Neue Herausforderungen
Traditionelle Formen der Beschäftigung und Arbeitsorganisation ändern sich. Nur in welchem Ausmaß und in welcher Geschwindigkeit? Und wohin geht die Entwicklung? Thema einer fünfteiligen Serie, die auf dem Bericht "Flexible Arbeitswelten" an die Expertenkommission Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland der Bertelsmann-Stiftung basiert. Folge 5: Herausforderungen und Gestaltungsmöglichkeiten für Sozialpartner und Individuen.
Ging es in Folge vier um die Herausforderungen für die Akteure in Politik und Wirtschaft, stehen in der abschließenden fünften Folge nun die Herausforderungen und Gestaltungsmöglichkeiten für Sozialpartner und Individuen im Mittelpunkt. Eine Zusammenfassung schließt den Beitrag ab.
Gestaltungsmöglichkeiten der Sozialpartner
Die Rolle der Sozialpartner ist vor allem dort von Bedeutung, wo Arbeitgeber und Gewerkschaften über Tarifverträge oder betriebliche Vereinbarungen auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen Einfluss nehmen können. Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern haben bereits in den letzten Jahren geholfen, die produktiven Kerne der Industrie zu modernisieren und zu flexibilisieren - und sie damit in einem harten globalen Wettbewerb zu stabilisieren. Wir können davon ausgehen, dass die Gestaltungsfähigkeit der Sozialpartner hier auch in Zukunft mitentscheidend sein wird. Dies gilt auch für Initiativen zur Fachkräftesicherung angesichts des demografischen Wandels und zur Gesunderhaltung und Weiterqualifizierung alternder Belegschaften. Seit Mitte der 2000er-Jahre wird dies in Tarifverträgen, beginnend in der Stahl- und der Chemieindustrie, vorangetrieben. Auch der Ausbau von Tarifverträgen über lebensphasengerechte Arbeitszeitgestaltung wird besonders vor dem Hintergrund des demografischen Wandels vermehrt zu den Aufgaben der Sozialpartner gehören. Darauf verweist zum Beispiel auch die Robert Bosch Stiftung in ihrem Kommissionsbericht "Zukunft der Arbeitswelt" von 2013.
Die Stärke der Sozialpartnerschaft in Kernbereichen der Wirtschaft geht aber zum Teil auch mit Tendenzen zur Abwälzung von Risiken auf flexibel Beschäftigte einher. Weiterhin ist es so, dass in vielen Bereichen des privaten Dienstleistungssektors die Sozialpartner nicht annähernd so stark und gestaltungsfähig sind wie in etablierten Kernbranchen der Industrie. Dort können Gewerkschaften und Betriebsräte derzeit den Einsatz flexibler Beschäftigungsformen wie Zeitarbeit oder Werkverträge zunehmend stärker beeinflussen. Hier kommt staatlichen Rahmensetzungen eine wichtige Rolle zu. Die Gewerkschaften befürchten eine zunehmende Prekarisierung im Rahmen der arbeitsrechtlichen Umsetzung der von Arbeitgebern gewünschten Flexibilisierung. Daher sollen die Arbeitnehmer aus Gewerkschaftssicht vor den Arbeitgeberinteressen geschützt werden. Aber auch ein Schutz vor Selbstausbeutung ist notwendig, denn Arbeitnehmer in flexiblen Beschäftigungen sind für Arbeitsschutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Gesundheitsförderung kaum erreichbar.
Schließlich ist zu konstatieren, dass auch innerhalb der bestehenden Tarifvertragslandschaft die Spielräume für die betriebliche Ausgestaltung von Arbeitsorganisation und Arbeitsbedingungen zugenommen haben - was ja einer der Hauptgründe für die Stabilisierung der Tarifpartnerschaft in Deutschland war. Viele Fragen der betrieblichen Ebene und der Führung beziehungsweise der Arbeitsorganisation in Unternehmen lassen sich ohnehin nicht mit Tarifverträgen regeln, wohl aber im Zusammenwirken von Unternehmensleitung und Betriebsräten. Trotz alledem sehen sich auch Gewerkschaften in der Verantwortung, vermehrt qualitative Tarifverträge abzuschließen. Darüber hinaus werden auch jetzt schon von den Sozialpartnern Instrumente zur Vermeidung psychischer Belastungen verwendet, wie etwa Aufklärung, Beratung und Sensibilisierung. Hier können in der Zukunft weiter gehende branchenspezifische Vereinbarungen getroffen werden.
