Flexibilität mit vielen Gesichtern

Flexible Arbeitswelten - Folge 1
Report: Werner Eichhorst und Verena Tobsch

Traditionelle Formen der Beschäftigung und Arbeitsorganisation ändern sich. Nur in welchem Ausmaß und in welcher Geschwindigkeit? Und wohin geht die Entwicklung? Thema einer fünfteiligen Serie, die auf dem Bericht "Flexible Arbeitswelten" basiert. Folge 1: die vielen Gesichter der Flexibilität.

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Der Arbeitsmarkt und die Arbeitswelt in Deutschland befinden sich in einem schon länger andauernden Veränderungsprozess. In der öffentlichen und fachlichen Diskussion wird dieser Vorgang gern mit dem Begriff einer zunehmenden "Flexibilisierung" oder "Entgrenzung" der Arbeit beschrieben. Mit unserem Bericht an die Expertenkommission "Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland" der Bertelsmann Stiftung gehen wir den folgenden Fragen nach: Inwieweit kann wirklich von einer Entgrenzung der Arbeit gesprochen werden? Welche Formen der Entgrenzung oder Flexibilisierung sind von großer oder wachsender Bedeutung? Und: Welche weiteren Veränderungen haben wir für die Zukunft auf der Grundlage der derzeit erkennbaren Entwicklungen und Einschätzungen zu erwarten? Welche Auswirkungen haben die jüngeren Veränderungen in der Arbeitswelt auf die Unternehmen und die Individuen? Schließend wollen wir die Herausforderungen und Handlungsoptionen für Politik, Unternehmen, Sozialpartner und Individuen thematisieren. 

Diese fünfteilige Serie bietet eine Kurzfassung dieser Studie. Ausführlichere Informationen sowie die verwendeten Quellen können der Originalfassung des Berichts entnommen werden; der Link dazu findet sich jeweils in der rechten Spalte.  

In den ersten beiden Folgen der Serie geht es um eine Bestandsaufnahme, die mit einem kurzen Blick in die Zukunft schließt. Folge drei beschäftigt sich dann mit den Auswirkungen der Flexibilisierung auf die Arbeitszufriedenheit. In den beiden abschließenden Folgen stehen die Herausforderungen, Handlungsoptionen und die Gestaltungsmöglichkeiten der beteiligten Akteure im Mittelpunkt.  


Die vielen Gesichter der Flexibilität


Die "Entgrenzung" der Arbeit lässt sich als eine Auflösung traditioneller räumlicher, zeitlicher oder organisatorischer Grenzen von Arbeit verstehen. Insbesondere als Aufweichung und Verschiebung der Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben - mit der Folge, dass sich beide Bereiche durchdringen, wie die beiden Soziologen G. Günter Voß und Karin Gottschall betonen. Die Arbeitsmarktforschung umschreibt dies auch mit dem Begriff "Flexibilisierung". Flexibilität kann sich sowohl auf innerbetriebliche Abläufe als auch auf die Struktur der Unternehmen und ihrer Belegschaften beziehen - dies bedeutet auch hier eine Öffnung tradierter Grenzziehungen. Antriebskräfte für diese Entwicklung sind die Globalisierung, technologische Innovationen, die Flexibilisierung der institutionellen Regeln auf den Arbeitsmärkten sowie der strukturelle Wandel hin zum Dienstleistungssektor - aber auch veränderte Lebenslagen und Präferenzen der Erwerbstätigen. Damit gehen neue Formen flexiblen Arbeitens in einem insgesamt dynamischeren und verschärften Wettbewerb einher. Es ist dabei sinnvoll, zwischen interner und externer Flexibilität zu unterscheiden: zwischen innerbetrieblichen Formen der Flexibilisierung und Entgrenzung auf der einen Seite (interne Flexibilität) und einer Neudefinition der Grenzen von Unternehmen, die sich durch veränderte Beziehungen zwischen dem betrieblichen Kern und einem flexibleren Randbereich ergeben, auf der anderen Seite (externe Flexibilität). Gleichwohl überlagern und beeinflussen sich beide Entwicklungen gegenseitig.


Externe Flexibilität: Auflösung stabiler Erwerbstätigkeit?


Was die "externe" Flexibilität betrifft: Für Deutschland, aber auch für viele andere europäische Staaten ist festzuhalten, dass in den letzten Jahren zahlreiche zusätzliche Arbeitsplätze außerhalb der unbefristeten Vollzeitarbeit, also jenseits der sogenannten Normalarbeitsverhältnisse, entstanden sind. Dies gilt für befristete Arbeitsverträge und verschiedene Formen der Teilzeitarbeit (sozialversicherte Teilzeit und geringfügige Beschäftigung, also Minijobs); aber auch für Zeitarbeit und Selbständigkeit mit abhängig Beschäftigten und ohne abhängig Beschäftigte. Die Gründe dafür liegen im Strukturwandel hin zum oft eher kleinbetrieblich organisierten privaten Dienstleistungssektor, der stärker auf bestimmte externe Flexibilitätsformen angewiesen ist, und in der Verstärkung des Wettbewerbsdrucks in einer zunehmend globalisierten Volkswirtschaft.  

