Das Unsichtbare sichtbar machen
Mental Load, das ist die endlose To-do-Liste im Kopf. Voll mit Arbeiten, die getan werden müssen, die aber nicht gesehen werden. Weil sie selbstverständlich sind: unsichtbare Arbeit, wie es sie überall gibt, in der Familie, in der Pflege, in Klein- und Kleinstunternehmen. Das Konzept des Mental Load nutzt Erkenntnisse aus der Projektorganisation, um Familienarbeit besser zu verstehen - und lässt sich wiederum auf die Arbeit in Projekten und wirtschaftlichen Organisationen allgemein anwenden. Unser Gespräch wandert zwischen diesen Sphären.
"Ganz viele Tätigkeiten sind so alltäglich, dass sie nicht gesehen werden", sagt Patricia Cammarata. "Wenn alles läuft, nimmt die Arbeit niemand wahr." Hausarbeit ebenso wie alles, was für das Funktionieren egal welchen Systems relevant ist. Diese Unsichtbarkeit von Arbeit ist das eine Kennzeichen von Mental Load. Das andere ist die mentale Belastung, die "endlose To-do-Liste, die permanent vor sich hin rattert", so Cammarata.
Patricia Cammarata ist Autorin, Bloggerin und Podcasterin. Die ausgebildete Psychologin hat das Konzept des "Mental Load" in Vorträgen, Workshops und Artikeln im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht. In ihrem Buch Raus aus der Mental Load-Falle beschreibt sie, wie gerechte Arbeitsteilung in der Familie gelingt, so der Untertitel. Ihr Blog dasnuf wurde mehrfach ausgezeichnet. Patricia Cammarata lebt mit ihren Kindern und ihrem Partner in Berlin.
Frau Cammarata, bitte sagen Sie, was verbirgt sich hinter dem Begriff Mental Load?
Mental Load ist die Verantwortungslast, die meist eine Person in der Familie trägt, damit alle Prozesse rund um Haushalt und Kinder laufen und die gewünschten Ergebnisse bringen. In der freien Wirtschaft sagt man dazu Projektmanagement.
Sie machen eine Parallele auf zwischen Projekt und Familie. Das heißt, die Organisation einer Familie lässt sich als ein Projekt begreifen?
Ja, das kann man vergleichen. Eine wichtige Erkenntnis für mich war die Einsicht, ein kleines Familienunternehmen zu leiten.
Diese eine Person, die die Verantwortungslast für die Familienorganisation trägt, ist meist die Frau. Wie erfahren Frauen diesen Mental Load?
Mental Load, das ist diese endlose To-do-Liste, die permanent vor sich hin rattert. Auch, wenn man abends auf dem Sofa sitzt oder einzuschlafen versucht. Das entwickelt sich schleichend. Es kommen mehr To-dos, es kommt mehr Koordinationsaufwand, mit dem ersten gemeinsamen Kind zum Beispiel. Das kommt einfach auf ein Paar zu, und es versucht, damit umzugehen. Wie gut das gelingt, hängt immer auch von den persönlichen Ressourcen und Möglichkeiten ab. Es kann gut sein, dass sich alles super organisieren lässt - bis man beim zweiten oder dritten Kind plötzlich merkt: Jetzt wird es wirklich zu viel. So war das bei mir. Das ist ein schleichender Prozess, und das macht es so schwierig.
Wo, würden Sie sagen, liegt der Unterschied zum Burnout?
Burnout ist ein sehr fortgeschrittenes Stadium von Mental Load. Die ersten Symptome sind deckungsgleich. Angefangen von einer Dauererschöpfung, die nicht mehr auf Schlafmangel allein zurückzuführen ist. Hinzu kommt eine Dauergereiztheit, weil das engmaschige Organisationssystem, in das man eingebunden ist, ständig Druck entstehen lässt. Das sind klare Warnsignale. Wer dann nicht aktiv wird, läuft Gefahr, in einen Burnout hineinzurutschen. Frauen müssen lernen, sich nicht immer zuständig zu fühlen.
Mental Load - woher stammt der Begriff eigentlich?
Den Begriff gibt es schon länger, in der Soziologie vor allem. Aber ich konnte nicht ausfindig machen, wo genau er herkommt. Populär geworden ist er 2017 durch einen Comic der französischen Zeichnerin Emma, der viral gegangen und mehrere Millionen Mal gelesen worden ist. Dadurch hat das Wort Einzug in die Allgemeinsprache gehalten.
