Adrienne Goehler ist an diesem Abend gekommen, um mit Ex- ZEIT-Chefredakteur Roger de Weck über eine Idee zu diskutieren: Wie können Kultur, Künste und Wissenschaft unser Land retten? Wie können sie dem japsenden deutschen Sozialstaat und einer ratlos an seinen versiegenden Versorgungsschläuchen hängenden Gesellschaft wieder auf die Sprünge helfen, ihr Impulse, Orientierung, Mut geben? So schien es kein Zufall, dass die langjährige Präsidentin der Hamburger Hochschule für Künste und einstige Berliner Wissenschaftssenatorin, Adrienne Goehler, gerade in der Nacht der offenen Galerien zum gesellschaftspolitischen Diskurs über Kultur lud, einer Nacht, in der Menschen zu Hunderten durch die galeriegesäumten Straßen ziehen und sich an den Kanten der Bordsteine reihen.
Ihre These: "Wir leben in einer Phase des umfassenden gesellschaftlichen Übergangs, die man als nicht mehr und noch nicht bezeichnen könnte ... Eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung wird es nicht mehr geben, was an ihre Stelle treten soll, damit der Mensch ein Mensch ist (Bertolt Brecht), ist noch nicht Gegenstand öffentlichen Nachdenkens." Goehler hat sich ans Nachdenken gemacht. Sie analysiert das Nicht-Mehr und sucht nach dem Vorschein des Noch-Nicht. Kritisiert die Unbeweglichkeit und Überstrukturiertheit des Sozialstaates, der uns aktuell zum Leben im haltlosen Raum zwischen "nicht mehr vom Staat versorgt werden und noch nicht eigene Wege gehen können" verdammt. Beschreibt das Stocken der Gesellschaft wegen Ökonomie, sinkender Sicherheit und wachsender Ratlosigkeit in Zeiten der Globalisierung. Ihr Nachdenken führt sie zur Kultur, dem Medium des Übergangs, des steten Suchens, Bewegens, Entdeckens. Sie fragt: "Was kann Kultur dort bewirken, wo die beunruhigende Situation des Nicht-Mehr noch nicht hermetische politische und wirtschaftliche Konstruktionen hervorbringt, die Sprachlosigkeit erzeugen?"
Mag es auf den ersten Blick seltsam anmuten, dass sie gerade in der Kultur den Angelpunkt einer Wende sieht, jenem zunehmend der Erosion Preis gegebenen Sektor in Zeiten knapper öffentlicher Kassen, so spiegelt sich darin auch des Bürgers Sehnsucht: Der Anteil der Museumsbesucher liegt in Deutschland mit 100 Millionen fast zehnmal so hoch wie die Zahl der Besucher von Bundesligaspielen; zwischen 1995 und 2003 stieg die Zahl der Erwerbstätigen in den Kulturberufen um 31 Prozent auf 2,2 Prozent (zum Vergleich: Arbeitsplätze in der Autoindustrie 1,7 Prozent); 4,9 Prozent aller Arbeitsplätze liegen im Non-Profit-Sektor, der Zuwachs seit den 1990er Jahren beträgt 24 Prozent.
Goehler sieht Kultur und Wissenschaft als Experten für Verflüssigung. Verflüssigung ist ein Gegenmoment zur Abkapselung gesellschaftlicher Blöcke und Verhärtung starrer Oppositionen. Durch Verflüssigung könnte sich ein Stau lösen lassen. "Das kann nur aus Dialogen und Erprobung von Neuem, Abweichendem erwachsen." Und sind nicht gerade die Räume der bildenden Kunst, des Theaters, der Musik und der Literatur, der Universitäten und Schulen, "jene traditionellen Orte der Vergegenwärtigung dessen, was war, ist und sein könnte"? Goehlers Idee: Wo gerade die "Heterogenität von Wegen die gesellschaftliche und ökonomische Produktivität entfaltet", ist es an der Zeit, den künstlerischen und wissenschaftlichen Diskurs als "Erkenntnisinstrument und Movens zur Veränderung" zu verstehen und nutzen.
