Das Unerwartete sehen

Erfolgsfaktor Zufall - Christian Buschs augenöffnendes Buch über Serendipität
Rezension: Winfried Kretschmer

Serendipity wird oft als besonderes und seltenes Ereignis im Kontext von Innovation beschrieben. Als Ausnahmeerscheinung, als Innovationsbooster gewissermaßen. Ein Innovationsexperte verschiebt nun die Perspektive: Serendipität kommt häufiger vor, als wir denken. Sie ist Teil unseres täglichen Lebens. Und wir können sie uns zunutze machen - wenn wir uns darin schulen, Unerwartetes wahrzunehmen.

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"Unerwarteterweise" sagen wir, "aus heiterem Himmel" oder "unversehens", wenn uns etwas widerfährt, womit wir nicht gerechnet hatten. Wenn Unerwartetes geschieht. Handelt es sich um einen glücklichen Zufall, um unerwartetes Glück, das sich aus ungeplanten Ereignissen zufällig ergibt und unser Handeln zu positiven Ergebnissen führt, hat es sich eingebürgert, von Serendipity zu sprechen. In den Erzählungen von solchen Ereignissen steht dann zumeist auch das Überraschende, die zufällige Wendung im Vordergrund. Ganz so, als sei das Glück jemandem gewissermaßen in den Schoß gefallen. Serendipity als zufälliges Glück. 

Ganz anders konzipiert den Begriff Christian Busch, international bekannter Experte für Innovation, bewusste Führung und Serendipity. In seinem Buch Erfolgsfaktor Zufall präsentiert er eine "aktive Sichtweise der Serendipität" und grenzt diese als aktives Glück ab vom bloßen, rein zufälligen Losglück. Der Schlüsselsatz lautet: "Serendipität ist nicht einfach etwas, das uns passiv widerfährt". Sie ist nicht bloß zufälliges Ereignis, "sondern hat eine Form und eine Struktur - sie ist ein Prozess, den wir beeinflussen können". Busch verschiebt damit die Perspektive vom Zufall auf das Vorbereitetsein, auf den "vorbereiteten Geist", von dem schon der französische Chemiker und Bakteriologe Louis Pasteur gesprochen hatte, und auf den Beitrag der handelnden Personen.


Ausnahmeerscheinung im Innovationskontext


Es lohnt, genauer hinzusehen, was diese Perspektivverschiebung ausmacht. Sie besteht nicht bloß in der Erkenntnis, dass Serendipität Einstellungssache ist und eines vorbereiteten Geists bedarf. Das wurde schon gesehen. So haben beispielsweise Oliver Gassmann und Sascha Friesike bereits 2012 betont: Was oft wie ein Glückstreffer wirke, sei in der Regel "ein Zusammenspiel aus Offenheit, Neugierde und Beharrlichkeit". Serendipity lehre, die Zufälligkeiten zu erkennen und anzupacken, schreiben die beiden im entsprechenden Kapitel ihres Innovationsratgebers.(*) 

Es geht auch nicht um eine Perspektivverschiebung in diesem einen Punkt, sondern darin, wie Serendipity insgesamt kontextualisiert wird: Serendipity wurde bislang meist als Phänomen im Kontext Innovation beschrieben, als ein Ereignis im Innovationsprozess, für das überraschende Zufälle eine zentrale Rolle spielen. Diese oft sogar skurril erscheinenden Zufälle stehen dann auch im Vordergrund dieser Beschreibungen. Serendipity erscheint so als Ausnahmeerscheinung im Innovationsprozess. Zudem sind es meist Zufälle in der Dingwelt, die zu den Innovationen führen: die vergessene Petrischale mit der Bakterienkultur (Penicillin), der Klebstoff, der nicht klebte (Post-it), das besonders gleitfähige chemische Material, für das es zunächst keinen Anwendungszweck gab - bis es als als Beschichtung für Bratpfannen entdeckt und zu einem Welterfolg wurde (Teflon). Mit Blick auf diese besonderen Ereignisse tritt der an das Zufallsereignis anschließende Prozess in den Hintergrund - eben der Anteil der handelnden Personen. 

Kurz gesagt: Diese Verengung auf den Kontext der Innovation und den Innovationsprozess wirkt exklusiv. Sie lässt Serendipity als seltenes Ereignis erscheinen, als Ausnahmeerscheinung. Und rückt den Zufall als Begebenheit der externen, der objektiven Welt in den Mittelpunkt. Damit tritt zugleich der Anteil der handelnden Personen in den Hintergrund. Zufall erscheint dann als etwas, das sich unabhängig von den beteiligten Menschen ereignen würde.


