Richtig leben
Jeder entscheidet selbst, ob er dazu beitragen will, die Welt besser zu machen - ein Gespräch mit dem Philosophen Wilhelm Schmid.
Von Winfried Kretschmer
Man kann ja doch nichts tun: Nicht gegen die Schikane im Job, und gegen den Klimawandel schon gar nicht. Ausflüchte, wie man sie kennt. Philosophisch überhöht, besagt die Mutter aller Killerphrasen: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Falsch!, sagt ein Berliner Philosoph. Lebenskunst ist, nicht darauf zu schauen, was andere tun. Sondern was man in seinem eigenen Leben richtig machen kann. Für den Klimawandel heißt das: Handle so, dass du die Grundlagen deiner eigenen Existenz nicht ruinierst. / 23.12.08
Wilhelm SchmidWilhelm Schmid, geboren 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt.
Herr Schmid, das Jahr 1968 war auch in anderer Weise eine Zäsur: indem zum ersten Mal der Blick auf die Erde als Ganzes möglich wurde, nämlich auf dem Flug zur ersten Mondumkreisung. Sie sagen, diesem Blick von außen kam entscheidende Bedeutung für die Entstehung der ökologischen Bewegung zu. Was ist da passiert?
Vielen Menschen ist damals zum ersten Mal vor Augen geführt worden, wie unsere Existenz tatsächlich aussieht: Wir sind nicht mehr als ein winziger Punkt in der Weite des Weltalls. Interessant ist, dass im Laufe der 60er-Jahre die Hippie-Bewegung genau das von der NASA gefordert hat: Zeigt uns "whole earth", zeigt uns den ganzen Planeten. Sie hofften, damit ein Bewusstsein für die Verhältnisse auf unserer Erde zu schaffen. Allerdings hatten sie nicht das ökologische Bewusstsein im Auge, sondern eher das politische und ökonomische.
Sie sagen, es hat eine Umkehrung der Perspektive stattgefunden.
Ja, bis zu diesem Zeitpunkt haben die Menschen auf der Erde mit Fernrohren in das Weltall geschaut und dort die Sterne betrachtet und erforscht. Nun war es zum ersten Mal möglich, aus dem Weltall auf die Erde zu schauen und auf diese Weise Dinge zu sehen, die vorher nicht zu sehen waren. Zum Beispiel, dass der Planet keine nationalen Grenzen hat. Von diesem Zeitpunkt an hat die Erforschung des Planeten von außen begonnen. Und seither haben wir riesige Mengen an Daten gewonnen, wie es ökologisch um den Planeten steht.
Sie sagen nun, ökologische Lebenskunst bestehe darin, diese Umkehrung der Perspektive bewusst zu vollziehen. Was meinen Sie damit?
Das Überraschende an diesem Blick von außen auf den Planeten ist, dass er schon vor 2.500 Jahren stattgefunden hat. Damals natürlich nicht mithilfe von Raumschiffen, sondern mit einer bloßen gedanklichen Leistung, die man bereits bei Platon findet und später bei etlichen Kynikern und Stoikern. Sie haben ihr Publikum aufgefordert, alleine mithilfe ihrer Fantasie hinaus in den Weltraum zu fliegen, weit weg von der Erde. Dann, an einem fernen Punkt, sollten sie wenden und zurückschauen. "Was seht ihr?", fragten die Philosophen. "Richtig", war ihre Antwort, "ihr seht nur einen kleinen Punkt am Himmel, unter Tausenden und Millionen von anderen Sternen. Das also ist unsere Erde. Und das setzt nun in Verbindung damit, womit ihr euch gerade beschäftigt. Könnte es sein, dass ihr euch gerade in irrwitzigen Kleinigkeiten verliert? Unsinnige Streitereien ausfechtet? Während das Wichtigste doch die blanke Existenz auf diesem Planeten ist?"
Dieser Blick von außen ist die Visualisierung einer alten philosophischen Idee?
Ja, das ist eine Hilfestellung dafür, Wichtiges von Unwichtigem und Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden zu können. Alle Menschen, wenn sie älter werden, machen sich irgendwann Gedanken darüber, womit sie ihr Leben verbringen. Sie fragen sich: Was will ich in der verbleibenden Zeit noch machen? Will ich mich weiterhin mit Unsinn und Kleinzeug beschäftigen? Oder will ich dem nachgehen, was mich wirklich beschäftigt, was für mich persönlich die wichtigen Dinge im Leben sind? Solche Fragen sind aus der Distanz besser zu beantworten, als wenn man mitten im Leben steht. Es ist eine astronautische Erfahrung: Man sieht sich aus der Ferne auf diesem Planeten ein Leben führen und plötzlich werden die entscheidenden Dinge klarer. Zum Beispiel, wer die Menschen sind, auf die ich wirklich zählen kann. Das ermöglicht alleine die Distanz.
