Vom Internet zum Evernet
Ein Leitbild zwischen Vision und Wirklichkeit.
Kommunizierende Armbanduhren, intelligente Türklingen, mitdenkende Autos - die Ingenieure geraten beim Gedanken an eine Welt voller vernetzter Gegenstände ins Schwärmen. Dabei besteht die Gefahr, dass sie die Nutzer und ihre Interessen aus den Augen verlieren.
Die Hightech- und Telekommunikationsbranche ist nicht zu beneiden: Eben noch Hoffnungsträger eines "long boom", gelten die Technologiewerte an der Börse heute als Sorgenkinder. In der Tat ist die Internet-Euphorie mittlerweile einem nüchternen Realismus gewichen. Und selbst beim einstigen Wachstumsmotor Mobilfunk zeigen sich deutliche Sättigungstendenzen. Inmitten dieses Stimmungstiefs gewinnt ein schillernder Begriff am Horizont der TIMES-Märkte an Konturen: das Evernet. Damit wird das Leitbild eines technisch grenzenlosen Kommunikationsuniversums beschrieben.
Vom Internet zum Evernet.
Erstmals benutzte Bestsellerautor
Thomas L. Friedman 1999 in seinem Buch
The Lexus and the Olive Tree den Begriff des "Evernets".
Popularisiert und durch entsprechende Investitionsentscheidungen
gefördert hat es L. John Doerr, ein einflussreicher Venture
Capitalist, der in den 90er Jahren bereits bei Sun, Netscape und
Amazon den richtigen Riecher hatte. Publizistisch hat die
Evernet-Visionen Georg Gilder gepuscht, ein legendärer
Technik-Guru, der 1989 mit seinem Werk
Microcosm die Welt des Internets und 2000 mit
Telecosm den breitbandigen Kosmos des Evernets
prognostiziert hatte.
"Broadband, always on, wireless, anytime and anywhere" -
dies sind die Bausteine, aus denen das Evernet als drahtloses,
überall und ständig verfügbares Breitband-Internet der Zukunft
geformt sein soll. Demnach werden wir schon bald unsichtbar und
allgegenwärtig umgeben sein von einem kommunizierenden Netzwerk
intelligenter Objekte. Alltagsdinge wie Armbanduhren, Brillen,
Turnschuhe und Jacken, aber auch digitales Papier, "intelligente"
Wandfarben, Türklinken und das eigene Auto werden sich,
ausgestattet mit Chips und eigener IP-Adresse, zu einer
allumspannenden intelligenten Umgebung verbinden.
Netz-Intelligenz soll uns als Bestandteil der Lebenswelt auf
Schritt und Tritt begleiten und unterstützen. Dieser
Technikoptimismus stützt sich dabei auf klare technologische Road
Maps. Bereits 1991 beschrieb Mark Weiser vom legendären Xerox
PARC die Allgegenwart des Computers mit dem Begriff des
"Ubiquitous Computing". Mitte der 90er Jahre erklärte dann das
MIT Media Lab die Dezentralisierung der Intelligenz in die
Gegenstände des Alltags ("things that think") zu einem
Forschungsschwerpunkt. Das Verschwinden des PC sowie die
Verlagerung der Intelligenz ins Netz gelten zudem für Veteranen
und Vordenker des Internets wie Vinton Cerf bereits als
ausgemachte Sache. Microsofts "Net Initiative" ist ebenfalls als
strategischer Schritt in die Post-PC-Ära zu sehen.
Michael L. Dertouzous vom MIT rechnet damit, dass bis zum
Jahr 2010 über eine Milliarde Menschen und einige hundert
Milliarden Geräte miteinander vernetzt sein werden. Komplizierte
Einwahl- und Anmeldeprozeduren soll es im Netz der Zukunft
grundsätzlich nicht mehr geben, denn das Evernet ist ständig
verfügbar (eben "always on") und stellt sich kontext-sensitiv auf
die jeweiligen Anforderungen der Nutzer ein. Das Netz wird dabei
die aktuell gewünschten Dienste, Informationen und Funktionen
weitgehend selbständig bereitstellen. Was UMTS verspricht, soll
das Evernet verwirklichen. Die Nutzer agieren und interagieren
ohne den Ballast komplizierter Interfaces, etwa über
Sprachsteuerung oder Erkennung von Gesten.
