Weiches Wasser pinkelt auf Stein
Verflüssigungen. Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft - das neue Buch von Adrienne Goehler.
Von Anja Dilk
Wir leben in einer Zeit des "Nicht mehr" und "Noch nicht". Nicht mehr versorgt werden und noch nicht eigene Wege gehen können. Wen wundert's, wenn die Kultur die Lücke schließen will. Kultur und Wissenschaft sollen den Beton weichmachen. Verflüssigen, damit der Gegenentwurf sichtbar wird.
Wenn an einem milden Berliner Frühlingsabend die Besucher dutzendfach in die Kunst-Werke Berlin strömen, wenn zehn Minuten nach Veranstaltungsbeginn grimmige Türwächter Gästen und Journalisten bockig den Eintritt verwehren, weil innen vor lauter Leibern kaum Platz ist, dann weiß man in der Hauptstadt: Es muss etwas Besonderes sein. Irgendwas, das die Leute schlingernd im Überangebot der Hauptstadt packt. Dass es mit Kultur zu tun hat, kann nur scheinbar verwundern.
Adrienne Goehler ist an diesem Abend gekommen, um mit Ex- ZEIT-Chefredakteur Roger de Weck über eine Idee zu diskutieren: Wie können Kultur, Künste und Wissenschaft unser Land retten? Wie können sie dem japsenden deutschen Sozialstaat und einer ratlos an seinen versiegenden Versorgungsschläuchen hängenden Gesellschaft wieder auf die Sprünge helfen, ihr Impulse, Orientierung, Mut geben? So schien es kein Zufall, dass die langjährige Präsidentin der Hamburger Hochschule für Künste und einstige Berliner Wissenschaftssenatorin, Adrienne Goehler, gerade in der Nacht der offenen Galerien zum gesellschaftspolitischen Diskurs über Kultur lud, einer Nacht, in der Menschen zu Hunderten durch die galeriegesäumten Straßen ziehen und sich an den Kanten der Bordsteine reihen.
Ihre These: "Wir leben in einer Phase des umfassenden gesellschaftlichen Übergangs, die man als nicht mehr und noch nicht bezeichnen könnte ... Eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung wird es nicht mehr geben, was an ihre Stelle treten soll, damit der Mensch ein Mensch ist (Bertolt Brecht), ist noch nicht Gegenstand öffentlichen Nachdenkens." Goehler hat sich ans Nachdenken gemacht. Sie analysiert das Nicht-Mehr und sucht nach dem Vorschein des Noch-Nicht. Kritisiert die Unbeweglichkeit und Überstrukturiertheit des Sozialstaates, der uns aktuell zum Leben im haltlosen Raum zwischen "nicht mehr vom Staat versorgt werden und noch nicht eigene Wege gehen können" verdammt. Beschreibt das Stocken der Gesellschaft wegen Ökonomie, sinkender Sicherheit und wachsender Ratlosigkeit in Zeiten der Globalisierung. Ihr Nachdenken führt sie zur Kultur, dem Medium des Übergangs, des steten Suchens, Bewegens, Entdeckens. Sie fragt: "Was kann Kultur dort bewirken, wo die beunruhigende Situation des Nicht-Mehr noch nicht hermetische politische und wirtschaftliche Konstruktionen hervorbringt, die Sprachlosigkeit erzeugen?"
Mag es auf den ersten Blick seltsam anmuten, dass sie gerade in der Kultur den Angelpunkt einer Wende sieht, jenem zunehmend der Erosion Preis gegebenen Sektor in Zeiten knapper öffentlicher Kassen, so spiegelt sich darin auch des Bürgers Sehnsucht: Der Anteil der Museumsbesucher liegt in Deutschland mit 100 Millionen fast zehnmal so hoch wie die Zahl der Besucher von Bundesligaspielen; zwischen 1995 und 2003 stieg die Zahl der Erwerbstätigen in den Kulturberufen um 31 Prozent auf 2,2 Prozent (zum Vergleich: Arbeitsplätze in der Autoindustrie 1,7 Prozent); 4,9 Prozent aller Arbeitsplätze liegen im Non-Profit-Sektor, der Zuwachs seit den 1990er Jahren beträgt 24 Prozent.
Goehler sieht Kultur und Wissenschaft als Experten für Verflüssigung. Verflüssigung ist ein Gegenmoment zur Abkapselung gesellschaftlicher Blöcke und Verhärtung starrer Oppositionen. Durch Verflüssigung könnte sich ein Stau lösen lassen. "Das kann nur aus Dialogen und Erprobung von Neuem, Abweichendem erwachsen." Und sind nicht gerade die Räume der bildenden Kunst, des Theaters, der Musik und der Literatur, der Universitäten und Schulen, "jene traditionellen Orte der Vergegenwärtigung dessen, was war, ist und sein könnte"? Goehlers Idee: Wo gerade die "Heterogenität von Wegen die gesellschaftliche und ökonomische Produktivität entfaltet", ist es an der Zeit, den künstlerischen und wissenschaftlichen Diskurs als "Erkenntnisinstrument und Movens zur Veränderung" zu verstehen und nutzen.