Einen wesentlichen Beitrag hat jedoch auch die Politik geleistet: Durch den Abbau rechtlicher Schranken in den letzten Jahren hat sie die Nutzung bestimmter Formen flexibler Beschäftigung deutlich erleichtert. Das eröffnete den Unternehmen die Möglichkeit, mehr Arbeitsplätze in Form flexibler, oft auch als "atypisch" bezeichneter Arbeitsverhältnisse zu organisieren. Schließlich trägt auch die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen zu einer stärkeren Nachfrage nach Teilzeitjobs bei.  

Gleichwohl ist in Deutschland der Bestand an Normalarbeitsverhältnissen über die letzten zehn Jahre recht stabil geblieben. Das unbefristete Vollzeitarbeitsverhältnis stellt mit etwa 40 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung oder 60 Prozent aller Erwerbstätigen immer noch die bei Weitem vorherrschende Erwerbsform dar. Es wird aber auch deutlich, dass seit Mitte der 2000er-Jahre ein immer größerer Teil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter eine Beschäftigung gefunden hat und die flexiblen Beschäftigungsformen einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet haben. Zugenommen hat insbesondere die sozialversicherte Teilzeitarbeit, die als Normalarbeitsverhältnis mit reduzierter Stundenzahl zu verstehen ist. Aber auch die Zahl der Minijobber sowie - auf nach wie vor relativ geringem Niveau - die der Zeitarbeiter und der Selbständigen ist gestiegen.


Mehr Heterogenität bei den Arbeitsformen und größere Lohnspreizung


Gleichzeitig werden die sogenannten atypischen Beschäftigungsverhältnisse generell geringer entlohnt als vergleichbare unbefristete Vollzeitarbeit. Dies gilt insbesondere für Berufe im privaten Dienstleistungssektor mit mittleren oder geringen Qualifikationsanforderungen. Vor allem, wenn es sich hierbei um einen Minijob oder ein Beschäftigungsverhältnis in der Zeitarbeit handelt. Dies kann zum Teil mit einer geringeren Betriebszugehörigkeit beziehungsweise Berufserfahrung, aber auch mit unterschiedlichen Tätigkeitsprofilen erklärt werden. Wachsende Unterschiede lassen sich laut dem OECD-Bericht von 2013 zur Zukunft der Beschäftigung auch bei der Lohnspreizung unter Vollzeitbeschäftigten beobachten.  

Diese Entwicklungen sind mit der teilweisen Deregulierung des Arbeitsmarktes bei atypischen Arbeitsformen erklärbar; ebenso mit dem Rückgang der Tarifbindung und der Verschiebung hin zum Dienstleistungssektor, der stärker atypische Beschäftigung nutzt und seltener von Tarifverträgen abgedeckt wird. Durch die stärkere Verbreitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse und von Niedriglohnjobs ist der deutsche Arbeitsmarkt insgesamt flexibler und damit aufnahmefähiger geworden.  

Die Beschäftigungsdauer ist in den Betrieben jedoch nicht auf breiter Front zurückgegangen. Daten der OECD zeigen seit dem Jahr 2000 vielmehr eine annähernd konstante Verteilung der Betriebszugehörigkeit mit etwa 60 Prozent an Arbeitnehmern, die über fünf Jahre im Unternehmen sind, und rund 15 Prozent mit einer Zugehörigkeit von weniger als einem Jahr. Gleichzeitig nimmt die durchschnittliche Verweildauer im Betrieb sogar zu. Erklärbar ist dies durch die längeren Beschäftigungsphasen älterer Arbeitskräfte mit längerer Betriebszugehörigkeit, die nicht mehr wie in der Vergangenheit in verschiedene Formen der Frühverrentung wechseln.


Flexible Arbeitsformen: Unterschiede nach Berufen und Wirtschaftszweigen


Auffällig ist schließlich, dass in manchen Sektoren und Berufsgruppen die flexiblen oder atypischen Arbeitsverträge stärker angewachsen sind als in anderen. Bei einigen höher qualifizierten Berufen ist es zu einer Expansion der Beschäftigtenzahl gekommen, wobei der Anteil atypischer Jobs konstant oder rückläufig war. Zugleich ging bei vielen Berufen des privaten Dienstleistungssektors die Entstehung zusätzlicher Arbeitsplätze mit einem wachsenden Anteil atypischer Arbeitsplätze einher.  

Wo die Berufsgruppen schrumpfen, lassen sich Bereiche mit stabiler Struktur der Arbeitsverträge von solchen mit stärkerer Verlagerung in atypische Beschäftigung unterscheiden. Die Zunahme von Jobs außerhalb des Normalarbeitsverhältnisses gilt insbesondere für hoch qualifizierte, kreative Bereiche (Selbständigkeit ohne Angestellte), für das Gesundheits- und Sozialwesen, den akademisch-wissenschaftlichen Bereich (Teilzeit, Befristungen), einfachere Tätigkeiten im Dienstleistungssektor (Minijobs) sowie für die verarbeitende Industrie (Zeitarbeit). In vielen anderen Bereichen des mittleren und höheren Qualifikationssegments ist eine auf Dauer angelegte Beschäftigung in Vollzeit nach wie vor sehr verbreitet. Die Bedeutung atypischer oder niedrig entlohnter Erwerbsformen folgt dabei dem Angebot und der Nachfrage nach Arbeitskräften mit den jeweiligen Qualifikationen. Sie wird aber auch von der Rolle sektoraler Tarifpartner und gesetzlichen Regelungen beeinflusst.  


