Kultur des Ermöglichens

Visualisierung ist mehr als bunte Bilder - ein Interview mit Holger Scholz und Guido Neuland
Von Winfried Kretschmer

Die Konferenz EuViz 2014 bringt im Sommer Visualisierungspraktiker aus aller Welt nach Berlin. Die beiden Organisatoren sprechen im Interview über die Konferenz, über die Szene der Visualisierer und aktuelle Trends in Sachen Visualisierung. Und warum es um mehr geht, als um bunte Bilder.

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Vor vier Jahren waren sie in den USA das erste Mal dabei, und nach zwei weiteren Konferenzen war der Entschluss gereift, die Veranstaltung nach Deutschland zu holen. Holger Scholz und Guido Neuland veranstalten in diesem Sommer die European Conference for Visual Thinkers, Practitioners, Graphic Recorders and Facilitators in Berlin.
Holger Scholz, Certified Professional Facilitator, ist Geschäftsführer der Kommunikationslotsen Scholz & Vesper GmbH & Co. KG. Guido Neuland ist Marketing- und Vertriebsleiter der Neuland GmbH & Co. KG.
 

Ihr habt die EuViz nach Deutschland geholt. Was ist das Ziel? 

Guido: Mit der Idee, die Konferenz aus den USA nach Europa zu holen, haben wir uns recht weit aus dem Fenster gelehnt. Die Erwartungen sind hoch. Jetzt gilt es, eine rundum perfekte Konferenz "hinzulegen". Zum anderen wollen wir Visualisierung in Deutschland und Europa noch bekannter machen und den Grundstein für eine breitere Auseinandersetzung mit dem Thema legen. Obwohl es bereits in einigen Medien für Furore sorgt, ist es in weiten Kreisen noch unbekannt. Zu guter Letzt geht es für mich ganz persönlich darum, drei spannende Tage mit Freunden und vielen interessanten Menschen aus aller Welt zu verbringen.
 

Wer kommt zum Beispiel? 

Guido: Es kommen viele "Größen" aus der Szene und auch vielversprechende Newcomer - und zwar aus der ganzen Welt. Viele kommen natürlich aus den USA und Kanada - kein Wunder, schließlich hat die Methode dort ihre Wurzeln. Besonders freut uns, dass David Sibbet dabei ist, der Ende der 1970er-Jahre in der Bay Area San Francisco den Grundstein für das legte, was wir heute Graphic Facilitation nennen. Aber auch aus Südamerika, Afrika, Israel, Japan, China, Singapur, Australien, Neuseeland und aus vielen Teilen Europas kommen Menschen nach Berlin zur EuViz.
 

Die Breite des Feldes zeigt sich bereits im Titel - von Visual Thinkers bis Facilitators. Welche unterschiedlichen Strömungen werden auf der Konferenz vertreten sein? 

Holger: Zunächst werden natürlich viele Visualisierer auf der EuViz sein. Versteht man Visualisierung allerdings als Fertigkeit, die allen Menschen und Berufsgruppen nutzen kann, dann ergibt sich ein sehr viel differenzierteres Bild: Consultants, Projektleiter, Changemaker, Prozessbegleiter und Führungskräfte arbeiten zunehmend visuell und denken auch visuell - das ist die eigentliche Revolution. Menschen aus diesen Bereichen treffen sich auf der EuViz: aus der agilen Community, Scrum-Master, Design Thinker, Experten für Kanban und Business Model Generation. Und wer visualisiert und visuell denkt, beschäftigt sich mit mentalen Modellen, zum Beispiel in Führung und Management. So wird David Sibbet, Begründer der visuellen Zunft aus den USA, in Dialogforen mit Interessierten über diese mentalen Modelle sprechen, um nur ein paar Beispiele zu nennen.
 

Es gibt also auch Dialog- und Beteiligungsformate? 

Holger: Wir bieten nicht nur Workshops an, in denen Experten anderen eine Technik oder Erkenntnis vermitteln. Die Tracks bestimmen einen Großteil des Programms. Hier sind alle Experten und erkunden gemeinsam ein Thema, wie zum Beispiel im Education-Track die Fragen "Wo und wie findet Visualisierung derzeit in der Aus- und Fortbildung, in der Schule und im Trainingsbereich statt? Was sind die Muster, die sich erkennen lassen? Welche Möglichkeiten zeichnen sich für die Zukunft bereits ab?". Analog dazu gibt es parallele Tracks zu den Themen Business, Entrepreneurship, Mental Models und Methodologies.
 

Visualisierung hat sich zu einem mächtigen Trend entwickelt - ist die Dominanz von Powerpoint zu Ende? 

