Auf dem Weg zum Netzwerk
Ein Business-Roman in Fortsetzungen.
| Folge 6 |: Macht
Von Nina Hesse
Beim Telekommunikationsunternehmen AirNew AG ist angeblich alles in Ordnung - aber hinter den Kulissen kriselt es. Ein Wandel ist dringend nötig. Als AirNew auf die Berater von atunis und ihre Ideen aufmerksam wird, beginnt ein spannender Beratungsprozess. Die fiktive Fallgeschichte über die Arbeit der sehr realen Unternehmensberatung atunis vermittelt handfestes Wissen über neue Impulse in Change-Management und die Gesetze der Netze.
"Jetzt mal ehrlich, Lisbeth, du bist seit diesem Workshop irgendwie anders", meint mein Assistent Maik und drückt mir eine prall gefüllte Unterschriftenmappe in die Hand.
"So, so. In welcher Form anders? Netter?!"
Maik grinst. "Kann schon sein. Etwas weniger autoritär vielleicht."
Hochzufrieden gehe ich in mein Büro. Es gibt ein paar Dinge, die Maik nicht über mich weiß. Zum Beispiel, dass ich - wie meine anderen Vorstandskollegen - gerade versuche, die Werte zu leben, die wir bei dem Workshop auf dem Berggipfel gemeinsam definiert haben. Ein paar davon kann ich inzwischen auswendig: Wir verstehen Veränderung als Chance, wir sind kundenorientiert und wir fördern dauerhafte Win-Win-Beziehungen. Den Mitarbeitern haben wir von den neuen Werten und Zielen nichts erzählt - Alfred Doll von atunis hat uns geraten, die Werte auf unseren Posten bei AirNew erst einmal eine Weile zu leben und sie auf ihre Alltagstauglichkeit zu testen, bevor wir sie herausposaunen. Es ist ein gutes Zeichen, dass Maik gemerkt hat, dass etwas anders ist als sonst.
Auch ein entstaubtes Führungsleitbild gehört zum neuen Programm. Führung als Dienstleistung gehört jetzt zu unserem Leitbild. Wir sollen uns darauf konzentrieren, unsere Mitarbeiter zu unterstützen, damit sie stärker eigenverantwortlich arbeiten. Win-win eben. Sie gewinnen mehr Entscheidungsbefugnis und ich kann mich mehr auf Strategie und Kommunikation konzentrieren. In der Praxis heißt das, dass ich mehr denn je mit meinen Mitarbeitern rede und den Vertrieb so zu fördern versuche, dass er eine intensive Kommunikation mit dem Kunden aufbaut. Das läuft gut, aber es gibt ein paar Kollegen, die seit Neustem irgendwie quer schießen. Zum Beispiel Kevin Meisler, einer der ehrgeizigen jungen Vertriebler, die gute Leistungen bringen und nach oben wollen. Er hat im Call-Center angefangen, es aber schon weit gebracht und arbeitet seit zwei Jahren nebenher an einem MBA-Abschluss. Vor zwei Wochen habe ich Maßnahmen eingeleitet, um den Kunden unsere neue Positionierung "Wir stehen für exzellente Qualität" zu vermitteln. Kevin hat bisher nichts davon bei seinen Kunden umgesetzt, obwohl ich ihn schon zweimal darauf angesprochen habe. Jedes Mal kamen nur schwammige Ausflüchte.
Meine Vermutung ist, dass er mit seinem Nebenher-MBA überfordert ist. Trotzdem bin ich neugierig, wie Doll das Problem sieht. Zum Glück erreiche ich ihn gleich. Als ich ihm das Problem erkläre, ist er nicht überrascht. "Durch Ihren neuen Führungsstil entstehen Freiräume", erklärt er. "Manche Mitarbeiter, besonders in der zweiten Führungsebene, verstehen das als zu weiche Führung, als Machtverlust des Chefs. Sie opponieren. Mir scheint, Sie haben es mit so einem Fall zu tun."
Ich stecke mir eine Kippe an und lege die Beine auf eine Kante des Schreibtischs. "Verstehe. Im Wolfsrudel scheint es so, als würden die Hierarchien neu ausgekämpft, und das Beta-Männchen sieht seine Chance."
"Ganz so drastisch würde ich es nicht ausdrücken", meint Doll amüsiert. "Es ist einfach so, dass man sein Umfeld erst erziehen muss, damit es mit der neuen Freiheit umgehen kann."
"Hm. Geben Sie mir einen Tipp."
