Dabei waren die Hoffnungen groß, dass ein florierender Weltmarkt maßgeblich dazu beitragen könnte, Armut und Unterentwicklung zu überwinden. Ein Trugschluss, meinen Joseph E. Stiglitz und Andrew Charlton. Denn Handelsöffnung vermag zwar die Effizienz der Wirtschaft zu steigern. Aber wie die daraus resultierenden Gewinne derzeit im Erdenrund verteilt werden, ist weder fair noch zukunftstauglich: "Wir behaupten, dass das Welthandelssystem einer kompletten Überarbeitung bedarf", sagen der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger und sein Co-Autor. Und entwerfen in ihrem neuen Buch eine globale Handelsarchitektur jenseits von ökonomischer Macht und starken Partikularinteressen.
Fakt ist, dass sich der Welthandel im vergangenen Jahrzehnt mehr als verdreifacht hat und auch einige Entwicklungsländer davon profitieren konnten, nicht aber die ärmsten Länder dieser Welt. Ihr Anteil am globalen Markt ist nicht nur verschwindend gering, sondern seit geraumer Zeit sogar rückläufig. In Lateinamerika hat er sich innerhalb der letzten Jahre halbiert, in Afrika ist er gar von sieben auf zwei Prozent gefallen. Zwar steht die globale Verteilungsgerechtigkeit spätestens seit den Protesten in Seattle auf der Agenda der internationalen Handelskonferenzen. Aber außer Lippenbekenntnissen hat sich bislang so gut wie nichts getan. Immer noch pumpt die EU Milliardensummen in ihre Landwirtschaft, obwohl nur zwei Prozent ihrer Bevölkerung davon leben. Und versperrt damit den Marktzugang für Entwicklungsländer, deren Arbeitsplätze, deren Exportraten und deren Inlandsprodukt maßgeblich vom Agrarsektor abhängen. Immer noch sind die OECD-Zölle auf Importe aus Entwicklungsländern viermal so hoch wie auf Einfuhren aus Industrieländern. Und immer noch verlangen die entwickelten Nationen hohe Zölle für Industriegüter, Bekleidung oder weiterverarbeitete Nahrungsmittel und erschweren damit die industrielle Diversifizierung der Entwicklungsländer. Eine bizarre Situation: Da fließen jährlich 100 Milliarden US-Dollar Entwicklungshilfegelder von den wohlhabenden zu den armen Ländern, gleichzeitig aber werden diese durch protektionistische Maßnahmen mit Kosten belastet, die dreimal so hoch sind.
Hilfe zur Selbsthilfe statt Almosen.
"Warum geben wir den ärmsten
Ländern Almosen, verweigern ihnen aber die helfende Hand, um ihr
Schicksal selbst zu meistern?", fragen Stiglitz und Charlton, der
derzeit an der London School of Economics forscht und als Berater
für die Vereinten Nationen und die OECD tätig war. Stiglitz
wiederum hat die Scheinheiligkeit des globalen Handelsregimes
bereits in seiner früheren Position als Chefvolkswirt der
Weltbank scharf kritisiert. Doch bei bloßer Kritik wollen es die
streitbaren Wirtschaftswissenschaftler diesmal nicht belassen.
Vielmehr präsentieren sie den konkreten Entwurf eines neuen
Handelsabkommens, das die Interessen und Sorgen der
Entwicklungsländer realistisch widerspiegeln und ihre
Partizipationschancen nachhaltig verbessern soll. Kernstück ihrer
Agenda ist nichts Geringeres als ein Paradigmenwechsel: Es geht
darum, die globalen Marktzugangsrechte so zu verteilen, dass die
größten Gewinne an die kleinsten und ärmsten Länder gehen,
während die größten und reichsten Länder am meisten
liberalisieren müssen. Dies soll durch eine relativ einfache
Vereinbarung verwirklicht werden: Die WTO-Mitglieder müssten sich
dazu verpflichten, all jenen Entwicklungsländern freien
Marktzugang zu gewähren, die ärmer und kleiner als sie selbst
sind.
Damit wären mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen.
