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Ideen für Geflüchtete 14: Integreat bietet einen mobilen Alltagsguide per App
Text: Winfried Kretschmer

Die Aufnahme und Integration zahlreicher Geflüchteter verlangt neue Ideen, neue Lösungen und neue Wege. Kurz: soziale Innovationen. changeX trägt die besten Ideen zusammen. Folge 14: Die App Integreat bietet Geflüchteten ein System mit stets aktuellen lokalen Informationen, das die Orientierung in der neuen Umgebung leichter macht.

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Das Problem: Wo Geflüchtete auch ankommen, die Situation ist immer die gleiche: ein neues Land, eine neue Stadt, eine neue Umgebung. Und auch die Fragen sind die gleichen: Wo befindet sich der nächste Arzt, an welcher Schule werden Deutschkurse angeboten und bis wann müssen bestimmte Anträge abgegeben werden? Orientierung ist gefragt. Und Informationen über essenzielle Dinge des täglichen Lebens.  


Die Idee: Die Smartphone-App Integreat bietet in mehreren Sprachen stets aktualisierte Informationen über lokale Gegebenheiten und Angebote in den angeschlossenen Städten, Gemeinden und Landkreisen. Das System führt Informationen aus unterschiedlichen kommunalen Quellen in einer einheitlichen Struktur zusammen. Einmal heruntergeladen sind die Informationen auch offline verfügbar. 


Konzept und Umsetzung: Wie können wir den ankommenden Menschen in unserer Stadt möglichst schnell alle relevanten Informationen in ihrer Landessprache zur Verfügung stellen - ohne permanenten Internetzugriff und ohne Papierchaos? Das war die Ausgangsfrage des Projekts Integreat. Die Lösung: eine App für Smartphones. Denn schätzungsweise mehr als 75 Prozent der Geflüchteten verfügen über ein Mobiltelefon. Für sie war es ein unentbehrlicher Helfer auf der Flucht und hilft ihnen heute, den Kontakt zu Angehörigen und Freunden zu halten. 

Binnen acht Monaten hat ein Team von Studierenden der Studiengänge Finanz- und Informationsmanagement und Software Engineering zusammen mit dem Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik der TU München eine App entwickelt, die die wichtigsten Informationen für Geflüchtete zusammenfasst: die wichtigsten Behörden, Anlaufstellen und Dokumente, Notrufnummern, den Stadtplan sowie Informationen zu medizinischer Versorgung, Feiertagen und Öffnungszeiten, Terminen und Veranstaltungen. "Deutsch lernen", "Umzug in die eigene Wohnung", "Kleidung, Möbel, Lebensmittel", "Kinder und Familie", "Arbeit und Ausbildung" sind weitere Menüpunkte in der übersichtlich gegliederten App, die in fünf Sprachen verfügbar ist: Deutsch, Englisch, Französisch, Arabisch und Farsi. Gestartet ist Integreat Anfang Dezember 2015 in den Städten Augsburg und Bad Tölz; mittlerweile sind sieben Gemeinden oder Landkreise dabei. Anfangs gab es die App nur für das Android-Betriebssystem, seit einigen Wochen ist auch eine Version für Apple iOS verfügbar. Die Informationen sind immer aktuell und auch offline verfügbar. 

Möglich macht das die Systemarchitektur hinter der App. Integreat führt unterschiedliche Informationen aus unterschiedlichen Quellen in einer einheitlichen Grundstruktur zusammen. Es sind vor allem Informationen aus dem lokalen Umfeld, auf die Integreat setzt. "Der Fokus soll auf den nicht googlebaren Informationen liegen", sagt Projektkoordinator Daniel Kehne: "Wie bekomme ich eine Facharztüberweisung? Wer ist Ansprechpartner, wenn es um kostenlose Mittagsverpflegung für mein Schulkind geht? Wo lasse ich mich beraten, wenn ich Deutsch lernen will?" Spezifische Informationen also, die zudem meist an unterschiedlichen Orten liegen. "Diese Informationen müssen in der Kommune gepflegt werden", so Kehne. Deshalb funktioniert Integreat in enger Kooperation mit den Gemeinden vor Ort. Diese pflegen die Daten in das System ein, die technische Infrastruktur von Integreat sorgt dafür, dass die Informationen in der App auf den Smartphones der Nutzer angezeigt werden. Das funktioniert auch offline, wenn das Smartphone mal keine Verbindung zum Internet hat. Bekommt das Gerät dann wieder Zugriff auf ein WLAN, aktualisiert die App automatisch die gespeicherten Informationen. Auch aufseiten des Content-Management-Systems sind die Informationen offline nutzbar; sie lassen sich als PDF ausdrucken - die Schwangerschaftsberatung auf Arabisch zum Beispiel. 