Holger: Ein Tool oder eine Applikation wie Powerpoint ist weder gut noch schlecht. Es kommt darauf an, wie man damit arbeitet. Was auf der Ebene von Tools, Vorgehensweisen und Methoden geschieht, ist immer eine Frucht dessen, was sich im "Wurzelbereich" entwickelt, also Ergebnis kultureller Entwicklungen. Und dort sehen wir derzeit eine aufkeimende Kultur des Gelingens und Ermöglichens. Wir nennen das Facilitation.
Hier liegt der Zusammenhang zur Visualisierung: International wird das als "Visual Facilitation" bezeichnet. Es ist Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Shifts, den wir erleben und mitgestalten können: weg von Exklusivrechten und künstlicher Machterhaltung Einzelner hin zu natürlicher Hierarchie, Transparenz, Unmittelbarkeit und Collaboration auf Augenhöhe. Visualisierung ist eine Philosophie und ein Tool, das genau dafür steht.
Erstens: Jeder kann es verstehen - und zwar unmittelbar.
Zweitens: Jeder kann es lernen und anwenden - sogar zeitgleich in einem Meeting als visueller Dialog oder Austausch.
Drittens: Jeder bekommt es im Hier und Jetzt mit - sozusagen in Realtime. Es werden keine Folien ausgetauscht, zurechtgestutzt, weggeklickt oder verändert.
Visualisierungen verstehe ich als eine Partitur neuer Formen der Führung und der Zusammenarbeit.
 

Powerpoint steht aber für eine andere Kultur ... 

Guido: Es scheint aktuell sehr in Mode zu sein, auf Powerpoint einzuschlagen. Da mache ich nicht so gerne mit. Powerpoint ist ein Werkzeug wie andere auch. Vermutlich wurde es in vielen Fällen auch einfach nur falsch eingesetzt - weil es so einfach zu bedienen ist. Richtig angewandt kann es vermutlich durchaus positive Resonanz erzeugen.
Entscheidend ist vielmehr, ob etwas Vorbereitetes "abgespult" wird oder aber die Teilnehmer am Prozess beteiligt werden. Wer sich nicht beteiligt fühlt, schaltet schnell ab, ganz gleich ob Powerpoint oder vorbereitete Flipchart-Plakate.
Schon in der klassischen Moderation ging es essenziell darum, "Betroffene zu Beteiligten zu machen". Das gilt auch heute noch - nur dass die Informationsdichte heute um ein Vielfaches größer ist als zu den Anfangszeiten dieser beteiligungsorientierten Methode. Visualisierung richtig eingesetzt hilft, aus der Informationsflut ein Informationskonzentrat zu erzeugen. Nur wer geistig folgen kann, schaltet nicht ab - und da ist die "Entschleunigung" durch in Echtzeit entstehende Visualisierungen extrem hilfreich. Das Bild entsteht zeitgleich auf der Tafel und in den Köpfen der Teilnehmer. Gerade diese "analoge Komponente" macht einen Teil des Erfolges dieser Methode in unserer digitalen Welt aus.
 

Graphic Recording, Visual Facilitation, Scribing, Visual Thinking - sind das unterschiedliche Begriffe für dieselbe Sache oder verbergen sich hinter den Begriffen unterschiedliche Herangehensweisen? 

Guido: In einigen Punkten streiten darüber selbst die Fachleute in den Vereinigten Staaten. Es gibt keine genormten Begriffe, auch wenn das aus Sicht des Kunden, der Visualisierung als Dienstleistung einkauft, wünschenswert wäre. Hauptstreitpunkt ist die Differenzierung zwischen Graphic Recording und Graphic Facilitation - wobei die Grenzen in der Tat fließend sind. Brandy Agerbeck zum Beispiel bezeichnet das, was sie macht, als Graphic Facilitation, weil sie in ihrer Arbeit durchaus facilitative Elemente integriert. Etwa negative Äußerungen wie "Das hat doch noch nie funktioniert" ins Positive wendet und notiert: "Was müssen wir tun, damit es in Zukunft funktioniert?"
 

Können wir das noch etwas genauer sortieren? 

Guido: Okay, werfen wir einen Blick auf die Begriffe:
"Graphic" und "Visual": Ganz klar, es geht um das Bild, die bildhafte Umsetzung.
"Recording" meint wörtlich "Aufzeichnung" oder "Mitschnitt". Das bedeutet, dass dies in Echtzeit entsteht und nicht vorbereitet werden kann. Ein echter Recorder greift zudem in den Prozess nicht ein - und genau hier entstehen die Nahtstellen zu Graphic Facilitation.
"Facilitation" bedeutet wörtlich übersetzt ja "Erleichterung". Es geht darum, es der Gruppe leicht zu machen, zu einem bestimmten Ziel, zu einer bestimmten Erkenntnis zu kommen. Bei Graphic Facilitation kann der Facilitator die Gruppe aktiv am Prozess beteiligen, indem er sogenannte Templates, vorbereitete bildhafte "Schablonen" einsetzt, die der Gruppe als Ausgangspunkt für ihre "visuelle Reise" durch den Prozess dienen. Selbstverständlich können diese Bilder auch komplett live entstehen.
"Scribing" meint das skizzenhafte Mitzeichnen. Ein "Scribe" ist im eigentlichen Wortsinn ein Schreiberling, ein Kopist. Somit setzt das Wort das Bildhafte nicht voraus, daher bedarf es des Zusatzes "Visual" oder "Graphic".
"Thinking": Klar, hier geht es ums Denken, um die bildhafte Vorstellung, das bildhafte Verstehen. I see what you mean, der Titel von David Sibbets Buch bringt dies auf den Punkt. Visual Thinking ist globaler als die übrigen Begriffe - ist Voraussetzung dafür, dass diese Methoden funktionieren.
Es existieren übrigens noch weitere Begriffe zu dem ganzen Thema - wie zum Beispiel Visual Harvesting, Visual Notetaking, Visual Sketchnoting, Info Doodling ...
 

