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P. N. Narasingham geht ins Geisterland, als der Krieg noch tobt. Er kommt aus Berlin. 15 Jahre lang hat er hier gelebt, die Hälfte seines Lebens. Seine Freunde nennen ihn Singham. Wuchernder Vollbart, schmale Gestalt. Er gilt als politischer Aktivist und leidenschaftlicher Überzeugungskünstler. Einer aus Sri Lanka, der es geschafft hatte: deutscher Pass, deutsche Frau, Leben im heimeligen Kiez in Kreuzberg "mit U-Bahn, Vollkornbrot und Sozialversicherung". Sozusagen ein Karriere-Flüchtling. Dann fasst er den Entschluss, 1995 ins Krisengebiet in den Norden seiner heimatlichen Insel zu reisen. Nicht als Besucher, sondern um zu bleiben. Warum, fragen ihn seine Freunde, dieser Bruch, dieser Abschied ins Ungewisse?
Rückkehr, um zu helfen.
Es hat mit einem "A" zu tun, und
mit Kindern wie der kleinen Ravindran, die versucht, dieses "A"
hervorzubringen. A wie Amma, Mutter. Noch kommen akustische
Querschläger, reißen mal in hohes Kieksen aus, mal in dumpfes
Gurgeln. Die 14-Jährige versucht, den Vokal zu treffen, den ihre
Lehrerin vorspricht. Sie kann diesen Vokal nicht hören. Nur
sehen. Und ertasten. Ravindran starrt auf den Mund ihrer
Lehrerin, ahmt dessen Wölbung nach, befühlt den Kehlkopf, spürt
die Vibrationen, schickt so lange neue Töne in die Luft, bis die
Lehrerin sie lobt. Bis Ravindran "Amma" sagen kann, werden noch
Wochen vergehen. Aber jedes neue Wort führt heraus aus der
hermetischen Welt des Lautlosen.
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Auch die meisten der 65 taubstummen Schüler sind Kriegsopfer. Sie haben Vater oder Mutter oder beide verloren. Kinder, die nicht hören und sprechen können, bleiben in Zeiten von Hunger und Flucht als Erste auf der Strecke. "Viele Behinderte vegetieren ihr ganzes Leben lang in einer dunklen Hütte", weiß Singham. Die 14 Lehrer der Schule bringen eine Spezialausbildung in Gebärdensprache und, noch wichtiger, eine unermüdliche Geduld mit. Sie versuchen, die Kinder aus ihrer Isolation zu holen, indem sie auch deren Verwandte unterrichten. So wächst der Kreis derer, mit denen sie "sprechen" können, wachsen Bewegungsräume. Ravindran ist der Stolz der Schule: Bei einem nationalen Leichtathletik-Wettkampf gewann sie über 200 Meter die Goldmedaille.
Aufbau Nord.
Das Konzept von SEED ist es, die
Lebensbedingungen in möglichst vielen Bereichen zu verbessern.
Wirtschaft und Seele sollen gleichermaßen gesunden. Neben der
Schule wurden Siedlungen für einige hundert Kriegswitwen und
deren Familien gebaut: komplett mit Häusern, Gärten und Brunnen,
mit Dorfläden und einem Gemeindehaus. Die Organisation berät die
Bewohnerinnen, wie sie mit Heimarbeit Geld verdienen können, ohne
ihre Kinder allein lassen zu müssen. Kümmert sich um
Straßenkinder, um die sich sonst keiner schert. Und hat eine zwei
Hektar große Musterfarm angelegt, auf der ökologische
Landwirtschaft erprobt wird. "Seed" heißt Saat, und in Vavuniya
fällt sie auf fruchtbaren Boden.
Ausländische Hilfsorganisationen, darunter auch die
Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, beobachten
aufmerksam die Erfolge von Singhams Konzept. Sie bieten ihm
Kooperation und Geld an, um das Modell in großem Maßstab zu
vervielfältigen. Doch der Sämann bleibt reserviert: "Wir wollen
nicht wachsen, jedenfalls nicht um jeden Preis."