"Wenn einer Ihrer Mitarbeiter versucht, diese Freiräume zu missbrauchen, dann sollte Sie als Chefin in einem persönlichen Gespräch klar machen, dass Sie das erkannt und entlarvt haben. Damit zeigen Sie, dass Ihre neue Strategie keine Schwäche ist, sondern einfach nur bedeutet, dass Sie ihn fordern wollen. Auf diese Weise können Sie das Machtspiel stoppen, wenn es eins ist."
"Oje. Hoffentlich bleibt Meisler der Einzige, der aufmuckt."
"Selbst wenn nicht - da müssen Sie leider durch. Wenn man die neuen Regeln nur 'aufdrückt', dann halten sie in der Krise nicht stand. Erst durch diesen Prozess des gemeinsamen Neudefinierens entsteht eine stabile neue Ordnung."
Gut, wenn das so ist ... Schon am nächsten Tag bestelle ich Kevin zu mir und rede mit ihm. Als ich noch einmal nach den Ursachen frage, warum er meine Richtlinie nicht umgesetzt hat, ist er doch tatsächlich eingeschnappt und stellt es so hin, als sei alles meine Schuld - ich hätte nicht genau gesagt, wie er meine Richtlinie umsetzen soll. Sieht aus, als hätte Doll Recht gehabt. Ich erkläre ihm noch einmal ziemlich deutlich, wie ich mir seine Rolle als eigenständig handelnder Mitarbeiter in Zukunft vorstelle.
Ob die anderen ebensolche Probleme haben? Seit dem Gipfel-Workshop ist einmal im Monat, beim regelmäßigen Geschäftsführertreffen, ein halber Tag dafür reserviert, damit sich die Führungskräfte gegenseitig Feedback geben können darüber, wie sie die Werte leben. Alfred Doll moderiert diesen Teil. Wie üblich ist er ausgeglichen - im Gegensatz zu Strehlau und Rondorfer, die sichtlich unter Strom stehen.
"Wir müssen unbedingt über diesen Wert 'Win-Win-Beziehungen' sprechen", kündigt Ronny Rondorfer, unser Finanzchef, sofort an. "Unsere Investoren wollen zwölf Prozent Rendite, wir bringen momentan unter zehn. Einer unserer Werte gegenüber den Shareholdern lautet, dass wir für eine dauerhafte Rendite des eingesetzten Kapitals sorgen. Das kollidiert aber mit dem Win-Win. Denn um über zwölf Prozent zu kommen, müssen wir Kosten reduzieren, klarer Fall, und freuen wird sich unsere Belegschaft darüber nicht."
Doll blendet noch einmal die Wertetabelle ein, die wir gemeinsam erarbeitet haben. Strehlau wirft nur einen kurzen Blick darauf - scheint, als hätte er sich in letzter Zeit schon gründlich damit beschäftigt. "So, wie ich das sehe, würden wir gegen alle sechs Werte verstoßen, wenn wir das machen - nur gegen den ökonomischen nicht. Sieht nach einem schlechten Tausch aus."
Ich nicke. Der Meinung war ich schon immer. "Wir würden unser Wertschöpfungspotenzial voll abwürgen, wenn wir schon wieder an der Sparschraube drehen. Damit schwächen wir AirNew, und das ist nicht der Sinn der Sache."
"Gut." Ronny sieht noch skeptisch aus. "Probieren wir's erst mal auf andere Weise. Dafür sollten wir ein Sondermeeting halten, um nach neuen Konzepten zu suchen."
Strehlau klickt mal wieder mit seinem Kugelschreiber. "Wir könnten eine positive Krisensituation aufbauen. AirNew ist wie ein 400-Meter-Läufer, der auf der Zielgeraden angelangt ist und in Führung liegt, aber nicht mehr viel Energie hat - jetzt muss er sich ganz auf sein Ziel fokussieren, um zu gewinnen."
Ich muss mir ein Lächeln verkneifen. Man merkt, dass er Sportler ist. Auf so einen Vergleich wäre ich nie gekommen. Klingt aber nicht schlecht. Wir nicken, und Ronny klappt seinen Laptop auf, um sich Notizen zu machen.
Doll mischt sich ein. "Herr Strehlau, Sie sehen auch aus, als hätten Sie noch etwas auf dem Herzen."