Was eint die unterschiedlichen Strömungen?  

Guido: Das Bild ist das einigende Element - oder eben das "Visual Thinking". Würde das nicht funktionieren, wäre alles andere nur Schall und Rauch. Der differenzierende Faktor ist aus meiner Sicht die Frage des Nutzens in Verbindung mit einer zeitlichen Komponente: Nutzt es einem Einzelnen oder einer Gruppe? Sofort oder im Nachgang in Form eines Protokolls?
So ist zum Beispiel Visual Sketchnoting eine echte Alternative zu herkömmlichen Notizen. Es nutzt dem, der sich diese Notizen etwa während einer Konferenz anfertigt - er kann diese danach auch mit anderen teilen, etwa per E-Mail oder Internet. Wenn man so will, ist Visual Sketchnoting so etwas wie Graphic Recording im Kleinformat. Beide Methoden greifen in ihrer reinsten Form nicht in den Prozess ein, zumindest ist das die Grundannahme.
Beteiligungsorientierte visuelle Methoden wie Graphic Facilitation hingegen werden in Echtzeit von allen Beteiligten wahrgenommen und leben vom Input aus der Gruppe.
 

Visualisierung hat in den letzten Jahren mächtig an Aufmerksamkeit gewonnen. Hat sich die Methode weiterentwickelt? Gibt es neue Entwicklungen? 

Holger: Ja, die Entwicklung geht hin zu strategisch durchdachten und strukturierten "visuellen Produkten" und "visuellen Prozessen", die sinnhaft in einen größeren Kontext eingebunden sind. In den Anfangsjahren hat man sich damit begnügt, ein Meeting oder eine Konferenz visuell zu protokollieren. Dabei sind viele der bekannten "Wimmelbilder" entstanden, die zum Teil auch ganz beeindruckend und sicherlich als Protokoll hilfreich sind.
In Zukunft wird aber die prozessuale und beratende Kompetenz der Menschen, die Visualisierung einsetzen beziehungsweise damit arbeiten, eine entscheidende Rolle spielen. Wir fragen unsere Kunden: "Was ist das Ziel? Worum geht es? Wer muss beteiligt werden?" Visualisierung ist also nicht nur ein "Endprodukt", das es zu verteilen oder zu veröffentlichen gilt, sondern sie ist ein wichtiges Tool als Ergänzung der Prozessberatung und -begleitung. Hier besteht noch großer Erklärungsbedarf. Zu diesem Zweck gibt es Lernplattformen wie die EuViz.
 

Wie wird die Zukunft aussehen? Welche Trends werden die Entwicklung prägen? 

Holger: Visualisierung hat das Zeug zur neuen Weltsprache. Der Trend geht meines Erachtens dahin, dass alle Menschen Visualisierung als persönliche Fertigkeit entwickeln und tagtäglich nutzen werden - nicht als Kunst oder gar Kunstobjekt. Sondern als Sprache.
Vor allem die Live-Visualisierung und das simultane Sprechen, Hören und Zeichnen werden immer wichtiger werden. Dabei werden Zuhören, Verstehen und Auf-den-Punkt-Kommen live und real für alle Anwesenden erfahrbar - als gemeinsamer Prozess. Wissen vermitteln und gemeinsam schlauer werden, das ist dann ein sozial erlebbares Moment in einer ganz besonderen Qualität.
Unterschiedlichste Menschen und Berufsgruppen - Führungskräfte, Politiker, Entrepreneure, Lehrkräfte, Wissensarbeiter et cetera - können dies für sich nutzen. Diese Sprache ist gesellschafts-, szene- und branchenübergreifend bereits im Entstehen. Das wird noch mehr. Und das wird vielleicht sogar dazu führen, dass wir uns bald besser verstehen. 

Guido: Fachleute gehen davon aus, dass Visualisierung der Management-Skill der Zukunft sein wird. Es geht darum, Visionen und Ziele in Bilder zu übersetzen, die Mitarbeiter oder Teams sofort erkennen und verstehen können. Der Trend geht zum Manager mit dem Marker in der Hand. Die Zeiten, da das Management am großen Konferenztisch saß und dicke Stapel an Strategiepapieren austeilen ließ, sind eindeutig vorbei. Der Marker wird zu einem sehr einfach zu bedienenden und gleichzeitig sehr wichtigen Werkzeug für den Teamleiter und Manager der Zukunft.
 

Das Interview haben wir per E-Mail geführt. 


changeX 16.05.2014. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Konferenz EuViz 2014

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