Anforderungen an die Individuen
Auf der Ebene der Individuen ist es eine zentrale Herausforderung, die individuellen Kenntnisse und Handlungskompetenzen an die gegenwärtigen und künftigen Anforderungen der Arbeitswelt anzupassen. Dies bedeutet nicht nur Weiterbildung, sondern vor allem die Stärkung der psychologischen Dispositionen, um mit der zukünftigen Arbeitswelt klarzukommen. Diese "Resilienz" umfasst auch die Fähigkeit zum Umgang mit stressbehafteten, belastenden Situationen, zur Eigenverantwortung und Selbstorganisation sowie zur Kooperation mit anderen.
Eine zentrale Kompetenz wird zudem die Fähigkeit zur Aushandlung von Arbeitsinhalten und -zielen mit anderen Projektpartnern, Vorgesetzten und Kollegen sein. Dabei wird es auch darum gehen, angemessene Grenzen der eigenen Verfügbarkeit und Erreichbarkeit zu setzen und zu kommunizieren, um Situationen der (Selbst-)Überforderung zu vermeiden. Zwar bietet die moderne Arbeitswelt sehr viele Möglichkeiten für Eigeninitiative und Selbstorganisation - ja fordert diese auch ein. Gleichzeitig müssen die Individuen aber auch in der Lage sein, die für den Einzelnen jeweils tragbaren Grenzen zu erkennen und zu artikulieren. Bei der Entwicklung solcher Kompetenzen sind die betrieblichen Rahmenbedingungen und die Verantwortlichkeit der Unternehmen und ihrer Führungskräfte den Mitarbeitern gegenüber natürlich sehr wichtig. Schulungen und Coaching sind dafür hilfreich, können jedoch eigenständige Bemühungen der Individuen um entsprechende Kompetenzen nicht ersetzen.
Zusammenfassung
In jüngster Vergangenheit wird vermehrt über eine Entgrenzung der Arbeitswelt und deren mögliche negative Wirkungen auf die Erwerbstätigen diskutiert. Dies gilt für das Wachstum sogenannter atypischer Arbeitsverhältnisse auf der einen Seite und für die stärkere Durchdringung von Arbeit und Freizeit auf der anderen. Wie lässt sich diese wachsende Flexibilität der Arbeit empirisch bewerten?
In Deutschland hat die Liberalisierung flexibler oder atypischer Beschäftigungsformen zu einem Zuwachs an Arbeitsplätzen beigetragen. Zeitarbeit, Minijobs, aber auch befristete und selbständige Tätigkeiten sind in bestimmten Teilbereichen des Dienstleistungssektors besonders stark vertreten. Gleichzeitig ist eine erstaunliche Stabilität der sogenannten Normalarbeitsverhältnisse, also unbefristeter Vollzeitarbeit feststellbar - sowohl im industriellen Sektor als auch in vielen Dienstleistungsberufen. Teilweise verbirgt sich dahinter eine verstärkte Arbeitsteilung zwischen den Unternehmen über Zuliefernetzwerke und Werkverträge.
In den 2000er-Jahren fand im Großen und Ganzen eine Ergänzung der stabilen Beschäftigungsverhältnisse statt, weniger eine Verdrängung. Daneben hat die innerbetriebliche Flexibilität zugenommen, wovon auch die Erwerbstätigen in stabilen Arbeitsverhältnissen berührt sind. Dies gilt für flexiblere Formen der Entlohnung ebenso wie für flexiblere, teilweise auch ungewöhnliche Arbeitszeiten und flexiblere Formen der Arbeitsorganisation. Begünstigt durch technologische Entwicklungen haben mobiles Arbeiten und die Erreichbarkeit außerhalb der üblichen Arbeitszeiten für bestimmte Berufsgruppen und Führungskräfte zugenommen. Gleichzeitig gibt es Anzeichen für eine zunehmende Arbeitsverdichtung.
Für die Zukunft können wir eine weitere Flexibilisierung der Arbeitswelt erwarten, vorangetrieben insbesondere durch sektoralen Wandel, durch technologische Innovationen und einen immer globaleren Wettbewerb in vielen Bereichen der Wirtschaft. Damit werden auch in einem flexiblen institutionellen Rahmen die Arbeitsbedingungen und Arbeitsverhältnisse stärker Angebot und Nachfrage nach bestimmten Qualifikationen widerspiegeln. Risiken verlagern sich so stärker auf die Individuen. Im Zuge des demografisch bedingten Fachkräftemangels werden die Unternehmen für begehrte Fachkräfte mehr Anstrengungen unternehmen, um attraktive Arbeitsbedingungen zu bieten und den Präferenzen der Beschäftigten zu entsprechen.