Sich des Unerwarteten bewusst sein


Christian Busch befreit Serendipität nun von dem Nimbus einer Ausnahmeerscheinung, die im besonderen Kontext von Innovation auftritt, und holt sie ins Leben zurück. Er sagt: Zufälle und unvorhergesehene Ereignisse sind Bestandteil des täglichen Lebens. Serendipität komme häufiger vor, als uns bewusst ist und "sie ist auch in unserem täglichen Leben präsent". Sie könne "jeden Tag, jede Sekunde" eintreten. Und jede und jeder könne sie als Erfolgsfaktor für sich nutzen. 

Zugleich verschiebt Busch den Fokus von der objektiven Welt auf die Handlungsebene. Sein Buch stellt er vor als "ein Buch über das Zusammenspiel von Zufällen und menschlichem Handeln". Er schreibt: "Tatsächlich sind unvorhergesehene Ereignisse, zufällige Begegnungen oder scheinbar bizarre Zufälle nicht nur kleine Ablenkungen oder Streuverluste in unserem Leben. Der Zufall ist oft der entscheidende Faktor, die Kraft, die den größten Unterschied für unser Leben und unsere Zukunft ausmacht." Hier sind wir wieder beim Punkt des Vorbereitetseins, der Offenheit für Serendipität, nur dass dieses nicht bloß im Kontext von Innovation bedeutsam ist, sondern für Erfolg ganz allgemein. 

Dieses Vorbereitetsein setzt Busch nun nicht als Vorbedingung gewissermaßen voraus, sondern rückt es als aktiv zu beeinflussenden Faktor in den Mittelpunkt. als Vorarbeit. Erfolgreiche Menschen hätten "bewusst oder unbewusst die notwendige Vorarbeit geleistet, um die Bedingungen für Glücksfälle zu schaffen", schreibt er. Es gelte, das Unerwartete zu sehen, offen zu sein für Dinge, die eben aus heiterem Himmel, unversehens und unerwartet geschehen. Aus dieser mentalen Haltung erst erwächst Serendipität als glücklicher Zufall. Sonst bleibt sie ein Zufall, der vorbeizieht. Es geht darum, "zufällige Beobachtungen bewusst wahrzunehmen und sie in Möglichkeiten zu verwandeln" - und wenn das geschieht, das Unerwartete und Ungewöhnliche weiterzuverfolgen. "Menschen, die sich des Unerwarteten bewusst sind, sind offen für Serendipität, weil sie in der Lage sind, nach dem verborgenen Wert in unerwarteten Daten und Ereignissen Ausschau zu halten." Christian Busch verschiebt den Fokus damit von Serendipität als Zufallsfaktor hin zu einem "Ansatz zur Freisetzung menschlichen Potenzials". 

Zusammengefasst sind es also zwei Perspektivverschiebungen, die das Buch einleitet: vom Kontext Innovation hin zum Leben und vom Zufallsereignis hin zum menschlichen Handeln. Damit verbunden ist ein dritter Shift: Mit dem Blick auf die handelnden Menschen verschiebt sich der Fokus zugleich von der Dingwelt hin zur sozialen Welt, in der wir alle leben. Und dort haben unvorhergesehene Ereignisse und Zufälle vor allem mit Begegnungen zwischen Menschen zu tun, weniger mit Petrischalen, Kleb- oder Kunststoffen. Um Menschen geht es, und damit verliert die ohnehin künstliche Unterscheidung zwischen technischen und sozialen Innovationen an Trennschärfe.


Menschen im Mittelpunkt


Zwei weitere Themen sind an dem Buch von Busch erwähnenswert. Erstens verhilft seine Unterscheidung unterschiedlicher Formen von Serendipität zu einem besseren Verständnis. Drei Haupttypen habe die Forschung identifiziert, auch wenn jeder Fall von Serendipität anders sei:
Archimedes-Serendipität liegt vor, wenn die Lösung für eine bekannte Herausforderung von unerwarteter Seite kommt: ein unerwarteter Weg zur Lösung des Problems, das wir lösen wollten, tut sich auf.
Post-it-Zettel-Serendipität bezeichnet eine unerwartete Lösung für ein anderes Problem, als das, welches wir lösen wollten. "Offenheit für unerwartete Lösungen" ist der zentrale Punkt hierbei.
Blitzschlag-Serendipität tritt ein, wenn kein bewusster Problemlösungsprozess im Gange ist. Sie folgt auf etwas Unerwartetes - ein Blitz am Himmel zum Beispiel - und eröffnet eine Lösung für ein unerwartetes oder ungelöstes Problem.
Gleichwohl, so Busch, passe nicht alles in eine Kategorie. 

