sich entwickelt, und was soll dieser Begriff überhaupt bedeuten? "Meiner Ansicht nach hat das Gehirn alle möglichen lokalen Bewusstseinssysteme, eine ganze Sammlung davon, die das Bewusstsein ermöglichen", schreibt der Autor. Obwohl einem die eigenen bewussten Erlebnisse als einheitliches Ganzes erschienen, würden sie von diesen sich stark voneinander unterscheidenden Einzelsystemen geformt. "Was auch immer in Ihrem Bewusstsein in diesem Moment im Vordergrund steht, ist das Erleben des Systems, das gerade die Oberhand gewinnt. Die verschiedenen Systeme liefern sich in Ihrem Gehirn einen ständigen Kampf um Ihre Aufmerksamkeit."
Ich ist eine Fiktion
Dass wir trotz besseren Wissens eisern an unserem Ich festhalten, dürfte unserer linken Gehirnhälfte in die Schuhe zu schieben sein: Diese verspüre nämlich den starken Drang, verstreute Fakten in einen kausalen Zusammenhang zu bringen, ist dabei aber klar rückwärtsgewandt - und schummelt. So wird beispielsweise das Zurückweichen vor einer Schlange als intentionale und bewusste Handlung erklärt, einem drohenden Biss auszuweichen. Allerdings läuft diese Reaktion unbewusst und dadurch gleichzeitig viel schneller ab, ohne dass ein Ich überhaupt in Aktion getreten wäre. "Das Ich, auf das Sie so stolz sind, ist eine Fiktion, die Ihr Interpretier-Modul fabriziert, um so gut wie möglich Ihr Verhalten zu erklären."
Und so erzählt uns unser Gehirn ein Märchen nach dem anderen, um uns nicht mit verschiedenen und zusammenhanglosen Splittern unserer Gehirnaktivität kirre zu machen. Ganz nebenbei geht natürlich mit dieser Fabuliererei die Vorstellung von einem freien Willen den Bach runter. Praktisch jedoch ist die Vorstellung, eine Marionette zu sein, unannehmbar - und selbst die fanatischsten Deterministen folgten ihr in Bezug auf sich selbst keineswegs, so der Autor. Er sagt: Die Frage nach dem freien Willen muss anders gestellt werden: Sind wir als Handelnde für unsere Handlungen verantwortlich?
Nach Gazzaniga sollte dies so sein: "Es geht eigentlich nicht darum, ob wir ‚frei’ sind, sondern darum, dass es keinen wissenschaftlichen Grund gibt, Menschen nicht für ihre Handlungen verantwortlich zu machen." Und: "Verantwortlichkeit ist eine Dimension des Lebens, die sozialem Austausch entspringt, und sozialer Austausch erfordert mehr als ein Gehirn. Wenn zwei oder mehr Gehirne miteinander wechselwirken, beginnen sich neue und unvorhersehbare Dinge zu entwickeln und es gelten neue Regeln. Zwei der Eigenschaften, die unter diesen neuen Regeln erworben werden und vorher noch nicht da waren, sind Verantwortlichkeit und Freiheit."
Die Deterministen, die argumentieren, dass erstens das Gehirn den Geist hervorbringe und ein physikalischer Gegenstand sei, zweitens die physikalische Welt unser Gehirn determiniere, drittens die in unserem Geist entstehenden Gedanken determiniert sind, da unser Gehirn determiniert ist, so dass viertens der freie Wille eine Illusion sein müsse und unsere Vorstellung von Verantwortlichkeit zu verändern sei, lägen falsch. Auch wenn innerhalb der Wissenschaft über die erste Prämisse Einigkeit herrsche, sei jedoch die zweite ein schwaches Glied, die die Konklusion zu Fall bringe: "Viele Physiker sind nicht mehr sicher, dass die physikalische Welt voraussagbar determiniert ist, weil die nichtlineare Mathematik komplexer Systeme keine exakten Voraussagen zukünftiger Zustände zulässt." Also: Die Verantwortung bleibt.
Ölen der sozialen Maschinerie
Wenn soziale Interaktion der Schlüssel zur Verantwortlichkeit ist, gerät die Dynamik ins Visier, mit der wir Absichten, Gefühle und Gedanken anderer einerseits erkennen und andererseits in unsere Entscheidungen mit einbeziehen. Ein Meilenstein der Forschung ist in diesem Zusammenhang die Entdeckung sogenannter Spiegelneurone: Diese Neurone feuern nicht nur, wenn wir Handlungen selbst ausführen, sondern auch bei der Beobachtung von Handlungen - und stellen damit die Voraussetzung für das merkwürdige Moment dar, andere zu verstehen. Wir ahmen also den Geisteszustand anderer Menschen im Geiste nach, um ihn zu verstehen. Dieses Verständnis geht jedoch über Handlungen hinaus und schließt Emotionen ein - mit dem hübschen Effekt: "Alle diese Nachahmungen ölen die Maschinerie der sozialen Interaktionen und führen vermehrt zu positivem Sozialverhalten."
Der schöne Begriff des Sozialverhaltens schließt jedoch den des Fehlverhaltens mit ein, von dem es kein weiter Weg zu Vergehen und Verbrechen ist. Wer sich also auf dieser Ebene mit dem Gehirn beschäftigt, landet leicht vor Gericht. Und da scheint die moderne Neurowissenschaft ein Wörtchen mitreden zu wollen. Laut Gazzaniga könne die Neurowissenschaft Belege für unbewusste Befangenheiten von Prozessbeteiligten liefern, uns von der Zuverlässigkeit des Gedächtnisses und der Wahrnehmung sowie den Implikationen für die Aussagen von Augenzeugen erzählen und uns über die Zuverlässigkeit von Lügendetektortests informieren. Doch das ist, wenn man so will, erst die Peripherie: Die Ergebnisse der Hirnforschung rütteln vielmehr an den zentralen Begriffen wie Wille und Schuld - und damit steht die gesamte Grundlage des Rechtssystems auf dem Spiel.
Die Frage der Schuld
Sollte sich die Neigung zum Determinismus vertiefen, zerfällt die Schuld - und damit der Grund für Rache wie für Strafe. Doch - wie bereits erläutert - hält Gazzaniga an der Verantwortlichkeit des Einzelnen fest, indem er argumentiert, "dass Verantwortlichkeit letztlich ein Vertrag zwischen zwei Menschen und nicht eine Eigenschaft des Gehirns ist." Er ist weiterhin davon überzeugt, dass wir unsere Absichten erkennen, beurteilen und in ihrer Ausführung lenken können. Dies mache uns zu verantwortungsvollen Menschen und ist für alle die ein Anker, die ein pragmatisches Ich, das an diese Verantwortlichkeit geknüpft ist, im Meer der Forschungsergebnisse mittlerweile untergegangen glaubten.
Gazzanigas Fahrt durch diese stürmischen Gewässer rüttelt uns durch - macht aber auch wach. Für uns selbst. Ein unverzichtbares Buch für alle, die sich selbst und anderen auf die Schliche kommen möchten.
changeX 15.05.2012. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Michael Gazzaniga: Die Ich-Illusion. Wie Bewusstsein und freier Wille entstehen. Carl Hanser Verlag, München 2012, 288 Seiten, 24.90 Euro, ISBN 978-3-446-43011-2
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Autor
Sascha HellmannSascha Hellmann ist freier Journalist in Heidelberg. Er arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.