Diese Geschichte sollte ein Puzzlebaustein einer Story werden, deren Dimension sich erst langsam erschloss. Eine Story, die die verbreiteten betriebs- und volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen in einer Art infrage stellte, dass man meinen könnte, der Kapitalismus sei zu einem einzigen Zwecke, nämlich zur Erfüllung der kommunistischen Utopie, geschaffen worden.
Dass ausgerechnet eine der luxurierendsten Errungenschaften der Neuzeit, das Fliegen, zu einer kommunistischen Volksverwöhnung wurde, entbehrt nicht der tieferen Ironie. Schließlich behauptet die marktwirtschaftliche Ideologie ja hartnäckig, der Preis von Gütern würde durch ihre Knappheit, durch Angebot und Nachfrage bestimmt. Wenn man aber das Kerosin von der Benzinsteuer befreit und die Flugzeuge mit Steuermilliarden entwickelt und verkauft werden, dann gibt es irgendwann so viele Flugzeuge und Flughäfen, dass nicht nur jeder Jugendliche aus Bottrop, sondern auch jeder Rentner aus China zum Fliegen animiert werden muss, um die permanente Auslastung zu gewährleisten.
Alles umsonst.
Meine Söhne lauschten gespannt, als
ein befreundeter Unternehmensberater uns erzählte, er habe das
elysische Stadium eines HON erreicht. Diese Abkürzung für
"Honorable" ist ein internes Codewort für eine äußerst intime
Auszeichnung, die nur nach der intensiven Analyse der Flugreisen
des Ausgezeichneten vergeben wird. Nur wer innerhalb zweier
aufeinanderfolgender Jahre auf regulären Linienflügen mehr als
600.000 Flugmeilen mit Airlines der Star Alliance zurücklegt,
wird HON. Unser Bekannter erzählt, dass HONs in allen
First-Class-Lounges alles umsonst bekommen, Internet, Telefon und
Fax inbegriffen. HONs dürfen das Flugzeug als Erste verlassen und
als Letzte betreten. Wenn ein HON verspätet zu seinem
Anschlussflug landet, transferiert ihn eine Limousine direkt vom
Rollfeld zu dem Anschlussflug, der auch ein paar Minuten wartet,
wenn es darauf ankommt. Und nicht zuletzt bekommt er alle
Tageszeitungen kostenlos nach Hause geliefert,
Financial Times, Handelsblatt, Süddeutsche Zeitung,
Frankfurter Allgemeine, Welt, Herald Tribune, Financial Times
Deutschland. Manchmal gibt er uns die nach seinen Flugorgien
liegen gebliebenen Stapel. Flugzeuge und Flughäfen werden bereits
von kostenlosen Zeitungen und Zeitschriften überschwemmt, HONs
werden überflutet. Flughäfen und Airlines sind offenbar ein
Hauptanziehungspunkt einer besonderen Form von Ökonomie, in der
Waren und Dienstleistungen nicht, wie sonst üblich, verkauft,
sondern kostenlos abgegeben werden: der Geschenkökonomie.
Ihre Wurzeln sind nicht leicht zu ergründen. Von den alten
griechischen Seefahrern wird berichtet, dass sie ein ganzes
Schiff nur zur Besänftigung von Neptun bauten - und das nagelneue
Schiff versenkten. Als Potlach bezeichneten die Chinook-Indianer
ein orgiastisches Fest, das ausschließlich dem Beschenken der
Gäste diente. Wer je einmal in Osteuropa, Arabien oder Asien von
einer Sippe eingeladen wurde, kann noch immer ähnliche
Erfahrungen mit Großzügigkeit und Üppigkeit machen. Während hier
Schenken und die Opfergabe im Mittelpunkt standen, rückte in
neuerer Zeit dann das Geschäft in den Vordergrund. So wird vom
amerikanischen Ölmagnaten John D. Rockefeller berichtet, sein
Reichtum gründe darauf, dass er den Goldgräbern im Wilden Westen
Petroleumlampen geschenkt habe - um ihnen anschließend für gutes
Geld Petroleum zu verkaufen. Diese Geschichte wird zwar immer
wieder kolportiert, ließ sich aber nicht bestätigen. Dafür eine
andere, ziemlich ähnliche, die allerdings an einem gänzlich
anderen Schauplatz spielte. Man schrieb das Jahr 1928. Die Burmah
Oil Company fusionierte in Indien mit der Asiatic Petroleum. Auf
der Suche nach neuen Absatzmärkten hatte man die geniale
Marketingidee, in den entlegensten Dörfern Indiens kostenlos
Petroleumlampen zu verteilen. Irgendwann, so die Kalkulation,
würde das mitgelieferte Petroleum ausgehen und die Burmah Oil als
einziger Lieferant zahlreiche Dauerkunden gewinnen. Die Rechnung
ging auf. Als Bharat Petroleum Corporation existiert die
Gesellschaft noch heute. Sie gehört zu den 500 größten
Unternehmen der Welt.
