Seestern schlägt Spinne
Human Resources meint: Die Mitarbeiter sind die wichtigste Ressource jeder Organisation. Doch behandeln wir sie auch so? Eine Vorhut von Unternehmen mit ganz neuer Herangehensweise behandelt Mitarbeiter als verantwortungsvolle "Resourceful Humans" - und bietet ihnen die Freiheit, ihr innovatives Potenzial voll zu entfalten.
Haben Sie sich jemals gefragt, was Kapitän Kirk verdient? Nein?
Das wird wahrscheinlich daran liegen, dass sein Job und seine Mission nicht mit dem für uns üblichen Konzept der monetären Vergütung in Verbindung zu bringen sind. Oder haben Sie jemals die folgende Durchsage auf der "Enterprise" gehört: "Commander Spock in die Personalabteilung bitte!"? Auch nicht? Es scheint, die Personalarbeit hat im Raumschiff Enterprise wohl auch nie eine Rolle gespielt. Warum bloß?
Weil die gesamte Crew eine klare Zweckbestimmung, ausgeprägte Kompetenz und Autonomie hat. Dies hat einen Grund. Ihre Mission ist schlicht zu unvorhersehbar, um zentral gesteuert zu werden. Es gibt einfach zu viele unbekannte Unbekannte.
Intrinsischer Kern
Die Besatzung der Enterprise arbeitet ähnlich wie Teams, welche das Konzept der "Resourceful Humans" entwickelt und in der Videospielindustrie umgesetzt haben: kreative Persönlichkeiten, die gemeinsam in der Erforschung der Grenzen der Innovation an ihre persönlichen Grenzen gingen. Begeisterte Spieler wollten aufregend neue Computerspiele für andere Spieler wie sich selbst entwickeln. Extreme Kreativität in der Konzeptphase einerseits, große Prozesseffizienz in der Umsetzung andererseits. Diesem Ziel musste sich die Organisation flexibel anpassen können, besonders in Zeiten rasanten technologischen Fortschritts und agiler Entwicklung. Produkt-, Organisations- und Mitarbeiterentwicklung wurden zu einer nicht teilbaren Einheit.
Auf den Erfahrungen dieser Teams basiert die Empfehlung, Organisationen mithilfe des Weges der Resourceful Humans zu befähigen. Der Kern liegt in der intrinsischen Motivation jedes Einzelnen mit der Kompetenz zur Selbstorganisation von kleinen Teams in einem klaren organisatorischen Gestaltungsraum. Lassen Sie Talenten die Möglichkeit, sich zu entfalten und nicht von der Führung administriert und strategisch gebunden zu werden. Wenn das Management das Geschäftsfeld festlegt, in dem man tätig ist, begrenzt man ihr Denken und gibt ihnen einen Grund, neue Möglichkeiten zu ignorieren. Warum nicht Mitarbeiter mit ihrem Einsatz, ihren Interessen und Initiativen die Identität der Unternehmung formen lassen?
Offenheit
Spätestens seit dem Boom der sozialen Medien ist offensichtlich, dass die Marktwirtschaft nicht in Algorithmen lösbar ist. Sie verlangt vielmehr nach Offenheit, Kreativität und nachhaltigem Denken. Und genau diese Anforderungen erfüllen allein intrinsisch motivierte Mitarbeiter, während extrinsische Motivation in einer solchen Arbeitswelt nicht funktioniert. Was wir brauchen, sind interessierte Menschen, die Probleme eigenständig erkennen, sich Lösungen überlegen und sie eigenständig umsetzen, die experimentieren - und die dies aus innerem Drang tun und sich nicht auf Belohnungen von außen fokussieren. Welches ist nun die optimale Herangehensweise, um solch intrinsisch motiviertes Verhalten gedeihen zu lassen? Warum nicht eine Organisation gestalten, in der jeder führen kann oder sich führen lässt, je nach Erfordernis?
Ein Beispiel aus der Praxis: die Tische. Die Tische? Die Teams beklagten sich über unsere Tische. Man sitze nicht gut. Die Geschäftsführer wurden ärgerlich. Man investiere bewusst viel in hochwertige Büromöbel, um ergonomisches Arbeiten zu ermöglichen. HR setzte die Geschäftsführung und ein Team gemeinsam an einen der Tische. Diese Tische waren in unserem Office normalerweise fix. Teams konnten sich also nicht im agilen Prozess jederzeit neu so zusammensetzen, wie sie es brauchten. Die Geschäftsführung verstand. Unsere Tische bekamen Räder und "plug and play"-Stecker. Anstatt das Tischproblem zu verwalten, ermöglichten wir es den Mitarbeitern, sich spontan, ohne Genehmigungsprozess jederzeit dorthin zu setzen, wo sie Wert beitragen konnten. Man fand nun nicht immer jeden auf Anhieb, doch die Teams verstanden: Unser Fokus bewegte sich von Kontrolle auf Wertbeitrag. Sie sollten selber nachdenken, wie sie ihre Zeit am besten einsetzen wollten.