Sie werfen in Ihrem Buch nun eine sehr grundsätzliche Frage auf: Soll es eine Menschheit überhaupt geben und wenn ja, warum. Ist das Katastrophismus oder ist das eine philosophische Zuspitzung?
Nein, das ist nur eine nüchterne Hochrechnung, was im Laufe von Jahrhunderten passieren kann. Es ist einfach so: Wenn wir weitermachen wie bisher, dann ist absehbar, dass die Menschheit zumindest in beträchtliche Schwierigkeiten kommen wird. Nehmen Sie die Malediven. Dort erheben sich drei Inseln ungefähr 60 bis 80 Zentimeter über den Ozean. Sollte nun auch nur die prognostizierte Erhöhung des Meeresspiegels in diesem Jahrhundert eintreffen, dann wird es diese Inseln nicht mehr geben. Das ist kein Katastrophismus, sondern ganz einfach die Realität der Daten, wie sie mittlerweile vorliegen.
Nun sind die Auffassungen darüber, ob es eine ökologische Katastrophe geben wird, durchaus geteilt. Was folgt daraus für den Umgang mit Klimaskeptikern?
Ich kann niemanden überzeugen, der sich nicht überzeugen lassen will. Wir gehen dann eben in einen Abgrund. Punkt. Aus dem bloßen Zustand der drohenden Zerstörung kann kein Imperativ des Handelns abgeleitet werden: Aus einem Sein folgt kein Sollen. Jeder Einzelne muss für sich die Entscheidung treffen, wie er mit dem Klimawandel umgeht.
Sie sagen, jeder wählt. Nun könnte man ja, wenn es im Wortsinn ums Ganze geht, durchaus eine Verpflichtungsethik ableiten, wie es Teile der ökologischen Bewegung ja tun. Und dem Einzelnen per Staatsräson vorschreiben, was er zu tun hat.
Das wollen wir gleich zuspitzen. Verpflichtungsethik klingt sehr gut, funktioniert aber nur über Sanktionen, die mindestens angedroht, wenn nicht sogar vollzogen werden müssen. Was wollen wir ansetzen? Höhere Steuerbelastung für denjenigen, der seinen Pflichten nicht genügt? Oder Daumenschrauben? Was auch immer - eine Verpflichtungsethik ist der Menschen nicht würdig. Ich setze auf eine Verantwortungsethik: Menschen sollen selber zur Besinnung kommen können.
Nach welcher Maxime sollen wir handeln?
Handle so, dass du die Grundlagen deiner eigenen Existenz nicht ruinierst. Damit meine ich bildhaft gesprochen, dass du nicht den Ast absägen sollst, auf dem du selber sitzt. Das ist ein Akt der Selbstgesetzgebung - den kann einem niemand abnehmen: Er resultiert auf eigener Einsicht.
Das heißt für den Einzelnen: Er soll so handeln, wie er es für richtig hält, ganz unabhängig davon, was alle anderen tun?
Darauf beruht alle Lebenskunst. Schiel nicht ständig darauf, was der Nachbar tut, ob er etwas richtig oder falsch macht. Sondern schau erst darauf, was du in deinem eigenen Leben richtig machen kannst. Und betrachte es als Bestandteil deines Lebens, dass du auch eine politische Wahl zu treffen hast.
Dieser Haltung wurde sehr oft schon mit einer mächtigen Keule begegnet, nämlich Adornos Diktum, es gäbe kein richtiges Leben im falschen. Und Sie kontern dieses Argument nun gerade mit Adorno ...
� ja. Das lag mir sehr am Herzen. Dieses berühmte Diktum, das so vielen als Argument dafür dient, dass sie gar nichts tun können, hat Adorno selber korrigiert, als er gesehen hat, welche fatalen Folgen es hat, wenn Menschen die Hände in den Schoß legen und ihr Nichtstun mit dem Satz begründen, es gebe kein richtiges Leben im falschen. Soll heißen, ich kann ja nichts richtig machen, solange die Umgebung falschliegt, denn daran kann ich nichts verändern, weder in der Gesellschaft noch im privaten Bereich. Gerade in Letzterem ist es noch schwieriger: Denn hier stößt man auf die eigenen Gewohnheiten. Und Gewohnheiten zu verändern ist fürchterlich schwer - aber es geht. Adorno hat sein Diktum schließlich in einer Vorlesung korrigiert: Er meinte, man solle stets so zu leben bemüht sein, "wie man in einer befreiten Welt glaubt, leben zu sollen, gleichsam durch die Form der eigenen Existenz, mit all den unvermeidbaren Widersprüchen und Konflikten, die das nach sich zieht, versuchen, die Existenzform vorwegzunehmen, die die eigentlich richtige wäre". Lebenskunst ist demzufolge in meinen Augen der Versuch zu einem richtigen Leben im falschen, der Versuch also, mit eigenem Nachdenken das Leben so zu orientieren, wie es richtig erscheint, selbst wenn das gesellschaftliche Umfeld auf dem falschen Weg sein sollte.