Sie sind über diesen Comic darauf gestoßen?
Genau …
… was hat Sie daran interessiert oder angesprochen?
Der Aha-Moment. Zunächst habe ich dies als erfundene Geschichte einer fremden Frau wahrgenommen - dann aber feststellt: Huch, das ist ja genau mein Leben! Das hat mich aufwachen lassen. Der Comic schildert eben nicht die individuelle Situation einer bestimmten Frau, sondern betrifft ganz viele Frauen. Diese Situation kommt ihnen sehr bekannt vor. Es gibt eine gewissermaßen unsichtbare Arbeit, die auch deshalb wenig Wertschätzung genießt, aber doch sehr belastend ist. Es ist eine Belastung, die man spürt, die man aber nicht so richtig greifen kann. Für mich fühlte sich das an wie eine Diagnose, auf die ich lang gewartet hatte - endlich ein Wort zu bekommen für eine Belastung, die sehr, sehr präsent ist.
Inwiefern ist diese Arbeit unsichtbar? Weil es so selbstverständlich ist, dass sie getan wird?
Ganz viele Tätigkeiten werden getan, ohne dass der Handelnde ausspricht, was er gerade tut. Es wird auch vieles koordiniert, ohne dass man die einzelnen Schritte formuliert. Diese koordinativen Tätigkeiten laufen automatisiert im Hintergrund ab. Es kommt ein neues To-do und muss in die bestehenden To-dos eingeordnet werden. Dieser koordinative Anteil ist es aber, der die unsichtbaren To-dos zusammenhält. Dieser Prozess wird in der Regel nicht verbalisiert. Genau das macht Mental Load aus.
Ist das ein geschlechtsspezifisches Phänomen insofern, als Männer oftmals nicht sehen, was an Hausarbeit alles dranhängt? Oder ist das ein grundsätzlicheres Problem?
Es ist ein geschlechtsspezifisches Problem, weil wir von klein auf beigebracht bekommen, wer für was zuständig ist. In unserer Sozialisation bekommen wir Rollenstereotype vermittelt. Mit diesen weiblichen und männlichen Rollen, die wir zu übernehmen haben, ist eine Aufgabenspezialisierung verbunden. Allein dadurch, dass wir diese Rollen ausfüllen, leben wir den Kindern vor, wofür sie in ihrer Zukunft zuständig sein werden. Die Jungs sehen: Beim Vater stehen Beruf, Karriere und die finanzielle Versorgung im Vordergrund. Und die Mädchen kriegen mit: Es geht ums Kümmern. Alles, was sich um Familie und Haushalt dreht, hängt an der Mutter.
Diese Schieflage trat erst durch die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen ans Tageslicht. In Westdeutschland war es ja nicht so verbreitet, dass Frauen gleichermaßen erwerbstätig sind. Damit war dieser Mental Load mit den ganzen To-dos auch leichter zu bewältigen. Aber mit zunehmender Berufstätigkeit von Frauen tritt dann einfach eine Überlastung ein.
Grundsätzlich aber ist das nicht nur Frauensache. Natürlich gibt es auch Dinge, für die Männer sich verantwortlich fühlen und ebenso nicht jedes Mal erklären, was sie tun. Etwa: "Wir fahren in den Urlaub, und ich kümmere mich um Reifendruck und Ölstand." Das macht man einfach, weil es zur Urlaubsvorbereitung gehört.
"Grundsätzlicher" zielte ich in eine andere Richtung: Auf das Phänomen, dass man dann, wenn man eine Tätigkeit plant, oft nicht voll auf dem Schirm hat, was alles damit verbunden ist. Also eine unsichtbare Arbeit, die sich erst dann zeigt, wenn man mit der Tätigkeit beginnt.
Das ist definitiv so. Das hat auch etwas mit dem Aufbau von Kompetenz zu tun. Man hat eine Vorstellung davon, wie etwas getan werden könnte. Aber erst mit dem Commitment, diese Aufgabe und die Verantwortung dafür zu übernehmen, wird der volle Umfang deutlich.
Das ist auch der Punkt beim Mental Load: Hier geht es nicht um Schuldzuweisungen. Sondern es geht darum, transparent zu machen, was sich durch Kompetenzaufbau an Wissen angesammelt hat. Dann erst wird der unsichtbare Teil klar. Unsichtbar heißt auch, dass dem Mann der Umfang bestimmter Tätigkeiten oft erst klar wird, wenn er sie einfach mal selber ausprobiert. Und so Kompetenz aufbaut.