Vision einer Kulturgesellschaft.
Goehler nimmt den Leser mit auf
einen Streifzug durch Realitätsräume einer kulturellen
Gegenpraxis, wie sie in Deutschland oft in Ansätzen, gebrochen,
zart, dutzendfach unzureichend existieren. Ein Strauß von
Initiativen, Auf- und Ausbrüchen aus dem Mangel, die Gesellschaft
und Ökonomie durch Selbständigkeit und Selbstverantwortung
gestalten und darauf setzen, dass der Staat sie zumindest nicht
behindert. Ob in Projekten, wie den interkulturellen Gärten in
Göttingen, in schrumpfenden Städten, die sich kulturell erneuern,
ob an der Internationalen Frauenuniversität für Technik und
Kultur, die Wissenschaft neu denkt, oder in der Fülle kreativen
Lebens, das im Laboratorium Berlin gedeiht. "Durch diese in
Ansätzen gelebte (Gegen-) Praxis soll gezeigt werden, dass die
Künste und Wissenschaften eine viel gewichtigere Rolle einnehmen
müssten bei der Suche nach Lösungsmöglichkeiten für eine
veränderte und sich verändernde Gesellschaft, für deren Ökonomie
wie Arbeitswelt und für daraus resultierende soziale Konflikte
innerhalb unserer Gesellschaft, zwischen den Geschlechtern und
vermehrt zwischen den Gesellschaften." Goehler hütet sich, zu
verschweigen, an wie vielen Ecken diese Gegenpraxis Stückwerk
bleibt, an Grenzen stößt, sich selbst verliert. Doch entscheidend
ist: Sie ist da. Und damit das Potential für eine Vision von
Kulturgesellschaft, wie sie sich Goehler wünscht.
Mit der Kulturgesellschaft, wie sie einst in den 1980er
Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschworen wurde, hat diese
Vision wenig zu tun. Goehler geht es um eine Haltung, um einen
"Entwurf ins Offene, in der die Vielfalt von Suchbewegungen
integriert werden". Um eine Kulturgesellschaft, die sich als eine
Gemeinschaft von Suchenden versteht, die - statt nach dem
"Ammenstaat" (Richard Sennett) zu rufen - sich energetisch in
Eigenverantwortung und Neuentdeckung stürzen, so schwer
aushaltbar vieles daran sein mag - zum Beispiel die ökonomische
Fragilität.
Wie viele der 80 Millionen Deutschen zu diesem Weg bereit
sind, außerhalb der zwei Prozent Kulturarbeiter des Landes,
außerhalb der akademischen und kreativen Zirkel in den urbanen
Zentren, wäre eine ebenso spannend zu diskutierende Frage wie die
Suche nach Gründen für die Beharrungskräfte an der politischen
Front, die von dieser Art Aufbruch wenig zu hören zu wollen
scheinen. Was die sicher anregende Debatte mit Roger De Weck dazu
beitragen konnte, blieb leider allen verborgen, die sich im
Kulturrausch der Nacht der offenen Galerien vor der Kunsthalle
zehn Minuten verhakten. Und dann auf grimmige Türwächter stießen.
Auch den Journalisten.
Zu einer offenen, lebendigen Kulturgesellschaft will dies
nicht recht passen.
Anja Dilk ist Redakteurin bei changeX.
Adrienne Goehler:
Verflüssigungen.
Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft,
Campus Verlag, Frankfurt/Main 2006,
276 Seiten, 24.90 Euro
ISBN 3-593-37812-4
www.campus.de
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Adrienne Goehler: Verflüssigungen. . Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft. . Campus Verlag, Frankfurt 1900, 276 Seiten, ISBN 3-593-37812-4
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Anja DilkAnja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.