Das erleben wir ja derzeit: Dass viele Menschen sich nicht davon abhängig machen, was andere denken und tun, sondern im eigenen Handeln, in der Entfaltung des eigenen Lebensstils, so zu leben versuchen, wie sie es für richtig halten.
Ich sehe, dass sich eine immer größer werdende Zahl zuerst am eigenen Verhalten orientiert. Und nur aus diesem Grund ist Deutschland eine der avanciertesten ökologischen Gesellschaften auf diesem Planeten geworden: weil einige wenige sich aufgemacht haben. Nicht die ökonomischen oder politischen Verhältnisse in Deutschland haben diese Veränderungen herbeigeführt, sondern das waren die wenigen, die anfangs Hohn und Spott auf sich genommen haben. Man hat über die "Müslis" und die alternativen "Wollsockenträger" gelästert, wie sie damals genannt wurden. Aber wir sehen im Rückblick, was daraus in 20, 30 Jahren geworden ist: eine signifikante ökologische Veränderung, von der wir heute hoffen müssen, dass sie noch ein ganzes Stück weiter geht. Im Grunde sind alle Elemente der Veränderung, die wir in der Ökologie brauchen, heute bereits da. Das heißt nicht, dass wir nicht noch mehr Kreativität in diesem Bereich gebrauchen können, gerade in der Technik. Das betrifft zum Beispiel den Automobilsektor, vermutlich das entscheidende Feld für die Ökologie. Wenn hier die ökologische Umgestaltung gelingt, dann gelingt die Umgestaltung der Gesellschaft insgesamt.
Sie sind also der Meinung, wenn sich jeder Einzelne in seinen Entscheidungen, in seinem Lebensstil, verantwortlich für das Ganze fühlt, dann kann das die Probleme der Welt lösen?
Natürlich. Wenn ich jedes Mal, wenn ich Kaffee oder Tee kaufe, stur fair gehandelten Kaffee und fair gehandelten Tee kaufe, dann wird irgendwann auch der Massenversorger um die Ecke fair gehandelten Kaffee und Tee in seinen Regalen haben - ich spreche von etwas, das stattgefunden hat! Heute können Sie fair gehandelte Waren und Bio-Produkte um die Ecke kaufen. Das zeigt: Da lässt sich etwas in Gang bringen. Und im Laufe der Zeit wird daraus eine Massenbewegung.
Und damit entsteht der "kosmopolitische Citoyen", wie Sie sagen, also ein Bürgerbewusstsein auf globaler Ebene?
Das ist die wichtigste Veränderung, die wir im Zeitalter der Globalisierung brauchen. Denn die globalisierenden Kräfte in der Ökonomie müssen kontrolliert werden, und zwar von den Menschen, die sich als globale Bürger betrachten - also als Weltbürger, deren Bewusstsein nicht an nationalen Grenzen endet. Das ist die wichtigste kontrollierende Instanz, die wir für die Globalisierung brauchen.
Also Kants Vision vom Weltbürger?
Das ist wahr, Kant ist der erste Denker der Weltgesellschaft gewesen. Wir brauchen den kosmopolitischen Citoyen, der sich einmischt. Der nicht auf der Couch sitzt, wie der Bourgeois. Sondern der sich interessiert für das, was in seiner Gesellschaft geschieht. Der sich bewusst als Teil der Gesellschaft betrachtet und darauf sein Leben einrichtet.
Es kommt tatsächlich auf jeden Einzelnen an?
Das ist keine Frage: Es kommt auf jeden an. Jeder Einzelne kann dazu beitragen, das Ruder herumzuwerfen.
Winfried Kretschmer ist leitender Redakteur und Geschäftsführer bei changeX.
Wilhelm Schmid:
Ökologische Lebenskunst.
Was jeder Einzelne für das Leben auf dem Planeten tun kann.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008,
150 Seiten, 7 Euro.
ISBN 978-3-518-46034-4
www.suhrkamp.de
www.lebenskunstphilosophie.de
© changeX [23.12.2008] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.


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Zum Buch

: Ökologische Lebenskunst.. Was jeder Einzelne für das Leben auf dem Planeten tun kann.. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 150 Seiten, ISBN 978-3-518-46034-4

Ökologische Lebenskunst.

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Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.

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