Erstens würden in der internationalen Handelswelt klare und
bindende Rechte an Stelle von willkürlichen Präferenzsystemen
treten. Zweitens würde die Liberalisierung voranschreiten,
allerdings nicht frei nach dem Gusto der mächtigen
Verhandlungspartner, sondern kontrolliert und strukturiert unter
dem Primat der Gerechtigkeit. Und drittens könnten die
Entwicklungsländer vom Zugang zu größeren Märkten profitieren,
gleichzeitig aber ihre eigenen Märkte vor Billigimporten aus
mächtigeren Ländern schützen. Diese Art von Protektion sei
wichtig, so Stiglitz, weil Liberalisierung nur dann zum
Win-win-Spiel wird, wenn sich parallel zu der Marktöffnung auch
eine marktfähige Infrastruktur entwickeln kann, sprich:
Bildungsinstitutionen, Transportnetze, Banken, Versicherungen und
Sozialsysteme. "Keines der erfolgreichen Entwicklungsländer hat
dem Außenhandel einfach Tür und Tor geöffnet", argumentiert der
Wirtschaftswissenschaftler und führt als Beispiele China und
Indien an, die ihren Handel schrittweise liberalisiert haben,
gleichzeitig aber massiv in Bildung, Infrastruktur und
Technologie investierten.
Kröten für die Platzhirsche.
Stiglitz' Vorschlag zum Umbau des
Welthandelssystems ist provokant. Er rüttelt nicht nur an den
Grundfesten der globalen Machtverteilung, sondern auch am
etablierten Verständnis von Gerechtigkeit. Denn Fair Trade
verlangt von den reichen Ländern dieser Welt einiges mehr an
Leistungen, als sie im Gegenzug erhalten. Die Forderungsliste an
die Wirtschaftsmächte ist lang und schmerzhaft: Abschaffung
sämtlicher Agrarsubventionen, Beseitigung aller Zölle auf
Fertigungsgüter gegenüber den am wenigsten entwickelten Ländern,
größtmögliche Offenheit und Transparenz bei den Verhandlungen,
Öffnung der Landesgrenzen für ungelernte Arbeitskräfte und
arbeitsintensive Dienstleistungen. Ob die Weltmarktmächtigen
diese Kröten widerstandslos schlucken werden? Wohl kaum. Dennoch
argumentieren Stiglitz und Charlton nicht moralisch, um sie ihnen
schmackhaft zu machen. Statt an das Gewissen der globalen
Platzhirsche zu appellieren, untermauern sie ihre Agenda mit
einer Flut von handfesten ökonomischen Analysen. Und belegen mit
der Akribie des Wirtschaftswissenschaftlers, dass es besser um
die ärmsten Länder dieser Welt bestellt wäre, wenn sie zu fairen
Bedingungen am Welthandel teilnehmen könnten. So würde etwa der
globale Wohlstand um 150 Milliarden US-Dollar steigen, wenn nur
drei Prozent mehr Menschen aus Entwicklungsländern ihre
Arbeitskraft in reiche Nationen exportieren könnten. Dabei käme
ein Großteil dieser Summe, nämlich 80 Milliarden US-Dollar, den
Gastarbeitern selbst zugute. Natürlich würde eine solche
Liberalisierung zu Lasten der ungelernten Arbeiter in den
Industrienationen gehen. Aber, so wenden die Autoren ein, die
reichen Nationen verfügen bereits über soziale Sicherungsnetze,
um solche sogenannten "Anpassungsrisiken" abzufedern, während die
Entwicklungsländer diese Netze erst noch aufbauen müssen - durch
steigenden Wohlstand. Eine Argumentation, die zwar den deutschen
Arbeitslosen kaum überzeugen dürfte, die aber in aller
Nüchternheit aufzeigt, was unter echter Globalisierung zu
verstehen ist: Ein weltweiter Effizienzgewinn, der - klug
verteilt - auf Dauer alle reicher macht, die bereit zum Wandel
sind.
Jene Länder, die mehr als 80 Prozent des weltweiten Handels
unter sich aufteilen, allen voran Westeuropa und Nordamerika,
täten gut daran, ihre Protektions- und Subventionsmilliarden in
diesen Wandel umzuleiten. Indem sie in die Bildung ihrer
Bevölkerung investieren, indem sie Unternehmergeist fördern und
indem sie den Schwachen helfen, stärker zu werden - im eigenen
Land und rund um den Globus.
Gundula Englisch, Journalistin, Autorin und Filmemacherin, arbeitet als freie Redakteurin für changeX.
Joseph E. Stiglitz / Andrew Charlton:
Fair Trade.
Agenda für einen gerechten Welthandel,
Murmann Verlag, Hamburg 2006,
376 Seiten, 28.50 Euro,
ISBN 3-938017-63-5
www.murmann-verlag.de
© changeX Partnerforum [13.10.2006] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Joseph E. Stiglitz / Andrew Charlton: Fair Trade. . Agenda für einen gerechten Welthandel. . Murmann Verlag, Hamburg 1900, 376 Seiten, ISBN 3-938017-63-5
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Gundula EnglischGundula Englisch, Journalistin, Autorin und Filmemacherin, arbeitet als freie Autorin und Redakteurin für changeX.