Strehlau zögert. "Ich muss gestehen, für mich sind die neuen Führungsprinzipien ungewohnt. Nach der neuen Philosophie muss man sich als Vorgesetzter dermaßen zurücknehmen, dass ich mich kaum noch als Chef fühle." Auf seiner Stirn scheinen Gewitterwolken aufzuziehen. "Meine Mitarbeiter arbeiten selbständig, nun gut. Auf einmal habe ich freie Zeit - ich meine, was soll das? Ich bin gewohnt, mich mit ganzer Kraft für das Unternehmen einzusetzen, nicht im Büro zu sitzen und Däumchen zu drehen, bis ich hoffentlich mal wieder gebraucht werde. Ehrlich gesagt, überlege ich, ob ich nicht wieder zum alten Stil zurückkehre."
Kaschnitz, unser Produktionsleiter, sieht etwas erschrocken aus. Solche offenen Eingeständnisse hat er von unserem Boss sicher noch nicht gehört. Ich, ehrlich gesagt, auch nicht. Aber vielleicht hätte ich mir denken können, dass er mit diesen Problemen kämpfen würde. Frank Strehlau, der Macher, ist nun mal nicht der Typ für einen sanfteren Führungsstil. Neugierig schaue ich zu Doll hinüber.
"Ich verstehe absolut, wie Sie sich fühlen", sagt er und nippt an seinem grünen Tee. "Sie sind die klassische Machtstruktur in Unternehmen gewöhnt, sich umzustellen braucht etwas Zeit. Aber ich glaube, in einem Punkt täuschen Sie sich. Sie werden pausenlos gebraucht - nur die Aufgaben verschieben sich. Sehe ich es richtig, dass Sie sich vorher oft ins operative Geschäft eingeklinkt haben?"
Strehlau nickt - und ich unwillkürlich mit ihm. Ja, hat er, und das nervt mich schon lange. Oft hat er an mir vorbei mit unseren Key Accountern gesprochen, sich Angebote vorlegen lassen, gute Tipps gegeben. Er kommt nun mal aus dem Vertrieb und kann es nicht lassen, seine einstige Abteilung ihren Weg gehen zu lassen. Erst jetzt fällt mir auf, dass er sich in den letzten Wochen viel weniger eingemischt hat als sonst - und dass das richtig gut war! Sonst habe ich oft das komische Gefühl, dass ich es ihm nicht recht mache. In letzter Zeit waren ich - und meine Kollegen auch, glaube ich - viel entspannter.
"Jetzt ist es Ihre Herausforderung, sich an die Aufgabenverschiebung zu gewöhnen", erklärt Doll. "Ihre Führungskräfte zu unterstützen, mit ihnen zu reden, ist die neue Priorität. Die neue, scheinbar freie Zeit werden Sie dringend brauchen, um sich Ihren strategischen Aufgaben und Planungen zu widmen. Sie sind der Kapitän. Er steht nicht selbst am Ruder, sondern legt den Kurs fest."
Einen Moment lang sind wir alle angespannt. Trotz meiner eigenen Anfangsschwierigkeiten - ich möchte nicht zu der alten Situation zurück. Und darauf würde es hinauslaufen, wenn der Mann an der Spitze nicht hinter den Veränderungen steht. Wie war das noch? Wir verstehen Veränderung als Chance? Hier ist unsere Chance, und sie steht gerade auf der Kippe.
Nach langem Zögern sagt Strehlau schließlich langsam: "Klingt plausibel. In Ordnung. Ich versuche es noch einmal. Ihre NetzLogik hat bei AirNew schon viel Gutes bewirkt. Es soll nicht an mir liegen, das scheitern zu lassen."
Das allgemeine Aufatmen ist förmlich zu hören.
Schon bald setzt die Diskussion wieder ein, aber ich lasse meine Gedanken einen Moment lang schweifen. Zurückkehren zu dem Tag, als ich Alfred Doll auf dem Management-Symposium über NetzLogik sprechen gehört habe. Viel ist seither geschehen. Bei AirNew ist tatsächlich ein Kulturwandel in Gang gekommen, auch wenn es ein mühsamer Prozess ist, der sicher noch eine Weile dauern wird. Der Impuls von außen hat vieles in Gang gebracht, und wir haben die Chance, das komplexe System AirNew viel besser als bisher zu gestalten. Ergebnisse zeigen sich schon, in meiner Abteilung vor allem, weil wir als erste angefangen haben. Vielleicht schaffen wir sogar die verdammten zwölf Prozent Rendite. Eins aber ist sicher: Wir verändern uns, und wir wachsen. Entwickeln uns weiter, nehmen neue Herausforderungen an.
Mir scheint, wir sind auf einem guten Weg.
Nina Hesse ist freie Mitarbeiterin von changeX.
© changeX Partnerforum [30.06.2005] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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