Die dunkle Seite der Erfolgsstory.
Diese dunkle Seite der Erfolgsstory
ist das Thema ihres Buches
Die Joghurt-Lüge: Es will "die Mechanismen der Industrie
offenlegen und den Blick ins 'Eingemachte' erlauben". Das gelingt
den beiden Lebensmittelspezialisten recht gründlich. Marita
Vollborn arbeitete als Lebensmitteltechnologin im Management von
Langnese-Iglo, der Chemiker Vlad D. Georgescu beschäftigte sich
mit Nachweisverfahren und -grenzen der wichtigsten Schadstoffe
und Belastungssubstanzen. Heute arbeiten beide als freie
Wissenschafts- und Medizinjournalisten für verschiedene Medien.
Zwei Insider also, die gründlich recherchierte Informationen der
schnellen Skandalgeschichte vorziehen.
Die Lebensmittelbranche in Deutschland erwirtschaftet mehr
als 130 Milliarden Euro im Jahr und beschäftigt mehr als 550.000
Menschen. Sie ist der Gewinner der Erfolgsstory. Den Tribut für
die Vision von billigen Nahrungsmitteln zahlen indessen andere,
betonen Vollborn und Georgescu: die kleinen Landwirte, die unter
dem Preisdruck der Discounter ächzen und nicht selten ihre
Existenz aufgeben müssen. Die Verbraucher, die mit den modernen
Lebensmitteln ihre Gesundheit und Psyche gefährden. Und letztlich
die Gesellschaft, die die Folgekosten einer aus dem Lot geratenen
Ernährungsweise zu tragen hat. 75 Prozent aller Lebensmittel
werden bereits industriell hergestellt. Und die haben es in sich
- zu viel Zucker, zu viel Fett und eine ganze Litanei an
Zusatzstoffen: "Antioxidantien, Emulgatoren, Farbstoffe,
Konservierungsstoffe, Säuerungsmittel, Stabilisatoren,
Verdickungs- und Geliermittel sowie Zuckeraustauschstoffe und
Süßstoffe", zählen die Autoren die bekanntesten Beigaben aus den
Lebensmittellabors auf.
Essen aus der Retorte.
Und der Trend zur
Industrialisierung der Ernährung geht weiter. Functional Food
verwischt die Grenze zwischen Arznei- und Lebensmitteln,
gentechnisch erzeugte Nahrungsmittel drängen mit Vehemenz auf den
Markt, mit dem Einsatz von Nanotechnologie steht bereits der
nächste Entwicklungsschub bevor - ein Überzug aus
Titandioxid-Nanopartikeln, der Schokolade und Pralinen vor dem
gefürchteten sommerlichen Grauschleier schützen könnte, wurde
unlängst patentiert. In der Branche kursiert schon die Vision von
"interaktiven Lebensmitteln", die sich in Geschmack, Aussehen
oder Verträglichkeit den Kundenwünschen anpassen können. "Die
Nahrung der Zukunft wird sich von unserem heutigen Essen deutlich
unterscheiden", resümieren die Autoren. Dabei ist der Trend zum
synthetischen Industrie-Food bereits weit fortgeschritten. Drei
Beispiele aus dem Buch mögen dies illustrieren:
In Deutschland werden eine ganze Reihe von Käsesorten mit
dem Konservierungsmittel Natamycin behandelt. Auf der Käserinde
verhindert es die Schimmelbildung, in der Medizin ist der Stoff
als Breitbandantibiotikum geschätzt. Was kaum ein Konsument weiß,
der so "mit jedem Bissen der Antibiotikaresistenz Vorschub
leistet".
Schnellgerichte sind en vogue. Sie sehen appetitlich aus
und sind in der Mikrowelle schnell zubereitet. Tiefgekühlte
Frikadellen zum Beispiel, die aussehen wie frisch vom Grill. "Was
der Esser nicht weiß: Der Hackfleischkloß ist nie mit einem Grill
in Berührung gekommen." Die Bratfarbe stammt von Zuckercouleur,
einer Masse, die beim Erhitzen von Zucker und
Reaktionsbeschleunigern entsteht. Und die "appetitlichen Abdrücke
heißer Rostspuren stammen vom glühenden Gitter einer
Produktionseinheit, die dem Kochklops für wenige Sekunden ihr
Brandzeichen aufgedrückt hatte".
Schließlich der Joghurt - schon statistisch ein Rätsel,
weil die Erdbeerernte bei weitem nicht Verzehr und industriellen
Verbrauch der Frucht decken kann. Deshalb liegt der Fruchtgehalt
in Erdbeerjoghurt bei rund einem Prozent - maximal eine, im
Schnitt jedoch nur eine halbe Frucht ist das je 250-Gramm-Becher.