Empirische Daten zeigen, dass die Arbeitszufriedenheit in Deutschland insgesamt nicht zurückgegangen ist - trotz der Umwälzungen am Arbeitsmarkt und in der betrieblichen Arbeitswelt. Aus der wachsenden Vielfalt und Flexibilität der Arbeit ergeben sich neue Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Familie, Privatleben und Beruf. Jedoch erfolgt gleichzeitig eine stärkere Zuschreibung psychischer Beschwerden an die Veränderungen in der Arbeitswelt. Die Forschung zeigt: Selbst gestaltbare Arbeitszeiten und Arbeitsabläufe, also Autonomie und Eigenverantwortung, tragen in Verbindung mit guten sozialen Beziehungen und klaren Erwartungen am Arbeitsplatz zu höherer Arbeitszufriedenheit bei. Dies kann jedoch auch zu Situationen der Überlastung führen.
Die weitere Entwicklung des flexiblen Arbeitens hängt davon ab, welche gestaltenden Schritte die verschiedenen Akteure ergreifen. Dabei sollte zwischen der Politik, der betrieblichen Ebene, den Sozialpartnern und den Individuen unterschieden werden. Die Politik muss dafür sorgen, dass der Arbeitsmarkt flexibel bleibt und sich dynamisch an veränderte gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen anpassen kann. Parallel dazu dürfen aber die Regelungen für verschiedene Erwerbsformen nicht zu sehr divergieren. Das spricht für eine Überprüfung und Anpassung der Regeln, die am Rand des Arbeitsmarktes gelten. Daneben steht auch der Arbeits- und Gesundheitsschutz vor der Aufgabe, den gewandelten Anforderungen der flexibleren Arbeitswelt gerecht zu werden.
Zentrale Entwicklungen der Arbeitswelt werden auf der Ebene der Unternehmen gestaltet. Angesichts knapper werdender Fachkräfte, längerer Erwerbsbiografien und wachsender Anforderungen an Innovation und Wettbewerbsfähigkeit werden sie in Zukunft versuchen müssen, attraktive Arbeitsbedingungen mit flexiblen, produktiven und dauerhaft tragfähigen Organisationsformen zu verbinden. Das hat unmittelbare Implikationen für die Personalpolitik, die Arbeitsorganisation und für die interne ebenso wie die externe Führung und Kooperation. Zentral sind die Vereinbarkeit von individuellen und betrieblichen Anforderungen und die Vermeidung von Überlastungssituationen und frühzeitigem Verschleiß.
Weiterbildung und betriebliche Gesundheitspolitik werden an Bedeutung gewinnen. Hier können auch die Betriebsräte und die Sozialpartner auf Ebene der Branchen oder Regionen eine wichtigere Rolle übernehmen - zusätzlich zu den Vereinbarungen über die Arbeitsbedingungen, wie sie traditionell in den Kernbereichen der Wirtschaft in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen niedergelegt sind. Schließlich wachsen auch die Anforderungen an jeden Einzelnen, sich in der Arbeitswelt der Zukunft erfolgreich zu behaupten. Dies gilt insbesondere für die individuelle Fähigkeit, mit den Möglichkeiten und Zumutungen einer offenen und flexibleren Arbeitswelt umzugehen, Eigeninitiative zu entwickeln, aber (Selbst-)Überforderung zu vermeiden und in den neuen Strukturen die eigenen Grenzen und Präferenzen zu artikulieren.
Zitate
"Die Forschung zeigt: Selbst gestaltbare Arbeitszeiten und Arbeitsabläufe, also Autonomie und Eigenverantwortung, tragen in Verbindung mit guten sozialen Beziehungen und klaren Erwartungen am Arbeitsplatz zu höherer Arbeitszufriedenheit bei." Werner Eichhorst, Verena Tobsch: Flexible Arbeitswelten
changeX 25.04.2014. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Kurzfassung der Studie "Flexible Arbeitswelten. Bericht an die Expertenkommission Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland" der Bertelsmann-Stiftung. Folge 5 basiert auf den Abschnitten 6.3, 6.4 und 7; Abbildungen und Literaturnachweise finden Sie dort.Flexible Arbeitswelten
Autor
Werner EichhorstDr. Werner Eichhorst ist Direktor für Arbeitsmarktpolitik Europa am IZA - Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit in Bonn. Er studierte Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie und Verwaltungswissenschaften und promovierte 1998 an der Universität Konstanz. Bis 2004 war er Projektleiter bei der Bertelsmann Stiftung, dann am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg tätig. 2005 kam er ans IZA, wo er von 2007 bis 2013 Stellvertretender Direktor Arbeitsmarktpolitik war. Er ist Mitglied der Expertenkommission "Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland" der Bertelsmann Stiftung.
Autorin
Verena TobschVerena Tobsch ist Gründerin des Instituts für Empirische und Aktuelle Wirtschaftsforschung E·x·AKT in Berlin. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre war sie bis 2012 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Personalwesen und Internationales Management der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.