Sag mir dein X
Im offenen Kursformat von ChallengeX arbeiten die Teilnehmer gemeinsam an den Herausforderungen, die sie bewältigen möchten: ihrem X. Das Ziel: neue Perspektiven zu erschließen, zum Handeln kommen. Das Kursformat zeigt, welche unerschlossenen Potenziale zwischen Menschen liegen.
Es ist eine der anspruchsvollsten Aufgaben an diesem Wochenende. In Zweiergruppen sitzen die 14 Seminarteilnehmer zusammen. Ihre Aufgabe: Dem anderen sagen, wie sie sein Thema wahrnehmen und beurteilen, das er gerade gut fünf Minuten von allen Seiten beleuchtet hat: sein "X", die Herausforderung, an der er an diesem Wochenendseminar arbeitet. Zwei Minuten freie Rede über eine wichtige Frage im Leben einer Person, mit der sie gerade mal ein paar Stunden zusammen im Kurs verbracht haben. Die meisten Teilnehmer sind einander vorher noch nie begegnet. Sie waren auch noch nicht zusammen in einer der Arbeitsgruppen, die nach dem Zufallsprinzip durchgemischt werden. Sie kennen einander nur von den Plenumsdiskussionen und der Vorstellungsrunde, bei der jeder sein Thema vorgestellt hat, haben vielleicht ein paar Worte in der Kaffeepause gewechselt. Mehr nicht. Und nun sollen sie zwei Minuten über das Thema einer - ja: fremden - Person sprechen. Das soll klappen? Soll mehr zutage fördern als ein paar Allgemeinplätze? Ein paar Floskeln wie: dass man natürlich nachvollziehen könne, wie wichtig und wie einschneidend das Thema sei?
Ulrike (Namen geändert) macht eine kurze Pause. Schaut Clemens an. Und beginnt zu sprechen. In ruhigen Worten beschreibt sie ihre Wahrnehmung. Clemens ist Architekt und unzufrieden mit seinem Job. Er möchte einen Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel leisten und die energetische Sanierung von Altbauten vorantreiben. Weil das in seiner Arbeit zu kurz kommt, überlegt er, ob er sich wieder selbständig machen soll. Aber hat er die Möglichkeiten in seiner Firma überhaupt eruiert?, fragt Ulrike. Weiß sein Arbeitgeber von seinem Wunsch? Kann er seiner Firma vielleicht sogar ein neues Geschäftsfeld erschließen, indem er sein Wissen und Know-how einbringt? Clemens schaut überrascht - darüber hatte er in der Tat noch nicht nachgedacht. Für ihn öffnet sich eine neue Perspektive.
Keine Selbsterfahrungsgruppe
Es ist nur eine von mehreren Aufgaben, mit denen die Teilnehmer in Gruppen unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung konfrontiert sind. Es geht um Gespräch, Wahrnehmung, Analyse, auch Arbeit mit Buntstiften. Oder aber die Aufgabe vom Sonntagvormittag, die sicher auch zu den schwereren gehört: Dem jeweils anderen sagen, welche Qualitäten man an ihm wahrnimmt - auch das eine Übung, die, so möchte man meinen, wohl künstlich oder oberflächlich bleibt. Doch ist es überraschend, wie präzise und treffsicher die Urteile ausfallen, die die Teilnehmer übereinander abgeben. Das ist der Tenor, als die Teilnehmer anschließend wieder in der großen Gruppe zusammensitzen. "Offenbar haben wir Antennen füreinander, von denen wir nichts wissen, von denen wir jedenfalls bewusst keinen Gebrauch machen", sagt einer und erntet reihum Kopfnicken. Doch hätte man auch negative Eigenschaften so offen angesprochen? Auch diese Frage klingt kurz an - aber wahrscheinlich geht es darum gar nicht. Sondern diejenigen Eigenschaften eines anderen zu identifizieren, die eine Zusammenarbeit, eine Kooperation möglich und gewinnbringend erscheinen lassen.