Dieser unsichtbare Anteil erinnert an das bekannte Bild eines Eisbergs, dessen größter Teil sich unter der Wasseroberfläche verbirgt.
Das ist ein aussagekräftiges Bild. Ganz viele Tätigkeiten sind so alltäglich, dass sie nicht gesehen werden. Und auch die sichtbare Spitze täuscht. Da heißt es dann schnell: "So viel ist das auch nicht." Und niemand macht sich Gedanken, was da darunter alles stattfinden muss, damit das Sichtbare an der Spitze auch funktioniert. Im Berufsleben ist es genauso. Wenn alles läuft, nimmt die Arbeit niemand wahr. Klappt mal etwas nicht, wird plötzlich klar, wie komplex diese Aufgabe eigentlich ist, die sonst einfach erledigt wird.
Bestimmte Tätigkeiten, sogar Berufe, haben es an sich, dass sie im Hintergrund laufen und gar nicht sichtbar werden. Sichtbar werden sie erst dann, wenn was nicht funktioniert. In der Veranstaltungsorganisation zum Beispiel. Sound, Licht, Beamer …
Das sind typische Beispiele. Das kenne ich auch aus meiner beruflichen Vergangenheit im Facility Management für Bahnhöfe. Wenn alles sauber ist und die Klimaanlage funktioniert, fällt das kaum jemandem auf. Sobald aber etwas nicht funktioniert, wird deutlich, dass es doch ein komplexes Unternehmen ist, einen Hauptbahnhof in einem guten Zustand zu halten.
Diesen Zusammenhang haben wir in der Coronakrise ja unter dem Begriff "systemrelevant" erfahren.
Genau. Das betrifft alle Kümmer-Berufe.
Ist der Mental Load in der Coronakrise gewachsen? Untersuchungen weisen darauf hin, dass Homeoffice stark zulasten der Frauen geht. Also ihre Belastung steigt, weil der Anteil der Betreuungsarbeit wesentlich höher ist als bei Männern.
Das würde ich auch so sehen. Das entspricht meiner subjektiven Wahrnehmung und deckt sich mit den Studien, die ich gelesen habe. Es gilt da auch genau hinzuschauen. Auch wenn es heißt, es habe sich nicht viel geändert, dann bedeutet das ja, dass ein Großteil der Arbeitslast auch zuvor schon von Frauen getragen worden ist - und dann in der Krise auf die Frauen zurückfällt. Zum Beispiel Akademikerhaushalte. Gleichberechtigung bedeutet dort vielfach nicht, dass Paare sich die Belastung gleichermaßen aufteilen würden. Sondern dass genug Geld da ist, um einige der Belastungsanteile, die auf die Frauen fallen, aussourcen zu können. Sei es durch Lieferdienste fürs Essen, durch Wäschedienste, durch externe Betreuung oder andere Formen, Leistung hinzuzukaufen. Das aber ist durch den Lockdown auf einen Schlag weggefallen - und es gab kein Konzept, wie die Arbeitslast unter Partnern neu aufgeteilt werden könnte. Sie ist dann einfach wieder auf die Frauen zurückgefallen.
Was kann man nun tun? Oder, um den Untertitel Ihres Buchs zu zitieren: Wie kann eine gerechte Arbeitsteilung in der Familie gelingen?
Das gelingt am besten durch regelmäßige Gespräche, so banal das klingt. Es geht erst einmal darum, Transparenz zu schaffen. Also eine Form zu finden, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Das kann sein - wenn man Excel mag wie ich -, die Tätigkeiten umfassend in Excel-Listen zu hinterlegen. Oder indem man eine Mental-Load-Map anlegt und alle Tätigkeiten an einer Wand anträgt. Das ist der erste Schritt: Erst mal einen Überblick schaffen. Das kann schon recht eindrucksvoll sein, wenn man sieht, was da zusammenkommt - und über das eigentlich nie gesprochen wird!
