Im Zeichen des Panthers: die Wirtschaftskanzlei Osborne Clarke. | Folge 16 |
Zeiterfassung ist Old Economy pur. Kontrolle statt Vertrauen, Anwesenheitszwang statt Mitarbeitermotivation. Deshalb werden in Unternehmen, die auf den motivierten und engagierten Mitarbeiter setzen, als Erstes die Stechuhren auf den Sperrmüll verfrachtet. Warum es bei Osborne Clarke dennoch eine Zeiterfassung gibt, darum geht es in der heutigen Folge.
"Da wir noch sprechen, ist schon
entflohen die neidische Zeit: greif diesen Tag, nimmer trau dem
nächsten!", dichtete der römische Dichter Horaz einige Jahrzehnte
vor Christi Geburt. "Nutze den Tag!", heißt es heute etwas
nüchterner, denn Zeit ist wertvoll. Grund genug für das
Softwareunternehmen Best U. S. Holdings Inc., seinem nach eigenen
Worten "führenden serviceorientierten Zeit und Kosten sparenden
Softwarepaket für große Organisationen" den Namen "Carpe Diem" zu
geben.
Carpe Diem ist das Zeiterfassungssystem, das bei Osborne
Clarke unternehmensweit im Einsatz ist. Richtig gelesen: Bei
Osborne Clarke gibt es eine Zeiterfassung. Genauer: Es gibt sie für
die Anwälte, nicht für die Mitarbeiter. Für die gilt
Vertrauensarbeitszeit. Auf den ersten Blick mutet das ein wenig an
wie die chinesische Kulturrevolution, als Lehrer und Professoren in
blauen Drillich gesteckt und auf die Reisfelder geschickt wurden.
Mit sozialistischen Ideen hat die verkehrte Welt der
Osborne-Clarke'schen Zeiterfassung jedoch so gut wie gar nichts zu
tun. "Die Zeiterfassung dient in erster Linie der eigenen Kontrolle
und erleichtert es, seine Arbeit zu systematisieren", erläutert
Andreas Imping, der promovierte Head des
Arbeitsrecht-Teams.
Jede Minute wird zugeordnet.
Die Software-Stechuhr kann
selbstredend mehr als ihr tickender Vorläufer aus der
industriellen Ära. Ein "Electronic Time Sheet" erlaube es, die
aufgewendete Arbeitszeit exakt einzelnen "clients" (Mandanten)
und "matters" (Fällen) zuzuordnen, erläutert Marion Willems. Die
43-jährige Osborne-Clarke-Mitarbeiterin hat 18 Jahre für die
Computer- und Sprachenschule eines großen Industrieunternehmens
Trainings organisiert und schult nun Anwälte und Mitarbeiter im
Umgang mit E-Mail-, Zeiterfassungs- und
Dokumentenmanagementprogrammen. Bei einem Aufenthalt in der
Unternehmenszentrale in England hat sie sich das nötige
Fachwissen angeeignet.
In dem Programm wird für jeden separat abrechenbaren Fall
ein so genannter Smarttimer angelegt - eine elektronische
Stoppuhr, die per Mausklick aktiviert wird. Auf dem
Computermonitor öffnet sich ein kleines Fenster, in dem die Zeit
läuft. Wird ein neuer Smarttimer aktiviert, stoppt der aktuell
laufende automatisch. So lässt sich die Tagesarbeitszeit in
Häppchen aufteilen. In vielen Kanzleien solle das System in
erster Linie sicherstellen, dass genügend Zeit notiert wird,
kritisiert Stefan Rizor. "Die Zahl der abrechenbaren Stunden wird
dann zum Maßstab von Erfolg." Auch bei Osborne Clarke sind die in
Carpe Diem erfassten Zeiten Grundlage der Rechnungsstellung an
den Mandanten. Doch erwartet man deutlich weniger abrechenbare
Stunden von den Anwälten als die großen Law Firms. So gibt es
auch für Teambesprechungen, Meetings und Investment Time solche
Smarttimer, die sich bei Bedarf auf den Bildschirm holen lassen.
So kann jeder Anwalt exakt nachvollziehen, wofür er seine Zeit
verwendet.
Wie beim Simultanschach.
"Ob sie die Smarttimer aktuell mitlaufen lassen oder die Zeiten am Abend nachtragen, bleibt den Anwendern überlassen", erläutert Marion Willems. Denn es ist nicht jedermanns Sache, wie ein Weltmeister beim Simultanschach bei jedem Zug auf den Knopf der Uhr zu drücken. Andreas Imping zum Beispiel ist es zuwider, beim Anruf eines Mandanten den zugehörigen Smarttimer anzuschalten. Er notiert sich die Zeiten ganz konservativ auf einem Blatt Papier und überträgt die Daten am Abend in sein elektronisches Time Sheet. Vom Nutzen des Systems ist er gleichwohl überzeugt. "Man ist manchmal selbst erstaunt, mit welchen Dingen man die Zeit verbringt", sagt er. Selbstdisziplinierung ist für ihn der wichtigste Nutzeffekt des Systems. Von der Selbstkontrolle zur Kontrolle durch die Vorgesetzten ist es nur ein kleiner Schritt, beides liegt in der Praxis dicht beieinander. Imping weist den Gedanken jedoch weit von sich. "Es geht nicht darum, die Leute zu kontrollieren", betont er. Marion Willems sieht das ähnlich. Nach ihrem Eindruck empfinden die Mitarbeiter die elektronische Transparenz nicht als Kontrolle. "Dieses Thema wird gar nicht angesprochen", so ihre Erfahrung aus den Schulungen.
Mitarbeiter mit Vertrauensbonus.
Diejenigen, denen das Kontrollbemühen von Unternehmensseite üblicherweise gilt, haben mit Carpe Diem ohnehin nichts zu tun. Für die nicht-anwaltlichen Mitarbeiter nämlich gilt bei Osborne Clarke das Vertrauensprinzip. "Vertrauen gegen Vertrauen!", betont Andreas Imping. Das Problem sei nicht, dass jemand zu wenig arbeite, meint er. Im Gegenteil: "Die meisten Mitarbeiter arbeiten freiwillig eher mehr." Da gelte es gelegentlich gegenzusteuern. Imping ermuntert seine Mitarbeiter dann schon mal, einen Nachmittag frei zu nehmen oder am nächsten Morgen später zu kommen. Klar, die Arbeit müsse getan werden, aber Mehrarbeit auf Dauer soll es nicht geben. "Dann stellen wir lieber einen neuen Mitarbeiter ein."
Folge 17 erscheint am nächsten Montag.
Winfried Kretschmer, Journalist und Autor, arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.
© changeX [27.05.2002] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.