Alles andere haben die Teilnehmer, die aus ganz unterschiedlichen beruflichen und privaten Kontexten stammen, wahrscheinlich ohnehin zu Hause gelassen. Denn darum geht es an den anderen beiden Tagen ja: miteinander an den eigenen Herausforderungen zu arbeiten. Im Gespräch mit anderen mehr über "sein" Thema zu erfahren. Neue Perspektiven zu gewinnen, die dieses Thema in einem anderen Licht erscheinen lassen. Die einen weiterbringen.
Dennoch ist es keine Selbsterfahrungsgruppe, die da zusammensitzt. Es ist ein offener Kurs der Münchner Beratergruppe Herrmann & Associates. "ChallengeX Forum" nennt sich das zweitägige Kursangebot - und das "X" ist Programm: Es steht als Platzhalter für das Thema, das jeder Teilnehmer mitgebracht hat. X, das ist dein Thema, stell es vor, sprich mit anderen darüber, arbeite daran!, so könnte man den Grundgedanken dieses Kurskonzepts beschreiben. Es ist nicht Coaching, nicht Beratung, nicht Anleitung zum Bessermachen, im Mittelpunkt steht vielmehr Kooperation. Menschen können, wenn sie sich aufeinander einlassen, wenn sie miteinander arbeiten und sich füreinander öffnen, eine neue Stufe der Zusammenarbeit erreichen: Die anderen helfen dabei, das eigene Thema präziser zu sehen, und gewinnen selbst einen neuen Blick auf die eigene Fragestellung. Man ist ganz bei den anderen und doch ganz bei sich. Worum es geht, könnte man auch so beschreiben: Das Bewusstsein, das sich beim Kreisen um ein Problem in den eigenen Denkschleifen verfangen hat, mit neuen Impulsen zu versorgen, so neue Blickwinkel auf die bekannte Frage zu eröffnen und zugleich die tieferen Schichten des Unbewussten für das Finden einer Antwort zu aktivieren. Das alles bedarf der Impulse von außen, von anderen. Der Kurs sei "eine Plattform des Miteinanderarbeitens", sagt Martin Herrmann, der Architekt des Programms und Kopf der Beratergruppe Herrmann & Associates. Eine klare Struktur, klare Aufgaben und präzise Vorgaben - zum Beispiel eine(r) redet fünf Minuten lang, der/die andere hört zu - schaffen einen klaren Bezugsrahmen. "Das ist für viele Leute ungewohnt", sagt Herrmann, "führt aber dazu, dass man Erfahrungen macht, die wirklich neu sind." Die Struktur öffnet für die Erfahrung.
Handeln ins Ungewisse hinein
Man muss aber etwas weiter ausholen, muss auch den theoretischen Background kennen, um das Seminarkonzept verstehen zu können. Es ist auch keine simple Drei-Buchstaben-Theorie mit integrierter Problemlösungsgarantie, wie sie einem in der Coaching-Szene immer wieder begegnet. Es ist gerade keine Anleitung zum Lösen eines Problems. Vielmehr ist der konsequente Verzicht auf Ratschläge durch die Seminarleiter das Herzstück des Konzepts. "Die Aufgabe der Seminarleiter besteht darin, die Teilnehmer zu unterstützen, zu einer Vielzahl von qualitativen Perspektiven zu kommen. Daraus entwickeln sich dann Handlungsschritte von alleine", sagt Martin Herrmann, der gar nicht den Versuch macht, dieses Seminarkonzept auf eine griffige Formel zu bringen. Er sieht vor allem zwei Quellen, aus denen sich das Konzept speist. Da sind einmal Organisationstheoretiker, die die Erkenntnisse der Komplexitätsforschung für die Arbeit in Organisationen nutzbar gemacht haben, Richard Pascale, Douglas Griffin und Ralph Stacey insbesondere. Und da ist Hannah Arendt, deren handlungsorientierte Philosophie Martin Herrmann wohl am tiefsten geprägt hat. Handeln heißt, "selbst einen neuen Anfang zu machen", diese Einsicht Arendts ist wohl die kürzestmögliche Beschreibung dessen, worum es geht: Diesen neuen Anfang finden - durch neue Perspektiven. "Grüße von Hannah" gibt Martin Herrmann dann auch gerne an die Seminarteilnehmer weiter: kleine Einsichten aus dem Werk der Philosophin, die zum jeweiligen Thema eines Teilnehmers passen. Und eben: Einen neuen Blickwinkel darauf eröffnen.