Zweitens ist es extrem hilfreich, einmal wöchentlich eine Planung zu machen - dabei eben auch das Thema Verantwortlichkeiten anzugehen. Häufig ist es so, dass einzelne Familienmitglieder zwar bestimmte Aufgaben übernehmen, dann aber nur Teile davon abarbeiten. Es gilt also, die ganze Aufgabe zu übertragen, einschließlich der Verantwortung dafür! Sonst fällt es auf die ursprünglich verantwortliche Person zurück, wenn etwas schiefgeht, und die muss dann Feuerwehr spielen.
Erst wenn Planung und Koordination mit übernommen wird, weicht langsam der Druck aus dem Kopf. Und, ganz wichtig: Mit der Übernahme der Aufgabe inklusive Verantwortung kann der Partner die erforderliche Kompetenz aufbauen. Und der andere lernt damit das Zutrauen, das es braucht, um irgendwann die Verantwortung wirklich loslassen zu können. Das ist aber ein Prozess, der ein bisschen dauert. Und der am Anfang natürlich auch erst mal noch Energie zusätzlich kostet.
Sie haben vorhin recht plastisch beschrieben, wie der Mental Load gewachsen ist vom ersten zum zweiten zum dritten Kind. Eine ironische Frage: Haben Sie es denn mit einem besseren Zeitmanagement versucht?
Schon. Das Tolle ist: Das funktioniert nicht. "Getting things done" oder andere Wundersysteme scheitern beim Thema Mental Load. Denn hier geht es ja nicht darum, Aufgaben besser zu koordinieren, sondern Verantwortung zu teilen. Und Verantwortung teilen geht nicht durch Trennung und Spezialisierung, sondern paradoxerweise durch das Gegenteil: indem man Dinge zusammen macht. Dieses Zusammenmachen ist eben nicht maximal effizient, sondern gibt das Wissen und die Verantwortung auf zwei Personen. Die Last halbiert sich dadurch. Das hilft langfristig, den Mental Load wegzunehmen.
Spürbar wird das vor allem, wenn Dinge schiefgehen. Dann ist nicht jemand alleine verantwortlich, sondern das Paar kann sagen: "Wir haben nach bestem Wissen und Gewissen entschieden, aber nun ist das eben schiefgegangen. Aber wir teilen auch die Verantwortung für Dinge, die schiefgehen." Das ist etwas ganz anderes, als über To-dos zu sprechen. Bei To-dos ist Aufgabenspezialisierung das Thema. Das kennt man aus Fabriken. Da soll Spezialisierung sicherstellen, dass die Produktion läuft. Aber so funktioniert das in einer Familie eben nicht. Hier braucht es geteilte Verantwortung und eine Doppelung der Kompetenzen.
Haben Sie ein Beispiel für dieses "Dinge gemeinsam tun"?
Das fängt bei ganz banalen Dingen an, wie die Kinder gemeinsam in den Kindergarten zu bringen und abzuholen. Oder dass beide Wissensträger zuständig sind für die schönen Zettel, auf denen steht, an was alles zu denken ist. In der Familie geht es eben nicht ums Optimieren. Sondern darum, dass beide Partner wissen, was zu tun ist, dass beide die einzelnen Schritte kennen und beide alle Informationen haben, die notwendig sind, um diese Aufgaben ordentlich zu erfüllen. Es ist auch nicht erforderlich, gleich alles zu doppeln. Informationen zugänglich zu machen, ist auch sehr wirkungsvoll. Zum Beispiel, indem man die To-do-Zettel abfotografiert und die Bilder digital an einem Ort ablegt. Dann ist nicht immer eine Person der Informationsträger, sondern jeder kann selber nachgucken: "Wann war noch mal der Wandertag? Ach, am Soundsovielten."
Effizient ist das ja nicht gerade, wenn zwei Personen dasselbe tun.
Das ist richtig. Aber man kann ja dieses Effizienzparadigma infrage stellen. In der Softwareentwicklung gibt es zum Beispiel das Konzept des Peer Programming. Das heißt, dass immer zwei Leute zusammen entwickeln. Der Vorteil: Einmal ist das Ergebnis besser, weil zwei Leute ihre Erfahrung einbringen. Und wenn beide Bescheid wissen, kann der eine übernehmen oder eine Frage beantworten, wenn der andere in Urlaub geht oder ausfällt. Es ist sinnvoll, nicht alles Wissen bei einer Person zu konzentrieren, die dann unersetzlich ist. Effizienz ist also nicht immer sinnvoll.
Gibt es weitere Beispiele aus Projektmanagement, Projektorganisation oder der Arbeitswelt allgemein, die Sie auf die Hausarbeit anwenden?