Auch schafften wir das von Google kopierte 80/20-System ab, in dem Mitarbeiter 20 Prozent ihrer Arbeitszeit für Projekte ihrer Wahl bekamen. Stattdessen erlaubten wir ihnen, Projekte vorzuschlagen und sich denjenigen Projekten anzuschließen, an die sie glaubten und für die sie alles tun würden. Wir verwalteten nicht die Situation, in der Mitarbeiter 80 Prozent an etwas arbeiten, an das sie nur halbwegs glauben - wir wollten, dass 20 Prozent = 100 Prozent sind.
Doch viel zu häufig beschäftigen Personalabteilungen sich mit administrativen Problemen, die aus dem erfolgreichen Wachstum eines Unternehmens oder aus den Kontrollstrukturen des Managements hervorgehen. Sie führen uns zu den bekannten Problemen zurück: Größe, Hierarchie, Unwillen und Inkompetenz. Was ist zu tun? Konzentrieren wir uns auf die Ursache. Nicht auf die Symptome. Doch wie?
Start-up-Kultur
Besinnen wir uns auf die Anfänge zurück. Denken wir an erfolgreiche Start-ups. Kein Unternehmer hat je die Vision von Team-Buildings, Hierarchien, Business-Partnern und Shared Services. Ein Unternehmer wünscht sich eine gesunde, innovative Unternehmenskultur, in der jeder im Sinne des Erfolgs mitzieht. Er möchte eine Kultur, die sich laufend neu erfindet und trotzdem durch ebendiesen Verjüngungsprozess bestehen bleibt. Mit dem Walkman im Verdrängungsmarkt bestehen und es trotzdem nicht versäumen, durch den iPod neue Märkte zu erfinden. Dafür braucht es eine neue Art Führung.
Vermehrt gehen auch große Firmen ähnliche Wege. IBMs "BeLiquid"-Initiative öffnet die Organisation als Innovationsplattform. Der Konzern soll nur noch von einer kleinen Kernbelegschaft geführt werden, auf einer Internetplattform sollen sich freie Mitarbeiter aus der ganzen Welt präsentieren und nach bestimmten, von IBM entworfenen Qualitätsmerkmalen zertifiziert werden. Ähnlich wie beim sozialen Netzwerk Facebook könnten Arbeitnehmer in dem IBM-Modell Bewertungen und Zeugnisse der Arbeitgeber erhalten, die dann von anderen Unternehmen eingesehen werden. Die in einer Cloud organisierten Arbeitskräfte, heißt es in dem IBM-Papier, würden internationale Arbeitsverträge erhalten, um restriktive Vorschriften in den jeweiligen Heimatländern zu umgehen. Außerdem sollen sie auch nur für die Dauer der jeweiligen Projekte beschäftigt werden.
Letztlich hat IBM sich mit BeLiquid lediglich, mehr oder minder öffentlich, getraut, einen Kurs zu kommunizieren, der von vielen anderen mitdenkenden Unternehmen bereits praktiziert oder vorbereitet wird. Deshalb ist es an der Zeit, dass HR selbst den Anspruch erhebt, maßgeblich an der ganzheitlichen Gestaltung einer solchen Organisation mitzuwirken: HR nicht als Verwalter von Leistungsbeurteilungen, sondern mit dem Fokus auf den Wertbeitrag aller.
HR-Transformation
Die Lösung für typische Wachstumsprobleme, die in Unternehmen auftreten, ist nicht HR 3.0 oder Enterprise 2.0. Es ist auch nicht stufenweise Verbesserung. Es ist sicherlich nicht mehr von dem, was Sie sowieso schon tun. Auch hat die Lösung nur indirekt mit neuen sozialen Werkzeugen zu tun oder mit der Generation Y. Die Antwort ist eine vollkommen neue ideale Denkweise, welche durch HR unternehmerische Innovation befähigt. Eine Organisation mit HR-Kompetenz in jeder Zelle. Dies ist ein komplett anderer Blickwinkel auf Unternehmungen, auf Unternehmensethik und die Art und Weise, wie wir Unternehmungen formen und voranbringen.
Wie kommen wir dorthin? Die Antwort für etablierte Unternehmen ist die Transformation von Human Resources über eine Hybridlösung zur Reinform der Resourceful Humans - die Metamorphose von einem zentral gesteuerten befehls- und kontrollbasierten Unternehmen über eine Dezentralisierung zu einer mit verteilten Kompetenzen versehenen, organisch aufgestellten Föderation selbst organisierter Teams.