Zweitens macht der Autor deutlich, dass der "Erfolgsfaktor Serendipität" sich nicht instrumentell anwenden lässt wie eine beliebige Managementmethode. Denn wie überall, wo es um Wahrnehmung geht, wirken Verzerrungseffekte: Cognitive Biases, kognitive Verzerrungen, wie sie die verhaltensökonomische und psychologische Forschung in den letzten Jahrzehnten beschrieben hat. Systematische Verzerrungen, festgefahrene Denkgewohnheiten und vorgefasste Meinungen über die Welt prägen unsere Wahrnehmung und unser Denken. Und sie "können blind machen für (potentielle) Serendipität". Vor allem vier solcher Biases macht Busch aus, die sich hemmend auf das Erkennen von Serendipität auswirken:
Unterschätzung des Unerwarteten: Oft unterschätzen wir das Unerwartete, weil wir linear denken: nach Plan und nicht exponentiell oder in Eventualitäten. Jeder Mensch entwickelt eine typische Sicht auf die Welt, und wir neigen aufgrund dieser Voreingenommenheit dazu, nur das Erwartbare in den Blick zu nehmen.
Anpassung an die Mehrheit: Der Druck, sich der Mehrheitsmeinung anzupassen, kann Serendipität blockieren.
Post-Rationalisierung: Wir erzeugen Sinn, indem wir Vergangenheit interpretieren. Dabei tendieren wir dazu, unvorhersehbare Ereignisse herunterzuspielen oder aus unserer Erzählung auszuschließen. So konstruieren wir logisch klingende Erzählungen und blenden dadurch mögliche Serendipität aus.
Funktionale Gebundenheit beschreibt das Phänomen, dass Menschen in der Regel auf ihnen bekannte Werkzeuge oder Problemlösungsstrategien zurückgreifen. Die uns vertrauten Werkzeuge und Methoden aufzugeben und neue Arbeits- und Denkweisen zu finden, ist jedoch essenziell für Serendipität.


Ein anderer Blick auf die Wirklichkeit


Uns für Serendipität zu öffnen, setzt also einen anderen Blick auf unsere Wirklichkeit voraus. Es gilt, die Voreingenommenheiten und Beschränkungen der eigenen Sichtweise zu überwinden und den Blick zu öffnen für die Möglichkeiten, die oft im Verborgenen liegen. Es gilt Verbindungen zu sehen und Muster zu erkennen. Christian Buschs Buch bietet zahlreiche Ansatzpunkte und viele Beispiele, die zeigen, wie sich diese Fähigkeiten entwickeln lassen. 

Als Ansatzpunkte nennt der Autor Achtsamkeit, Meditation und Dankbarkeit - und löst diese Praktiken aus dem esoterisch angehauchten Kontext, in den sie oftmals gestellt werden. Nun erscheinen sie in anderem Licht: als Praktiken, die helfen können, Wahrnehmungsverzerrungen zu erkennen und zu korrigieren. Nicht umsonst endet das Buch ganz pragmatisch mit der Anregung, Serendipitätsdenken zu Hause einzuführen, im Alltag. Und seinen Blick zu öffnen für die Möglichkeiten, die sie eröffnet. Wie gesagt: "Bei Serendipität geht es um Potenziale." 


(*) Oliver Gassmann, Sascha Friesike: 33 Erfolgsprinzipien der Innovation, Carl Hanser Verlag, München 2012. Das Kapitel über Serendipity ist als Auszug auf changeX erschienen (siehe Links).


Zitate


"Was auch immer wir im Leben anstreben, wir sind anfällig für den Zufall." Christian Busch: Erfolgsfaktor Zufall

"Serendipität ist nicht einfach etwas, das uns passiv widerfährt." Christian Busch: Erfolgsfaktor Zufall

"Tatsächlich sind unvorhergesehene Ereignisse, zufällige Begegnungen oder scheinbar bizarre Zufälle nicht nur kleine Ablenkungen oder Streuverluste in unserem Leben. Der Zufall ist oft der entscheidende Faktor, die Kraft, die den größten Unterschied für unser Leben und unsere Zukunft ausmacht." Christian Busch: Erfolgsfaktor Zufall

"Menschen, die sich des Unerwarteten bewusst sind, sind offen für Serendipität, weil sie in der Lage sind, nach dem verborgenen Wert in unerwarteten Daten und Ereignissen Ausschau zu halten." Christian Busch: Erfolgsfaktor Zufall

"Wir neigen von Natur aus dazu, alles kontrollieren zu wollen - aber dadurch verpassen wir die Chance für Verbindungen, die sich im Unerwarteten verbergen." Christian Busch: Erfolgsfaktor Zufall

"Bei Serendipität geht es um Potenziale." Christian Busch: Erfolgsfaktor Zufall

 

changeX 06.04.2023. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Erfolgsfaktor Zufall. Wie wir Ungewissheit und unerwartete Ereignisse für uns nutzen können. Murmann Verlag, Hamburg 2023, 318 Seiten, 29 Euro (D), ISBN 978-3-86774-754-7

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.

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