In der agilen Softwareentwicklung gibt es immer dann, wenn Projekte beendet oder Arbeitsphasen abgeschlossen werden, eine Retrospektive. Das kann ich definitiv auch Paaren empfehlen. Retrospektive bedeutet, sich mindestens einmal im Monat die Zeit zu nehmen, über die zurückliegende Phase zu sprechen: Wie ist es gelaufen? Was war gut, was war schlecht? Oder zu überlegen, ob Aufgaben und Verantwortung anders verteilt werden sollten. Zum Beispiel indem Aufgaben rotieren, um zusätzliche Kompetenzen aufzubauen. Oder Aufgaben getauscht werden, weil ein Partner den nervigen Alltagskram nicht für den Rest seines Lebens machen möchte. Also: Sich Zeit nehmen, auf der Metaebene zu sprechen. Das ist nicht bloß Optimieren. Weil es nicht nur um Effizienz geht, sondern um Fragen wie: Welche Kompetenzen bauen wir auf? Welche Rollen leben wir vor? Wo sehen wir uns als Paar in der Zukunft?
Ich denke, die Parallelen leuchten ein. Ein anderes Beispiel: der Sprint in Scrum. In der Familienorganisation gibt es auch Sprints.
Genau: Sie ist ein dauernder, lebenslanger Sprint. Die Parallele zur Projektorganisation veranschaulicht auch, auf welch absurder Vorstellung die Familienorganisation gründet: Nämlich davon auszugehen, dass die Dinge funktionieren, ohne dass man darüber spricht. Und ohne dass sich die Rahmenbedingungen ändern.
Nicht zuletzt geht es ja auch um nennenswerte Geldbeträge. Rein statistisch reden wir pro Kind über 130.000 Euro, bis es 18 ist. Ein Projekt würde man so nicht angehen: "Hier sind 130.000 Euro. 18 Jahre Laufzeit. Wir gucken mal, wie es läuft …" (lacht).
Wenn Sie Ideen aus der Projektorganisation auf die Familienorganisation anwenden - lässt sich das noch mal wenden, indem wir das Konzept des Mental Load auf die berufliche Situation übertragen? Solo-Selbständige, Freiberufler, Einzelunternehmer machen alles selbst und geraten nicht selten in eine Überlastungssituation, die sich als Mental Load beschreiben ließe. Sehen Sie das auch?
Ja, definitiv. Auch in Teams gibt es oft eine vergleichbare Rollenverteilung. Zum Beispiel wenn neue Aufgaben hinzukommen oder im Hinblick auf die Kümmer-Aufgaben für die anderen oder in der Kundenbeziehung. Auch hier ist hilfreich, zu fragen: Melden sich immer dieselben Leute freiwillig? Wer denkt immer an Dinge wie Jubiläen, Geburtstage und kümmert sich um Feiern und Geschenke? Es ist spannend, solche Fragen unter dem Blickwinkel des Mental Load zu betrachten.
Offensichtlich gibt es einfach Menschen, Kümmerer, die solche Aufgaben ganz selbstverständlich übernehmen, während andere sie nicht einmal wahrnehmen …
… und meist sind es die Kümmerer, die nicht wahrnehmen, dass sie das immer übernehmen - und dadurch in eine Überlastung geraten. In Teams ist es manchmal notwendig, richtig dazwischenzugrätschen, weil es immer dieselben zwei, drei Leute sind, die diese und jene Aufgabe auch noch übernehmen wollen. Dann gilt es, aktiv zu intervenieren und zu fragen, wer überhaupt Kapazitäten hat. Genau solche Kollegen gucken dann zunächst ganz erstaunt und melden dann später zurück: "Mensch, das war toll, das anzusprechen. Denn eigentlich hatte ich die Kapazität tatsächlich nicht, das auch noch zu übernehmen." Wenn so etwas passiert, dann entsteht ein wirklich konstruktives Arbeiten.
Vielleicht zum Schluss noch: In den Unternehmen ist eine Menge in Bewegung. Agile Methoden halten schon seit längerer Zeit Einzug. Und jetzt steht die Neuorganisation von Büroarbeit unter Pandemiebedingungen an. Wenn man eine Brücke schlägt zu den Familien: Was können Unternehmen beitragen, um die Mental-Load-Problematik zu verbessern?