Ein Danaergeschenk?
Oder war das der Beginn der
Geschenkökonomie: Das mit Kriegern gefüllte hölzerne Pferd, das
die listigen Griechen, auch Danaer genannt, nach Troja
einschleusten, nannte man auch ein "Danaergeschenk". Bis heute
bezeichnet dieser Begriff ein Geschenk, das sich dem Empfänger
als unheilvoll und Schaden stiftend erweist. Darauf geht wohl
auch der für PC-Besitzer leidvolle Begriff des "Trojaners"
zurück, also eines Softwarebausteins, der, auf einen Rechner
eingeschleust, dort sein unheilvolles Eigenleben entfaltet.
Überhaupt ist die Computerwelt ein beliebtes Spielfeld der
Geschenkökonomie. Mitte der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts
entwickelte beispielsweise die US-Softwareschmiede Adobe ein
plattformübergreifendes Dateiformat für Dokumente, PDF genannt.
Den zugehörigen Acrobat Reader gab es selbstverständlich
kostenlos. Damit aber entstand Bedarf für die ebenfalls von Adobe
vertriebene Software zur Erstellung von PDF-Dokumenten. Erst seit
kurzer Zeit gibt es auch dafür wiederum kostenlos herunterladbare
Software. Adobe ging es so gut, dass sie die nach dem gleichen
Modell arbeitende Firma Macromedia übernehmen konnten, die durch
ihren Flash-Player jedem Internetnutzer ein Begriff ist. Mit
einem Kurs von derzeit 35 Dollar hat Adobe viele andere
Softwareanbieter überlebt und zählt mit Microsoft und SAP zu den
größten Softwareunternehmen der Welt. Erfolg qua
Geschenkökonomie.
So verwundert es nicht, dass man heute meist an kostenlose
Software, sogenannte Freeware, denkt, wenn es um Geschenkökonomie
geht. Doch die Währungen der Geschenkökonomie sind zahlreich und
laufen immer auf das Gleiche hinaus. Ein Drucker für 49 Euro, bei
dem jede Patrone auch 49 Euro kostet. Ein durch fünf Werbeinseln
zerfledderter Spielfilm, der einem die wertvolle Freizeit nimmt.
Das schlechte und komplizierte, werksseitig mitgelieferte
Programm auf dem PC. Der Geschenkgutschein, den man nur in der
Filiale einlösen kann. Freiflüge, die nach einem Jahr verfallen.
Kostenlose Telefonminuten für Netze, in die man nie anruft. Das
Probeabonnement, das man vergisst, abzubestellen. Der Rabatt beim
Neuwagen, den man auch so für dieses Auslaufmodell bekommen
hätte. Die Geschenkökonomie - ein Umschlagplatz für
Danaergeschenke?
Ein unerwarteter und unerhoffter Vorteil.
Geschenkökonomie - zunächst klingt
das nach Wunder und unverhofftem Reichtum. "Gratuliere, Sie haben
soeben einen neuen 3er BMW gewonnen", heißt es im Internet. Nun,
Menschen wie mich, denen ein 3er BMW aus Komfortgründen als
Strafe erscheint, wird man damit nicht ködern können. Aber die
Verheißung von Geschenken spricht doch eine Seite an, die man in
der Wohlstands- und Überflussgesellschaft so gar nicht erwartet:
eine bemitleidenswerte Mangelhaltung, aus der heraus einem selbst
nichtige Gaben wie ein Lottogewinn erscheinen. Wie kann das sein?