Wichtig ist den Initiatoren, dass ihr Angebot kostenlos, nicht kommerziell und gemeinnützig ist. "Wir nehmen für die Software kein Geld", sagt Kehne. Auch Workshops und Beratung bei der Einführung des Systems stellen die Integreat-Leute nicht in Rechnung, wollen ihren Partnern auf längere Sicht aber Servicevereinbarungen als Dienstleistung anbieten. Ansonsten finanziert sich das Projekt über Spenden. Die Entwicklungskosten für Augsburg hat weitgehend das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus seinem Programm "Demokratie leben!" finanziert.  

Spannend ist auch die Entstehungsgeschichte des Projekts. Denn Zufälle spielten dabei eine ganz entscheidende Rolle, wie Daniel Kehne berichtet. Entwickelt wurde die Idee einer App von ganz unterschiedlichen Akteure an unterschiedlichen Orten. Da ist einmal die Welcome-App, die von zwei Dresdner Softwareunternehmen programmiert worden ist: gleiche Idee, ähnliche Umsetzung. Da war zweitens der Lehrstuhl an der TU München, der ursprünglich selbst ein Informationsmanagementsystem für Geflüchtete entwickeln wollte, dann aber zu Integreat stieß. Da war drittens Waltraud Haase vom Verein Asylplus, die bereits das Tölzer Modell des Sprachenlernens entwickelt hat und ebenfalls auf die Idee einer App als Alltagsguide gekommen war. Schließlich war da eben Daniel Kehne, der in Augsburg Finanz- und Informationsmanagement studierte und sich beim dortigen Verein Tür an Tür für Asylsuchende engagierte. Zusammen mit anderen Studenten übernahm er die Aufgabe, die als Printprodukt veröffentlichte Asyl-Broschüre des Vereins für eine Neuauflage zu digitalisieren - ein aufwendiges Unterfangen, weil sich ständig Informationen änderten. Um die Umsetzung kümmerte sich eine studentische Projektgruppe, aus der heraus dann auch die Idee entstand: Wenn ein Printprodukt schon so aufwendig zu erstellen ist, warum dann keine App? Das Team machte sich an die Arbeit.  

Nun kommen die Zufälle ins Spiel. Zunächst bekam die Stadt Augsburg Wind von dem digitalen Alltags-Guide und unterstützte das Projekt. Dann kam die Augsburger Gruppe in Kontakt mit Waltraud Haase, die mit ihrem Projekt einen ganz ähnlichen Ansatz verfolgte. Man beschloss, die beiden Vorhaben zusammenzulegen. Schließlich kamen die Augsburger über das Elitenetzwerk Bayern in Kontakt mit Studierenden in Software Engineering - und zugleich mit den TU-Forschern, die beschlossen, mit ihrem Know-how bei Integreat, das damals noch Refguide+ hieß, einzusteigen. Sie sorgten vor allem für die Architektur der Software und vernetzten das Projekt mit dem Thema E-Government.  


Potenzial und Perspektiven: Mittlerweile ist Integreat mehr als nur ein Wegweiser in den ersten 14 Tagen, sondern "ein ganzheitliches Serviceökosystem für Städte, Landkreise und Initiativen zur Integration von Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund", wie die Initiatoren ihre App umschreiben. Rund 70 Anfragen von Kommunen aus ganz Deutschlands liegen mittlerweile vor; mit einigen ist man bereits in der Konzeptphase. Aktuell läuft Integreat in sieben Kommunen und Landkreisen. "Wir wollen Ende des Jahres zwanzig haben", sagt Kehne optimistisch.  

Groß denkt auch der Münchner Wirtschaftsinformatikprofessor Helmut Krcmar. Er ist zugleich Vorsitzender des Nationalen E-Government Kompetenzzentrums in Berlin und hofft, dass die App bald in ganz Deutschland genutzt wird. Er sieht Integreat als seine Herzensangelegenheit - eine Chance, seine Profession mit Engagement zu verbinden. Die Weichen sind jedenfalls in Richtung Professionalisierung gestellt. Bis Juni will sich Integreat ausgründen. Als gemeinnützige gGmbH. 

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changeX 22.04.2016. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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