In der Technologiebranche ist das tatsächlich schon ein Thema, ausgelöst durch den Fachkräftemangel. Unternehmen wie HP oder SAP haben die Mental-Load-Thematik entdeckt. Und fragen: Was können wir zusätzlich, also on top auf das Gehalt tun, damit die Leute privat entlastet werden und sich beruflich mehr engagieren können? Dann wird eine Putzfrau bezahlt oder ein Wäschedienst. SAP hat sogar mobile Friseure. Oder auf dem Land, wo es keine Hortbetreuung für die Kinder gibt, engagieren Unternehmen Caterer, die das Mittagessen bereitstellen. Damit fällt ein Teil des Mental Load - Essensplanung, Einkaufen, Kochen, Putzen et cetera - von denen ab, die das normalerweise tun, und die haben dann Kapazitäten, um sich im Beruf einzubringen.
Bezogen auf Corona ist es freilich schon ein Fortschritt, wenn anerkannt wird, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch Homeoffice erschwert wird und der Mental Load sich verschärft. Deshalb geht es darum, ergebnisorientiert zu arbeiten und nicht so sehr auf Präsenzzeiten zu schauen.
Aber der Knackpunkt ist und bleibt die traditionelle Rollenverteilung in der Familie?
Das würde ich schon so sehen. 80 Prozent sind Rollenverteilung und die damit verbundenen Erwartungen an sich selbst und den Partner. 20 Prozent sind schlicht und einfach Kommunikationskultur. Also Dinge nicht einfach geschehen lassen und in den Mental Load hineinschlittern. Sondern miteinander sprechen.
Optimal wäre es, wenn Paare bestimmte Wendepunkte im Zusammenleben zum Anlass nehmen würden, miteinander über Arbeitslast und Aufgabenverteilung zu reflektieren: Ein Paar startet in den Beruf, heiratet, kriegt Kinder, jemand nimmt Elternzeit - so lassen sich viele Einschnitte identifizieren, wo es höchst sinnvoll wäre, sich aktiv miteinander zu besprechen. Und die Dinge nicht einfach geschehen zu lassen.
Und da zeigt sich wieder eine Parallele zu agilen Konzepten. Weil es dort zu einem guten Teil darum geht, transparent zu machen, was getan wird, von wem es getan wird, wann es getan wird, und ein gemeinsames Verständnis darüber herzustellen.
Mental Load reduzieren geht nicht ohne ständiges Verhandeln und Miteinandersprechen. Es geht nicht darum, Haushalt und Kinder besser zu organisieren. Im Gegenteil: Es geht um Transparenz und um ein gemeinsames Verständnis. Und: Weglassen, Freiräume schaffen, loslassen, das schafft Erleichterung.
Das Interview haben wir telefonisch geführt.
Zitate
"Mental Load, das ist diese endlose To-do-Liste, die permanent vor sich hin rattert." Patricia Cammarata: Das Unsichtbare sichtbar machen
"Ganz viele Tätigkeiten sind so alltäglich, dass sie nicht gesehen werden. Wenn alles läuft, nimmt die Arbeit niemand wahr." Patricia Cammarata: Das Unsichtbare sichtbar machen
"Frauen müssen lernen, sich nicht immer zuständig zu fühlen." Patricia Cammarata: Das Unsichtbare sichtbar machen
"Es geht darum, Transparenz zu schaffen. Eine Form zu finden, das Unsichtbare sichtbar zu machen." Patricia Cammarata im Interview über Mental Load
"Es geht nicht darum, Aufgaben besser zu koordinieren, sondern Verantwortung zu teilen." Patricia Cammarata: Das Unsichtbare sichtbar machen
"In der Familie geht es eben nicht ums Optimieren. Sondern darum, dass beide Partner wissen, was zu tun ist, dass beide die einzelnen Schritte kennen und beide alle Informationen haben, die notwendig sind, um diese Aufgaben ordentlich zu erfüllen." Patricia Cammarata: Das Unsichtbare sichtbar machen
"Effizienz ist nicht immer sinnvoll." Patricia Cammarata: Das Unsichtbare sichtbar machen
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Patricia Cammarata: Raus aus der Mental Load-Falle. Wie gerechte Arbeitsteilung in der Familie gelingt. Mit Illustrationen von Teresa Holtmann. Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2020 2020, 224 Seiten, 17.95 Euro (D), ISBN 978-3-407-86632-5
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.