Welche Menschen - außer vielleicht Langzeit-Hartz-IV-Empfänger -
können einem Gutschein über zehn Euro noch so viel abgewinnen?
Die überraschende Antwort: viele, alle. Spieltheoretiker haben
sich intensiv mit Gewinnsituationen befasst und dabei
festgestellt, dass die Angst vor Verlust größer ist als die
Freude über Gewinn. Dennoch freut man sich über einen Gewinn, der
unverhofft kommt. In Großbritannien hat ein Fernsehteam einmal
Zehn-Pfund-Scheine in Telefonzellen liegen lassen und
anschließend gefilmt, wie sehr sich die glücklichen Schatzfinder
freuten. Sie freuten sich auch noch, als nur ein Pfund dort lag.
Halten wir also fest: Eine Geschenkökonomie beginnt mit
einem unerwarteten und unerhofften Vorteil.
"Beim Kauf einer Villa in unserem Golf Resort Eulalia
erhalten Sie einen Mercedes der A-Klasse kostenlos dazu." Ein
solcher Gutschein für ein 30.000-Euro-Auto klingt schon nach
etwas. Die Villa allerdings kostet 650.000 Euro, und allein die
monatliche Nebenkostenpauschale für Gärtner, Pförtner, Security,
Pool und Golfplatz beträgt rund 1.000 Euro - da relativiert sich
doch die Größe des Geschenks.
Der Straßenmusikant vor Tengelmann bietet mir seine CD als
Geschenk an. Ich lehne freundlich ab, da er mir schon einmal eine
geschenkt hat. Er ist ein besessener Geschenkökonom. Die CD ist
übrigens gar nicht so schlecht, wie sein Spiel vermuten lässt,
wenn er "When the Saints Go Marching In" auf einer Westerngitarre
spielt. Aber ein umwerfendes Geschenk ist die CD dann doch
nicht.
Im Feld der ökonomischen Begünstigungen.
Was lernen wir daraus?
Offensichtlich ist es für die Attraktivität eines Geschenks
entscheidend, dass es auf einen Mangel trifft. Mangel, nach fast
50 Jahren andauerndem Wirtschaftswunder? Das klingt absurd. Wie
kommt es, dass wir uns noch immer als benachteiligte Mängelwesen
fühlen, obwohl doch die meisten von uns in Wohlstand gebettet
sind? Und wir in einer historisch nie gekannten Massenverbreitung
von Luxus und Freizeit leben? Der Philosoph und
Kulturwissenschaftler Peter Sloterdijk hat dazu sehr provokante,
allerdings sehr kompliziert vorgebrachte Ansichten. In seinem
Kapitel "Auftrieb und Verwöhnung", das sich im dritten Band
seiner Anthologie
Sphären findet, schreibt er: "Wer sich bereits im Feld der
ökonomischen Begünstigungen befindet, wird in den Strömen der
Wunsch-Raffinerie mitbewegt, die das Begehren der Vielen in
zahllose Richtungen elaboriert." Sloterdijk sieht eine
"universelle Kleptokratie" am Werke, in der alle an einer
verwöhnenden Allmutter des Wohlstandes saugen, darin aber immer
unzufriedener werden und dabei den "Miserabilismus"
hervorbringen: die Notwendigkeit, ständig neue Mangelgebiete zu
entwickeln, die einen dann den erreichten Reichtum nie genießen
lassen. Kinderarmut. Dritte Welt. Klimakatastrophe. Sloterdijk
meint das nicht zynisch. Für ihn sind wir längst in einer Kultur
des grenzenlosen Schenkens angelangt, wagen es aber nicht, uns
diesem paradiesischen Zustand hinzugeben. Stattdessen geben wir
Wachstumsparolen aus wie in der Nachkriegszeit und werden täglich
gemahnt, "den Gürtel enger zu schnallen".
Dabei hätte gerade Deutschland allen Grund, 60 Jahre nach
Kriegsende endlich den erreichten Wohlstand zu genießen.