Doch was heißt Handeln? Hierfür ist eine Unterscheidung zentral, die Herrmann dann auch gleich zu Beginn seiner Einleitung am Anfang des Kurses einführt: die zwischen instrumentellen und adaptiven Herausforderungen. "Technische Herausforderungen sind dadurch charakterisiert, dass gekonnte Anwendung bestehender Techniken und Methoden zum Erfolg führt", sagt er. "Adaptive Herausforderungen haben es mit der Bewältigung vieler nicht linearer Faktoren zu tun." Hier helfen die bekannten Methoden und Techniken nicht weiter. Hier braucht es neue Herangehensweisen; hier ist eine Weiterentwicklung des Handlungsrepertoires der Beteiligten gefordert. Und deshalb ist die Vielfalt an Perspektiven so wichtig. Und die Bereitschaft, Zukunft als offen zu akzeptieren. "Handeln ins Ungewisse hinein" hat das Hannah Arendt genannt.
Instrumentell versus adaptiv
Zentral wird diese Unterscheidung instrumentell - adaptiv vor allem dann, wenn Handeln im falschen Bezugsrahmen stattfindet. Zum Beispiel, wenn man zu improvisieren beginnt, obgleich es für eine bestimmte Herausforderung längst eine allgemein akzeptierte (instrumentelle) Lösungsmethode gibt. Oder aber, umgekehrt, wenn man adaptive Herausforderungen mit instrumentellen Lösungsverfahren angeht. Wie vielfach im Management. "Das Problem besteht darin, dass die adaptiven Anteile negiert werden", sagt Martin Herrmann. "Das bestimmende Paradigma innerhalb der Managementwissenschaft identifiziert sich mit einer technischen Sicht auf bestehende Herausforderungen."
Deswegen eignet sich das Programm nicht nur für offene Gruppen wie die, die an diesem Wochenende zusammengekommen ist, sondern auch für die Arbeit in Organisationen. Herrmann will das Profil schärfen, indem er zwei Angebote unterscheidet: "ChallengeX Foren" sind offene Kurse "für Menschen, die voll im Leben stehen und engagiert sind". Die "ChallengeX Leadership Foren" hingegen richten sich an Menschen mit Führungsverantwortung in Unternehmen, im öffentlichen Dienst oder in großen Freiwilligenorganisationen, die die Methode zur eigenen Weiterbildung und Organisationsentwicklung einsetzen wollen. Zwei Praktiker, die damit in ganz unterschiedlichen Kontexten Erfahrung sammeln konnten, sind beim Kurs an diesem Wochenende als Co-Moderatoren mit dabei.
Susanne Vogel ist Fachärztin für Innere Medizin und Palliativmedizin und leitet die Palliativstation des Klinikums Neumarkt in Neumarkt in der Oberpfalz. Sie hat sich in der ChallengeX-Methode ausbilden lassen und setzt diese in ihrer Tätigkeit gezielt ein. "Es ist eine sehr elegante, ja faszinierende Methode, um in Erfahrungsaustausch zu kommen und von anderen zu lernen, sowohl für den Umgang mit Patienten wie auch für die Kommunikation mit Professionellen", sagt sie. Gerade in der Palliativmedizin, wo Ärzte und Schwestern unmittelbar mit dem Sterben konfrontiert sind, sei der Austausch über die eigenen Ängste wichtig. Zu lernen, "dass die Ängste, die man selber hat, auch bei Kollegen auftreten können", ist eine wichtige Erfahrung, die freilich sensible emotionale Bereiche berührt, wie Susanne Vogel sagt. Das Kurskonzept ermöglicht es ihr, in ihrer Weiterbildungstätigkeit in Palliative Care diesen Erfahrungsbereich zu thematisieren, "ohne jemandem zu nahe zu treten - weil jeder stets selbst bestimmen kann, wie viel er von sich preisgibt", betont die Ärztin, die die Methode mehrmals im Jahr in Fortbildungen für Kollegen nutzt. Sie schätzt besonders, dass die Teilnehmer schnell ins Gespräch kommen und sofort ein gutes Miteinander entsteht.