Funktionen wie HR, Marketing und Finance lagern ihre Verwaltungsbestandteile aus und machen sich zu Dienstleistungskompetenzen in den Teams selbst. Stellen Sie sich diese Veränderung wie den Unterschied zwischen Spinne und Seestern vor. Eine Spinne hat einen zentralen Körper mit Beinen. Trennen Sie den Kopf ab, stirbt sie. Ein Seestern hingegen ist ein gleichmäßig auf mehrere Arme verteilter Organismus. Trennen Sie ihn in der Mitte, erhalten Sie zwei lebendige Seesterne. In der Marktwirtschaft bedeutet dies Flexibilität und Agilität für den Endkunden.
Eine Seestern-Architektur
Die Kernkonzepte einer Seestern-Architektur sind:
Erstens: demokratische Organisation für die Fähigen und Willigen
Zweitens: Informationstransparenz
Drittens: gerechte Gewinnverteilung
Von diesem Kernkonzept lassen sich drei unternehmerische Grundsätze ableiten:
Erstens: Ich habe die Wahl, zu tun, was ich liebe, und mich dazu mit gleichgesinnten, fähigen Leuten zusammenzutun.
Zweitens: Ich verfüge über alle relevanten Informationen, um die besten Entscheidungen treffen zu können.
Drittens: Meiner Leistung wird in allen Belangen Respekt gezollt.
Das bedeutet, dass Teams die Möglichkeit haben, sich mit Themen zu befassen, die ihrer intrinsischen Motivation am nächsten kommen. Dabei werden sie unterstützt von einem demokratischen Umfeld, einem transparenten Informationsfluss und der Garantie einer gerechten Gewinnverteilung.
Die Teams sind dabei durch projektbasierte Abkommen multilateral miteinander verbunden. Diese Rahmenbedingungen schaffen den optimalen Einfluss auf die Unternehmungen. Es entsteht ein transparentes Vertrauensnetzwerk. In einer liquiden Organisationsform können sich unternehmerische Beziehungen schneller untereinander anpassen, als wenn sie von einer Hierarchie bestimmt werden.
Phasen der Transformation
Um solche Lösungen zu finden, soll das demokratische HR2RH-Transformationsframework (Human Resources to Resourceful Humans) das alte HR-Business-Partner-Modell, stellvertretend für zentralistische Führung, weiterentwickeln. Es teilt den Transformationsprozess in vier Phasen auf:
Null: Readiness (Wie willig und fähig sind wir für diese Art Unternehmung?)
Erstens: Revolution (Geisteshaltung des Mitunternehmertums einfordern)
Zweitens: Baseline (Hygienefaktoren adressieren und RH-Prototyping)
Drittens: Evolution (Skalierung der Pionierprojekte über die gesamte Organisation)
Die Phase der "Readiness" inspiriert durch demokratische Führung dazu, eine nachhaltige Innovationskultur zu schaffen. Die Phase der "Revolution" initiiert, das traditionelle Führungsmodell zu verlassen. In der "Baseline"-Phase wird ein Pilotprojekt auf Basis des RH-Way durchgeführt. Dieser ist geprägt von unternehmerischer Selbstorganisation auf Basis der drei Kernwerte des RH-Way, die gutes Geschäftsgebaren garantieren:
Erstens: Demokratie der Willigen und Fähigen - HR2RH-Grundvoraussetzung ist es, willens zu sein, unternehmerisch umzudenken und demokratische Werte zu leben. Diese Fähigkeiten sind erlernbar. Denn das Wagnis wird nicht mit den "Unwilligen" und "Unfähigen" gelingen. HR muss dieser Gruppe Alternativen aufzeigen und "Willigen" Weiterbildungs-Curricula bieten.
Zweitens: Freier Informationsfluss - Resourceful Humans können nur dann die besten Entscheidungen treffen, wenn ihnen alle notwendigen Informationen frei zur Verfügung stehen. Hierzu muss HR die notwendigen Plattformen, Foren und Ausbildungsrahmen schaffen, um diese zu deuten und in einen relevanten Kontext setzen zu können. Freien Informationsfluss gilt es auch in allen HR-Prozessen zu leben. Dies beinhaltet besonders in der Baseline-Phase ebenso die Transparenz von Vergütung und die Nachvollziehbarkeit von Einstellungsentscheidungen.
Drittens: Faires Gainsharing - Mitunternehmer wollen/müssen ihrem Einsatz und Erfolg entsprechend durch eine faire Gewinn- und Risikobeteiligung wertgeschätzt werden. Es ist an HR, neue Systeme mitzugestalten, die sich vom klassischen Top-down-Ansatz der Vergütungs- und Bonuspolitik verabschieden und die neue Welt der permanenten sozialen Interaktion als Chance aufnehmen.