Vision einer Kulturgesellschaft.


Goehler nimmt den Leser mit auf einen Streifzug durch Realitätsräume einer kulturellen Gegenpraxis, wie sie in Deutschland oft in Ansätzen, gebrochen, zart, dutzendfach unzureichend existieren. Ein Strauß von Initiativen, Auf- und Ausbrüchen aus dem Mangel, die Gesellschaft und Ökonomie durch Selbständigkeit und Selbstverantwortung gestalten und darauf setzen, dass der Staat sie zumindest nicht behindert. Ob in Projekten, wie den interkulturellen Gärten in Göttingen, in schrumpfenden Städten, die sich kulturell erneuern, ob an der Internationalen Frauenuniversität für Technik und Kultur, die Wissenschaft neu denkt, oder in der Fülle kreativen Lebens, das im Laboratorium Berlin gedeiht. "Durch diese in Ansätzen gelebte (Gegen-) Praxis soll gezeigt werden, dass die Künste und Wissenschaften eine viel gewichtigere Rolle einnehmen müssten bei der Suche nach Lösungsmöglichkeiten für eine veränderte und sich verändernde Gesellschaft, für deren Ökonomie wie Arbeitswelt und für daraus resultierende soziale Konflikte innerhalb unserer Gesellschaft, zwischen den Geschlechtern und vermehrt zwischen den Gesellschaften." Goehler hütet sich, zu verschweigen, an wie vielen Ecken diese Gegenpraxis Stückwerk bleibt, an Grenzen stößt, sich selbst verliert. Doch entscheidend ist: Sie ist da. Und damit das Potential für eine Vision von Kulturgesellschaft, wie sie sich Goehler wünscht.
Mit der Kulturgesellschaft, wie sie einst in den 1980er Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschworen wurde, hat diese Vision wenig zu tun. Goehler geht es um eine Haltung, um einen "Entwurf ins Offene, in der die Vielfalt von Suchbewegungen integriert werden". Um eine Kulturgesellschaft, die sich als eine Gemeinschaft von Suchenden versteht, die - statt nach dem "Ammenstaat" (Richard Sennett) zu rufen - sich energetisch in Eigenverantwortung und Neuentdeckung stürzen, so schwer aushaltbar vieles daran sein mag - zum Beispiel die ökonomische Fragilität.
Wie viele der 80 Millionen Deutschen zu diesem Weg bereit sind, außerhalb der zwei Prozent Kulturarbeiter des Landes, außerhalb der akademischen und kreativen Zirkel in den urbanen Zentren, wäre eine ebenso spannend zu diskutierende Frage wie die Suche nach Gründen für die Beharrungskräfte an der politischen Front, die von dieser Art Aufbruch wenig zu hören zu wollen scheinen. Was die sicher anregende Debatte mit Roger De Weck dazu beitragen konnte, blieb leider allen verborgen, die sich im Kulturrausch der Nacht der offenen Galerien vor der Kunsthalle zehn Minuten verhakten. Und dann auf grimmige Türwächter stießen. Auch den Journalisten.
Zu einer offenen, lebendigen Kulturgesellschaft will dies nicht recht passen.

Anja Dilk ist Redakteurin bei changeX.

Adrienne Goehler:
Verflüssigungen.
Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft,

Campus Verlag, Frankfurt/Main 2006,
276 Seiten, 24.90 Euro
ISBN 3-593-37812-4
www.campus.de

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: Verflüssigungen. . Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft. . Campus Verlag, Frankfurt 1900, 276 Seiten, ISBN 3-593-37812-4

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Anja Dilk
Dilk

Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.

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