Digitale Überforderung.
Solche Zukunftsentwürfe sind visionär und faszinierend. Der Nutzer spielt in ihnen eine untergeordnete Rolle. Thomas L. Friedmann warnt bereits eindringlich vor einer "overconnectedness" der Menschen. Damit meint er den Zustand einer permanenten Überforderung der Menschen durch die Vielzahl der verfügbaren Interaktionskanäle und das allmähliche Verschwinden kommunikationsfreier Räume. Die Sicherheit und Zuverlässigkeit eines Always-on-Netzes stellen enorme Ansprüche an die Betreiber. Wenn zum Beispiel nur einmal die netztechnische Überwachung eines herzinfarktgefährdeten Patienten versagt, können die Folgen unumkehrbar sein. Wie verwundbar durch Anschläge ein solches großtechnisches System sein kann, hat das amerikanische Verteidigungsministerium bereits vor dem 11. September erkannt. Die wohlmeinende Überwachung von Kindern oder alten Menschen geht einher mit der Möglichkeit einer jederzeitigen Lokalisierbarkeit der Nutzer. Die Diskussion um den Überwachungsstaat Orwell'scher Prägung erhält hier neue Nahrung. Weil für ein solches Netz die digitalen Funktechnologien ausgeweitet werden müssten, wird das Thema Elektrosmog noch aktueller. Ein Netz, das nie schläft, benötigt nicht nur eine ständige Energiezufuhr, sondern verlangt auch nach einer Lösung für den weltweit gigantisch wachsenden Energiebedarf.
"The Next Big Thing".
Auch wenn das Evernet in den USA
bereits als "The Next Big Thing", das ganz große Geschäft der
Zukunft, gehandelt wird, ist es bis dort ein weiter Weg. Die
notwendige Integration und Standardisierung der unterschiedlichen
Technologiefelder ist vorerst nicht in Sicht, und die
Endgeräteindustrie wagt sich bislang über den mehr oder minder
sinnvollen "Internet-Kühlschrank" nicht hinaus. Den
Always-on-Pionieren wie GPRS, I-mode oder die dritte
Mobilfunkgeneration, die uns mit der Einführung von UMTS
erwartet, fehlen die attraktiven Dienste-Ideen, die den Kunden
animieren, noch mehr Geld für Telekommunikation auszugeben.
Trotz dieser eher ernüchternden Bilanz steckt in der Vision
eines allgegenwärtigen Netzes das Leitbild für ein von unnötigem
technischen Ballast befreites Kommunikationsuniversum. Die
Potentiale für neue Formen der zwischenmenschlichen
Kommunikation, geschäftlicher Transaktionen und für den Übergang
in eine Knowledge Based Economy sind enorm. Insofern ist zu
hoffen, dass die IT-Industrie den notwendigen langfristigen Blick
hat und das Leitbild für eine nutzerzentrierte und
innovationsstrategische Neuausrichtung nutzt. Das Evernet ist
eben mehr als eine Technowelt. Es geht um die Schaffung einer
veränderten Erfahrungswelt, die von einer zunehmenden
Verschmelzung von Real- und Datenraum geprägt sein wird. Damit
aus den technologischen Optionen auch reale Märkte werden, bedarf
es einer Beschreibung und Erprobung von attraktiven
Nutzungskontexten auf der Grundlage vorhandener Nutzerinteressen.
Ohne die Begeisterung und das Engagement der Internetpioniere
wird das Evernet das bleiben, was es derzeit ist: eine weitere
technisch fixierte Vision.
Klaus Burmeister und Andreas Neef sind Zukunftsforscher und Geschäftsführer der Z_ punkt GmbH Büro für Zukunftsgestaltung in Essen, Karlsruhe und Berlin.
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