Stattdessen wird bereits die Entlassung von 2.000 der
mittlerweile 41 Millionen in Lohn und Brot stehenden Bundesbürger
als nationales Desaster zelebriert. Die historischen Höchststände
in Sachen Wohlstand werden in der Tat nicht gerade freudig
gefeiert. Regierung, Arbeitgeber, Arbeitnehmer verbindet eine
Kultur des Meckerns und Jammerns zu jeder Gelegenheit. 2007 wurde
Deutschland bereits zum fünften Mal in Folge Exportweltmeister -
und was passierte: Man beklagte, dass es wohl das letzte Mal sein
werde, weil China so stark aufhole. Mal sind wir dabei
"abzusteigen", dann wird wieder "der Anschluss" verpasst.
So verwundert es auch nicht, dass die Geschenkökonomie in
Deutschland keinen leichten Stand hat. Businesspläne, die auf für
Endverbraucher kostenlosen Diensten beruhen, haben in Deutschland
nur kurz vor dem Crash der New Economy eine Chance gehabt. Der
deutsche Venture-Capital-Geber sieht immer noch lieber den
Medikamentenentwickler, den Werkstoffzauberer oder den
Solaringenieur als den Entwickler von Freeware. Die
Bürgschaftsbanken der Länder und des Bundes, etwa die KfW
Bankengruppe, lehnen nämlich Kapitalgarantien für Unternehmen ab,
deren Verbreitungsmodell auf Freeware beruht. Der Blick in den
Haushalt des Bundesministeriums für Wirtschaft zeigt, warum: Da
waren im vergangenen Jahr 1,94 Milliarden für die
zukunftsweisende Steinkohleförderung vorgesehen (Etatposten 01),
aber nur 48 Millionen für die Zinszuschüsse des gesamten
deutschen Mittelstandes (Etatposten 06) für ERP-Darlehen.
Wir bezahlen mit Lebenszeit.
Wir lernen: Einer Geschenkökonomie
liegt ein Businessplan zugrunde. Wer schlau ist, sorgt dafür,
dass der vermeintlich Beschenkte das Produkt nicht ablehnen kann,
indem er es fest an ein anderes Produkt koppelt. Ein
Danaergeschenk also. Wer einen Laptop kauft, muss ein Windows
Vista dazunehmen, obwohl er schon ein Windows 2000, zwei Windows
2003 und ein Windows XP hat. Microsoft veröffentlicht keine
Zahlen darüber, wie viele Menschen sich Microsoft-Produkte
kaufen, aber es dürften nicht sehr viele sein. Die meisten müssen
sie als Geschenk akzeptieren. So wie junge Paare aus Köln im
Urlaub dahin fliegen müssen, wo der 15-Euro-Flug hingeht: im
Februar nach Dublin, im Juli nach Agadir. Hausfrauen fahren
Hunderte Kilometer mit dem Auto, um ihre Rabatte dort einzulösen,
wo sie sie einmal erhalten haben.
Die Werbung versucht, die Geschäftsmodelle der
Geschenkökonomie zu kopieren, ohne ihren Sinn begriffen zu haben.
"Wenn Sie zwei Schnitzel bestellen, bekommen Sie ein drittes
gratis!" - diese Werbung hat mich immer amüsiert. Würden wir
wirklich zu zwei VW Golf auch noch einen dritten haben wollen?
Unerfahrene Mitspieler der Geschenkökonomie glauben, dass bereits
eine höhere Quantität als Geschenk empfunden wird. Bei
Schweinefleisch und VW Golf ist das allerdings nur bedingt der
Fall. Auch Freiminuten in Netze, in die man nicht telefoniert,
sind keine Geschenke. "Bestellen Sie unseren kostenlosen
Newsletter" - gibt es denn einen kostenpflichtigen Newsletter?
Das ehrwürdige
Wall Street Journal, das zwei Jahre lang versuchte, seine
Inhalte nur noch zahlenden Benutzern anzubieten, hat dies nun
aufgegeben. Bezahlte Inhalte laufen nur in Nischen, nicht bei
Nachrichten oder Börsenkursen, die es überall gratis gibt.