Die Aufgabe der HR-Funktion ist es, diesen Regelsatz durch aktiven Einsatz in die Phase der "Evolution" hinaus auszudehnen. Dies tut sie so lange, bis jegliche zentrale Kontroll- und Leitungsfunktion verschwunden ist und eine ordentliche Föderation demokratischer Teams ermöglicht wurde.
Wie sieht das Seestern-Umfeld der Resourceful Humans aus?
Keine Hierarchien, sondern Kreise. Jedes Team stellt seinen eigenen Kreis dar. Sind Sie einmal Mitglied eines Teams, sind Sie gleichberechtigt. Nutzen Sie Ihre Chance, das Beste zu gemeinsamen Ideen und einer gemeinsamen Dienstleistung beizutragen. Jeder Mitarbeiter kann sich beliebig vielen Kreisen anschließen.
Keine Mission, sondern Ideologie. Ideologie ist der Klebstoff, der diese individuellen Teams zusammenhält. Er besteht aus authentischem, häufig unausgesprochenem Glauben an das Ziel des Teams und den Beitrag des Unternehmens für die Gesellschaft. Keine zentrale Strategie, aber fließendes, sich veränderndes Netzwerk. Resourceful Humans sehen Unternehmen nicht als feste Konstrukte, sondern als Plattformen an, die Mitarbeitern unternehmerische Selbstverwirklichung ermöglichen. Mitarbeiter spüren, dass sie nicht ausführende Instrumente, sondern ihr eigenes Jazz-Ensemble werden.
Keine Leader, sondern Katalysten. Führungspersönlichkeiten in Organisationen, die Resourceful Humans beschäftigen, sind mit Führungspersönlichkeiten aus traditionellen Unternehmen in keiner Weise vergleichbar. Ein Katalyst ist der Initiator einer Idee, ohne die Verantwortung dieser Idee zu kontrollieren. Er stößt Ideen an und motiviert die jeweiligen Teams, diese Idee zu verfolgen und dann auch zu realisieren. Alle Verantwortlichkeit und Kontrolle liegt im Team, während der Katalyst sich in der Umsetzung im Hintergrund hält. Es kann demnach auch dazu kommen, dass sich aufgrund einer Idee eines Katalysten neue Teams herausbilden, die vorher nicht bestanden. Ein Katalyst führt durch Vorleben.
Keine Projektmanager, sondern Champions. Im Gegensatz zum Katalysten ist der Champion ein Macher. Er promotet eine neue Idee, motiviert seine Kollegen, die Idee umzusetzen, bringt die richtigen Leute für ein Projekt zusammen und scheut sich nicht, selbst Hand anzulegen. Er agiert anfangs im Hintergrund und wechselt dann mit dem Katalysten die Rolle und lässt dessen Vision zur Realität werden.
Was kann einer erfolgreichen HR2RH-Migration im Wege stehen? Einheiten und Führungsriegen, die unwillig oder unfähig sind, sich dem Weg der selbstorganisierenden Demokratie zu öffnen, isolieren sich in der Unternehmung. Es kommt zu kurzfristigen Störungen und Konflikten in der Wertschöpfung.
Daraus lässt sich folgende Transformationsstrategie ableiten.
Erstens: Baseline-Immunsystem durch demokratische Strukturen stärken.
Zweitens: Pilot-Teilnehmer befähigen, eine prozessuale Brandmauer gegen autoritäre zentralistische Strukturen zu implementieren.
Drittens: Mit vielen kleinen erfolgreichen Piloten schnell in die Evolutionsphase vordringen.
Insbesondere Letzteres ist für den Transformationsprozess überlebenswichtig. Ein einfacher Regelsatz in puncto Resourceful Humans lautet: Je zeitnaher ein Unternehmen Erfolg mit der Demokratisierung erreicht, desto eher wird Führungskompetenz in jeder unternehmerischen Zelle leben und gedeihen.
Captain Kirk und seiner Crew würde diese Vision sicherlich gefallen.
Der Beitrag ist erschienen in GDI IMPULS 3.2012, Seite 88-93
changeX 17.10.2012. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Autor
Heiko FischerHeiko Fischer ist Personaler der dritten Generation. Vor der Gründung seiner Firma Resourceful Humans war er weltweiter Personal-verantwortlicher bei Crytek, Europas grösstem unabhängigem Entwicklungs-unternehmen für Videospiele. Davor war Fischer bei verschiedenen Unternehmen in Management-Positionen tätig, unter anderem für Hewlett-Packard und Ebay. www.resourceful-humans.com