Das doppelte Urteil

Geschichten, Rechtsfälle und Urteile aus der neuen Arbeitswelt. | Folge 3 |

Von Michael Tillmann / Mitarbeit Peter Felixberger

Des einen Freud, des anderen Leid. Auch Gerichtsurteile werden bisweilen wortwörtlich kopiert. Das spart Arbeit. Schön, wenn der nächste Richter sofort weiß, wo's langgeht. Nach dem Motto: Vor dem Gesetz sind alle gleich. Warum nicht auch die Urteile? Ein zorniger Vermieter musste diesbezüglich Lehrgeld bezahlen.

Wer zahlt schon gerne Miete? Vor allem, wenn auch die Nebenkosten turmhoch in die Höhe klettern. Dann ist die Wut oft groß. Vielerorts bleibt nur noch der rettende Gang zum Anwalt und vor Gericht. Besonders heikel ist die Nebenkostenfrage im sozialen Wohnungsbau. Da diese Wohnungen mit Hilfe öffentlicher Gelder gebaut werden, gelten besondere Vorschriften zur Regelung der Miethöhe und der Nebenkosten. Letztere waren bis 1984 in die Bruttowarmmiete miteingerechnet. Von da an aber nicht mehr. Heute sind diese Mieten grundsätzlich als Nettokaltmieten zu berechnen - zuzüglich Nebenkosten. Ein kleiner, aber feiner Unterschied.
Der Vermieter R. hatte nämlich genau hier eine Wissenslücke und es versäumt, die Miete von brutto auf netto umzustellen. Mit der unangenehmen Folge, dass er auch nach Ablauf der gesetzlichen Mietpreisbindungszeit an die alten Mietstrukturen gebunden war. Da waren aber die Nebenkosten schon in der Miete mit drin. Übrigens kein Einzelfall. Die meisten Mietverträge aus den 50er oder 60er Jahren beinhalten keine eigenen Nebenkostenregelungen. Und werden unverändert übernommen. Die Mieter waren sich deshalb im vorliegenden Fall schnell einig, der Anwalt sowieso, und so wurden die vertraglich ja eben gerade nicht vereinbarten Nebenkostenzahlungen gänzlich eingestellt.

Zwei Richter, ein Urteil!


Vermieter R. wiederum war davon wenig angetan und verklagte seine Mieter auf Zahlung der Nebenkosten. Die Klagen kamen zu unterschiedlichen Abteilungen des Amtsgerichts, und zwei der Termine zur mündlichen Verhandlung wurden kurz hintereinander anberaumt. Die erste Verhandlung fand vor dem Amtsrichter P. statt, einem gewissenhaften Mann, der sich minutiös auf den Termin vorbereitet hatte. Schnell kam er zu dem Ergebnis, dass die Klage keine Aussicht auf Erfolg hätte. Ergebnis: Die Mieter brauchten keine Nebenkosten mehr zu zahlen.
Amtsrichter V. war sich da zunächst nicht so sicher. Er blieb unschlüssig. Der Mieteranwalt, noch siegestrunken von der ersten Entscheidung, erlaubte sich deshalb den höflichen Hinweis, dass ein Kollege gerade eben einen sehr ähnlichen Fall zu entscheiden hatte. Was Amtsrichter V. ausgesprochen dankbar aufnahm. Ergebnis: Die Mieter brauchten auch bei ihm keine Nebenkosten mehr zu zahlen.
Kurze Zeit später hielt der Mieteranwalt die beiden Urteile in Händen. Zwar hatte er insgeheim gehofft, Amtsrichter P. würde seinen Kollegen V. von der mieterfreundlichen Argumentation zu überzeugen wissen. Und dass ähnliche Urteile herauskämen. Doch noch viel mehr: Das zweite Urteil war eine originalgetreue Kopie der Begründung des ersten Urteils. Nicht einmal das Datum der mündlichen Verhandlung, die Summe der Nebenkosten und das Datum des Mietvertrages hatte Richter V. angepasst!
Nur keine schlafenden Hunde wecken, dachte sich der Mieteranwalt und schwieg. Allerdings mit dem faden Nachgeschmack, dass offenbar nicht jedes Urteil das Ergebnis tiefer gehender Beschäftigung mit der Materie und gelegentlich wohl auch Glückssache ist.

Michael Tillmann ist Rechtsanwalt in der Kanzlei Osborne Clarke, Köln.

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Autor

Peter Felixberger

Peter Felixberger ist Publizist, Buchautor und Medienentwickler.

Autor

Michael Tillmann

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