Geschenkökonomie pur. Die Nachrichten kommen längst nicht mehr
täglich, sondern minütlich daher. Wir haben sie als Geschenk
akzeptiert. Doch wir bezahlen mit Aufmerksamkeit, also mit
unserer Lebenszeit - einer Währung, deren Kurs im Laufe der Zeit
steigt, weshalb die Geschenkökonomen gerne die Zielgruppe der 14-
bis 49-Jährigen ansprechen. Denen ist noch nicht bekannt, wie
viel Zeit sie opfern - und dass sie diese Zeit auch sinnvoller
verbringen könnten. Und doch können wir stolz sein,
offensichtlich über solche Mengen an verfügbarer Zeit zu
verfügen, dass Peter Sloterdijk von einer "Massenentlassung der
Einzelnen in ihre eigene Lebenszeit" spricht. Mussten nämlich
1850 die Menschen noch 4.000 Stunden jährlich arbeiten, fast die
Hälfte ihrer Jahreszeit, sind nun gerade 1.700 Stunden übrig
geblieben. Nach dem korrekten Abzug von acht Stunden täglicher
Schlafzeit bleiben nach Sloterdijk deshalb von 8.760 Stunden
jährlich ungeheure 4.140 Stunden disponibel. Damit ist für
Fernsehen und Software ein dauerhafter Markt vorhanden, auf dem
sich unzählige Businesspläne tummeln können.
Wir stellen fest: Geschenkökonomie braucht tauschbare,
nicht monetäre Güter, etwa Lebenszeit oder Gesundheit. Wir
tauschen sie in der Hoffnung, einen fiktiven Mangel zu beheben.
Das kann ein Mangel an Gütern, an Komfort oder an Lifestyle sein.
Vor dem Fernseher geben wir unsere Zeit her, da wir nicht wissen,
was wir mit so viel Zeit anfangen sollen. Viele Frauen werden mit
58 pensioniert und leben dann bis 90. Was sollen sie in diesen 32
Jahren unternehmen?
Die Geschenkökonomie wird Antworten liefern. Kinder müssen
zumindest in der Grundschule bereits um zwölf Uhr nach Hause.
Dabei entsteht täglich eine derartige Freizeitblase, dass weder
Fernsehen noch Playstation noch Vereinssport und Konsum auch nur
im Entferntesten in der Lage wären, sie auszufüllen. Zurück zu
dem Beispiel aus Indien: Auf den Dörfern war es derart
zappenduster, dass eine Petroleumlampe als buchstäbliche
Erleuchtung erschien.
Es gibt aber auch viel banalere Gründe, die zur Zunahme von
Geschenken führen: die Überproduktion zum Beispiel. Nehmen wir
die Altkleidung. Wir geben sie zur Kleidersammlung des Roten
Kreuzes, das diese wiederum nach Afrika bringt. Man kann sich
leicht ausrechnen, dass Afrikaner vielleicht nicht ganz so viel
Kleidung brauchen. Jedenfalls ist seitdem die afrikanische
Bekleidungswirtschaft, von der Näherin bis zum
Pulloverfabrikanten, zusammengebrochen. Gegen zwei Milliarden
Kleidungsstücke aus Deutschland ist jeder Händler machtlos. Auch
Milch wird in Afrika nicht mehr produziert, seit wir unsere
Milchüberschüsse dorthin entsorgen. Der Entwicklungshilfe
genannte karitative Gütertransfer von Medikamenten, Wasserpumpen,
Pick-ups, von Radios und Telefonen, Druckern, Laptops und
Wasserentsalzungsanlagen verdirbt überall die Märkte.
Beschenkte sind wir doch alle.