Das ist auch die Erfahrung von Gerhard Mayrhofer, der die Methode in seiner aktiven Zeit als Topmanager als Instrument eingesetzt hat, um den Wandel in seiner Organisation, einem großen Telekommunikationsunternehmen, voranzubringen. Er war damals Vorstand Vertrieb und hatte sich zum Ziel gesetzt, die bislang sehr hierarchisch geprägte, 2.000 Mitarbeiter umfassende Vertriebsorganisation des Unternehmens in eine "lebendige Organisation" umzubauen, und zwar "nicht top-down, sondern bottom-up", wie er sagt. Über ein Jahr hinweg fanden in den Regionen Workshops nach der ChallengeX-Methode statt. Dort arbeitete man an konkreten Herausforderungen und setzte die gefundenen Lösungen dann anschließend sofort um. "Das hat viel Miteinander erzeugt", erinnert sich Mayrhofer, der heute freiberuflich tätig ist. Er schätzt die vertrauensvolle Atmosphäre, die durch das wechselseitige Reden und Zuhören entsteht. "Man kommt schnell in die Lage, über Dinge zu reden, über die man sonst nicht reden würde", sagt er. "Und man kommt schnell zum Punkt."
Die Potenziale liegen zwischen Menschen
Das zeigt sich auch bei der Arbeit an diesem Wochenende. Obwohl die Teilnehmer nichts miteinander zu tun haben, aus ganz unterschiedlichen Kontexten stammen und ganz unterschiedliche Herausforderungen mitgebracht haben, wird konzentriert gearbeitet und diskutiert. Da ist der Student, der überlegt, wie er seine Zukunft gestalten wird. Da ist der Leiter einer Palliativstation, der wie seine Kollegin Susanne Vogel das Gespräch zwischen Mitarbeitern voranbringen will. Die Leiterin einer Freiwilligenagentur, die mit den kommunalen Trägern um Kompetenzen ringt. Oder der Manager eines anderen großen Telekommunikationsunternehmens, der seine Führungsaufgabe mit dem Respekt vor der Eigenverantwortung seiner Mitarbeiter in Einklang bringen möchte. Oder eben Clemens, der Architekt, der nicht weiß, ob er fest angestellt bleiben oder wieder selbständig arbeiten soll. So unterschiedlich ihre Themen sind, so sehr zeigt sich jedoch auch, dass ein gemeinsames Gespräch darüber nicht nur möglich ist, sondern - gerade wegen der Unterschiedlichkeit der Sichtweisen - neue Blickwinkel auf x-mal Durchdachtes, Gedrehtes und Gewendetes eröffnet. So strahlen nicht wenige der Resümees in der Abschlussrunde die Gewissheit aus, mit dem eigenen X ein gutes Stück vorangekommen zu sein - jetzt geht es darum, wie eine Teilnehmerin sagt, den Veränderungsimpuls in den Alltag zu übertragen. Clemens jedenfalls vermittelt den Eindruck, dass er das hinbekommen wird. Bei ihm ist sprichwörtlich der Knoten geplatzt; er hat die neue Perspektive auf sein Thema gleich in einen konkreten Fahrplan umgesetzt: Mit dem Arbeitgeber reden und je nach Verlauf dieses Gesprächs die Weichen in Richtung Job oder Selbständigkeit stellen - in jedem Fall mit Schwerpunkt Gebäudesanierung und Emissionsminderung.
Die große Frage aber, die diese zwei Tage aufwerfen, ist allgemeiner. Wenn zwischen Menschen, die nichts miteinander zu tun haben (davon mal abgesehen, dass sie den gleichen Kurs besuchen), eine solch intensive Kooperation entsteht, was ist dann in Organisationen möglich, in denen Menschen dauerhaft zusammenarbeiten? Welch unerschlossene Ressourcen kann man hier heben? Die Potenziale, so scheint es, liegen zwischen den Menschen.
changeX 12.11.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.