Wachsende Zergliederung der Wertschöpfungsketten


Die wachsende Zergliederung der Wertschöpfungsketten führt zu einer Neudefinition der Grenzen von Unternehmen. Sie greifen in bestimmten Bereichen vermehrt auf externe Dienstleister über Werkverträge, Selbständige oder Zeitarbeit zurück. Zeitarbeit spielt vor allem eine Rolle bei der Auslagerung von gewerblichen Tätigkeiten in der verarbeitenden Industrie, die unter hohem Kosten- und Wettbewerbsdruck stehen. Daneben gibt es deutliche Hinweise auf eine stärkere Verlagerung von anspruchsvolleren und spezialisierten Tätigkeiten an externe Dienstleister im Zuge von Werkverträgen. Das gilt zum Beispiel für die Bereiche Forschung und Entwicklung, IT, Beratungs- und Finanzdienstleistungen und andere hoch qualifizierte Tätigkeitsfelder, aber auch für Bereiche wie Logistik, Facility-Management und Teile der gewerblichen Produktion. Auch in diesen Bereichen entstehen Normalarbeitsverhältnisse mit teilweise durchaus vergleichbar guten Arbeitsbedingungen - nur eben nicht in direkter Anstellung beim Kunden. Daneben gibt es jedoch auch Hinweise auf eine stärkere Verlagerung einfacher Tätigkeiten im Dienstleistungssektor auf Werkvertragsnehmer. Freiberufliche Tätigkeiten durch Selbständige ohne Angestellte expandieren in bestimmten hoch qualifizierten Bereichen wie Medien, Beratung und IT. Das bedeutet auch ein substanzielles Wachstum von Dienstleistungen für Unternehmen, wie es in der Statistik der Wirtschaftszweige erkennbar wird. Auslagerungen aus dem verarbeitenden Gewerbe (und aus privaten Haushalten) tragen maßgeblich zum Wachstum des privaten Dienstleistungssektors bei.  

Mehrere Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von einem Wachstum der "Projektwirtschaft", bei der mehr und mehr Unternehmen Tätigkeiten auslagern und diese von spezialisierten Zulieferbetrieben oder freien Mitarbeitern erstellen lassen ("buy" statt "make") - und zwar dann, wenn die notwendigen Humanressourcen auf dem externen Markt günstiger, flexibler einsetzbar oder leichter verfügbar sind als im eigenen Unternehmen. Somit wachsen die Anteile in- und ausländischer Vorleistungen im Zuge der Restrukturierung von Wertschöpfung. Unternehmen sind im Inland und im Ausland zunehmend mit komplexeren Wertschöpfungsketten und -netzwerken verbunden. Fest abgegrenzte Unternehmen lösen sich also zumindest in bestimmten Bereichen tendenziell auf. Sie schaffen innerhalb und außerhalb größere Netzwerke zum Austausch von Teilerzeugnissen oder Dienstleistungen.  


Zitate


"Durch die stärkere Verbreitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse und von Niedriglohnjobs ist der deutsche Arbeitsmarkt insgesamt flexibler und damit aufnahmefähiger geworden." Werner Eichhorst, Verena Tobsch: Flexible Arbeitswelten

"Die wachsende Zergliederung der Wertschöpfungsketten führt zu einer Neudefinition der Grenzen von Unternehmen." Werner Eichhorst, Verena Tobsch: Flexible Arbeitswelten

"Unternehmen sind im Inland und im Ausland zunehmend mit komplexeren Wertschöpfungsketten und -netzwerken verbunden. Fest abgegrenzte Unternehmen lösen sich also zumindest in bestimmten Bereichen tendenziell auf." Werner Eichhorst, Verena Tobsch: Flexible Arbeitswelten

 

changeX 28.03.2014. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autor

Werner Eichhorst
Eichhorst

Dr. Werner Eichhorst ist Direktor für Arbeitsmarktpolitik Europa am IZA - Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit in Bonn. Er studierte Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie und Verwaltungswissenschaften und promovierte 1998 an der Universität Konstanz. Bis 2004 war er Projektleiter bei der Bertelsmann Stiftung, dann am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg tätig. 2005 kam er ans IZA, wo er von 2007 bis 2013 Stellvertretender Direktor Arbeitsmarktpolitik war. Er ist Mitglied der Expertenkommission "Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland" der Bertelsmann Stiftung.

Autorin

Verena Tobsch
Tobsch

Verena Tobsch ist Gründerin des Instituts für Empirische und Aktuelle Wirtschaftsforschung E·x·AKT in Berlin. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre war sie bis 2012 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Personalwesen und Internationales Management der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

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