Trotzdem wäre es falsch,
Geschenkökonomie nur unter den Gesichtspunkten von Produktion,
Marketing und Absatz zu betrachten. Geschenkökonomie beginnt im
Grunde viel früher, bei der Schöpfung aus dem Nichts, der
creatio ex nihilo: Wenn nämlich nicht schon etwas da wäre,
dann gäbe es auch nichts, was sich daraus entwickeln könnte. Im
Englischen nennt man dieses Etwas
the commons: das, was allen gehört. Luft, Wasser, Erde,
Natur eben. Unser Wohlstand beruht zum guten Teil auf diesen
Geschenken der Natur. Je talentierter eine Gesellschaft diese
Geschenke nützt, desto wohlhabender ist sie. Die Deutschen mögen
vielleicht in der Softwarewirtschaft schlecht abschneiden, wenn
es aber um die Verfügbarkeit von Allgemeingütern geht, ist
Deutschland Weltspitze. Wo sonst, außer in einer paar west- und
mitteleuropäischen Ländern, kann man fast überall frei auf
Wanderwegen in die Natur gehen, klares Wasser aus der Quelle
trinken? Und wo sonst bekommt jedes Kind in 25 Jahren
zusammengerechnet bis zu 46.200 Euro Kindergeld - ohne
Verzinsung. Würde das Geld angelegt, wären es etwa 75.000 Euro.
Wo kann man - sofern man es cool genug findet - umsonst zur
Schule gehen und mit BAföG studieren? Auch im Krankenhaus fragt
in Deutschland niemand, ob man versichert ist.
Unsere Geschenkökonomie ist größer, als man vermuten
könnte, und sie ist keineswegs nur eine durchschaubare
Marketingaktion. Offensichtlich gehen wir mit unserem Reichtum
doch weitaus freigiebiger um, als es das Berufsgejammer und
Geiz-ist-geil-Werbesprüche erwarten lassen. Ja es scheint, als
mache es uns Freude, zu schenken. Wir mögen an uns selbst oft
sinnlos sparen - wenn es um andere geht, ziehen wir gerne die
Spendierhosen an. Wer weiß, vielleicht ist Deutschland
wirtschaftlich nur deshalb so erfolgreich geworden, weil Deutsche
in vielen Ländern als Pioniere am Aufbau mitgewirkt haben? Was
wären Liechtenstein, Luxemburg und die Schweiz ohne deutsche
Fluchtgelder, der Nahe und Mittlere Osten ohne unsere
Schmiergelder, Afrika und Lateinamerika ohne unsere
Entwicklungshilfe? Gibt es ein einziges Ökodorf irgendwo auf der
Welt, in dem nicht bereits eine deutsche Touristin 200 Euro
gelassen hat? Wo auf der Landkarte gibt es ein Entwicklungsland,
dem wir noch nicht einen Masterplan zum Aufbau seiner Verwaltung
und Verkehrsinfrastruktur geschenkt haben? Der deutsche Staat mit
seinen Tausenden internationalen Förderprogrammen ist eine
verwöhnende Allmutter, an deren Brüsten längst die ganze Welt
saugt. Durch weitgehenden Verzicht auf Steuern auf Güter und
Vermögen ermöglicht er den Transfer deutscher Wertgegenstände wie
Porsches, Mercedes, Audis und BMWs, von Immobilien und
Firmenanteilen ins Ausland. Im Grunde ist alles subventioniert.
Der gesamte deutsche Export ist eine Geschenkökonomie, solange
der deutsche Staat lieber weitere Schulden macht, anstatt
Vermögen und Güter zu besteuern, nicht nur kleine
Erwerbseinkommen und den Schokoriegel am Kiosk.
Aber man kann wohl kaum leugnen, dass diese
Geschenkökonomie ungeheuer erfolgreich ist und letztlich auch die
Heimat zum entspannten Paradies für Lebenszeitüberschüsse macht:
Frei von Luftverschmutzung, Lärm und 60-Stunden-Woche genießt der
weitaus überwiegende Teil der 82 Millionen Menschen in
Deutschland entweder mit der Bierdose vorm Fernseher, im
Fitnessstudio und im Fußballstadion oder aber mit Champagnerglas
auf dem Golfplatz oder Prosecco im Theater die Zeit bis zum immer
ferner rückenden Ableben. Beschenkte, das müssen wir zugeben,
sind wir doch alle.
Alexander
Dill, Softwareunternehmer, Philosoph und Buchautor, lebt mit
seinen drei Söhnen (22, 20, 2) in Oberbayern.
Mit einer Illustration von Limo Lechner.
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