"Der Rest sind naturidentische Aromen, Zucker und, damit die
Illusion perfekt ist, 'Fruchtstücke'. Diese bestehen vorrangig
aus Obstabfällen und Pressrückständen, die mit Wasser, Zucker und
Zitronensäure aufbereitet wurden. Die notwendige Struktur
verleihen dem Fruchtimitat Dikalziumphosphat, eine aus Knochen
ausgefällte Kalziumverbindung, und Dickungsmittel aus Algen;
Farb- und Aromastoffe peppen es optisch auf." Die
Joghurt-Lüge.
Niemand durchschaut mehr, was er isst.
Marita Vollborn und Vlad D.
Georgescu belassen es allerdings nicht bei der nahe liegenden
Skandalisierung via Ekel-Effekt. Ihnen geht es grundsätzlicher um
das System der Ernährung, das sich unter dem Einfluss
industrieller Produktionsverfahren stillschweigend breitgemacht
hat. Und das unter der Hand auch die Kultur der Nahrungsaufnahme
verändert. Wissen um Zubereitungsarten, Konservierungsmethoden
und selbst die einfachsten Hygieneregeln geht verloren. Die
Konsumenten machen ihre Ernährung abhängig von dem, was die
Industrie ihnen vorsetzt - auf Treu und Glauben. "Niemand
durchschaut mehr, was er isst", lautet das nüchterne Fazit. Und
niemand kann sagen, wie die vielen Zusatzstoffe - miteinander und
auf den individuellen Organismus - wirken. Für Vollborn und
Georgescu ist das ein Argument, grundsätzlich über eine
Beweisumkehr nachzudenken: "Während eine therapeutische Substanz
eine Vielzahl von Hürden bis zur Zulassung nehmen muss, dürfen
Lebensmittel, die täglich und nicht nur in Ausnahmesituationen
konsumiert werden, mit Zusatzstoffen versetzt werden, deren
Sicherheit nicht eindeutig belegt ist."
Grund, grundsätzlich über Ernährung nachzudenken, gibt es
genug. Denn die Folgen schlechter Ernährung trägt letztlich die
Gesellschaft. Zu viel Fett und zu viel Zucker in den
Nahrungsmitteln und zu wenig Bewegung bilden einen
Teufelskreislauf, der zu krankhafter Fettleibigkeit führt. "Die
Folgen des ungebremsten Nahrungsmittelkonsums sind erheblich und
belasten mittlerweile die Volkswirtschaften." Die Ernährung ist
zu einem gesellschaftlichen Problem geworden, das dennoch nur von
jedem einzelnen Esser selbst gelöst werden kann. Das wissen auch
Vollborn und Georgescu.
Was wir essen, bestimmen wir selbst. .
Gemessen an dem, was die beiden Autoren dem Leser über gut 300 Seiten hinweg auftischen, gerät der Ausblick am Ende des Buches erstaunlich handzahm: Unter dem Motto "Erst informieren, dann kaufen" geben sie einen Überblick über die gebräuchlichen Qualitäts- und Gütesiegel, die dem Verbraucher die Orientierung erleichtern sollen, letztlich aber nur noch mehr Verwirrung schaffen. Als Schluss eines Buches, das sich betont industriekritisch gibt, wirkt das seltsam zahnlos - doch ist es konsequent. Denn letztlich wird jeder selbst entscheiden müssen, wem er glaubt und was er isst: "Was wir jeden Tag essen, bestimmen wir letzten Endes selbst. Darin liegt die größte Macht, die wir als Verbraucher haben", proklamieren Marita Vollborn und Vlad D. Georgescu. Ihr Fazit: "Selber kochen schützt." Für sich haben die beiden die Konsequenz gezogen: Sie sind "im Laufe der Recherchen für dieses Buch und nach Abwägung aller Aspekte ... überzeugte Bioprodukt-Käufer geworden".
Winfried Kretschmer, Journalist und Autor, arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.
Marita Vollborn / Vlad D. Georgescu:
Die Joghurt-Lüge.
Die unappetitlichen Geschäfte der
Lebensmittelindustrie,
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2006,
336 Seiten, 19.90 Euro,
ISBN 3-593-37958-9
www.campus.de
© changeX Partnerforum [17.08.2006] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
changeX 17.08.2006. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
Artikeltags
Campus Verlag
Weitere Artikel dieses Partners
Mit harten Bandagen. Die Autobiografie - das neue Buch von Carly Fiorina. zur Rezension
Der Unternehmer als Chef, Manager, Privatperson - das neue Buch von Peter May. zur Rezension
Der gewinnorientierte Manager - das neue Buch von Hermann Simon, Frank F. Bilstein und Frank Luby. zur Rezension
Zum Buch
Marita Vollborn / Vlad D. Georgescu: Die Joghurt-Lüge. Die unappetitlichen Geschäfte der Lebensmittelindustrie. Campus Verlag, Frankfurt am Main / New York 2006, 336 Seiten, ISBN 3-593-37958-9
Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon
Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.