Abhängig zu werden, zum Beispiel, wäre für Singham ein zu
hoher Preis für mehr Möglichkeiten. Er verteidigt löwenhaft die
errungene Freiheit. Seine Skepsis erklärt sich aus seiner
wechselvollen Biographie, aus den Mäandern einer Migration von
Ost nach West und zurück, aus Flüchtlingsgefühlen von Ohnmacht
und Unsicherheit. Die erste Neuerfindung von P. N. Narasingham:
Als 18-Jähriger floh er vor den zunehmenden Gewalttaten gegen
Tamilen aus Jaffna, der Hauptstadt des Nordens. In Berlin stellte
er einen Antrag auf politisches Asyl. Elf Jahre lang kämpfte er
um die Anerkennung - vergeblich. Schließlich bekam er den
deutschen Pass nur, weil er eine Deutsche heiratete. Neben die
Erfahrung, einem juristischen Verfahren ausgeliefert zu sein,
trat die Überraschung, "dass sich viele Menschen für mich
eingesetzt haben, obwohl sie mich nicht einmal persönlich
kannten". Er revanchierte sich, indem er ehrenamtlich Ausländer
in Rechtsfragen beriet.
Der Mauerfall bedeutete auch für Singham eine Wende. In
Berlin und Umgebung nahm die Gewalt gegen Ausländer zu.
Brandanschläge auf Asylbewerberheime, Morde an Afrikanern.
"Fidschis klatschen" nannten es die Neonazis. Singhams schwarze
Haut und sein politischer Aktivismus machten auch ihn zur
potentiellen Zielperson. "Wenn ich schon mein Leben riskiere",
sagt er sich, "dann nicht passiv, nur weil meine Haut eine
bestimmte Färbung hat, sondern lieber aktiv, indem ich etwas für
mein Land tue." Es war dennoch kein leichter Entschluss. Sri
Lanka ist für ihn tausende Kilometer und auch kulturell unendlich
weit entfernt. Er hat sich im Berliner Biotop eingelebt. Eine
Kommune mit 16 Leuten, zusammen kochen, WG-Diskussionen
nächtelang, das Brot kommt aus dem Bioladen, der Käse von
glücklichen Kühen, die U-Bahn pünktlich. Grünes Leben in der
Großstadt.
Kreuzberg lässt grüßen.
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Das Startkapital für den Landkauf hatte eine Berliner Unterstützergruppe gesammelt. Zunächst sollte eine örtliche Partnerorganisation gefunden werden, das übliche Vorgehen bei Entwicklungsprojekten. "Doch die Suche war frustrierend", erinnert sich Singham. "Die meisten Gruppen waren einseitig religiös ausgerichtet. Oder sie betrieben einen peinlichen Personenkult um ihren Vorsitzenden." 28 Mal. So oft hat er sein Konzept präsentiert, und so oft ist er bei Organisationen abgeblitzt. "Letztlich war das gut so. Mir wurde klar, dass wir etwas Eigenes gründen müssen."
Er zerriss das Strategiepapier, das er noch in Berlin geschrieben hatte. Stattdessen entschied er sich für eine Methode, die jeden hoch dotierten Entwicklungsexperten befremden würde. Um herauszufinden, was die vom eigenen Land Vertriebenen wirklich brauchen, lebte er monatelang mit ihnen in einem Lager. In einer Lehmhütte, ohne Strom, Wasser holte er vom weit entfernten Brunnen, eben wie alle anderen. Sri Lanka von unten. Er bekam einen Leberschaden, Malaria, hatte Blut im Stuhl. Wieder war er Flüchtling, nun im eigenen Land. Aber er fand heraus: Wie wollen die zukünftigen Hausbesitzer ihre Küche, was versteht eine Großfamilie unter "Schlafzimmer", wie sieht ein idealer Essplatz aus. "Mit unseren westlichen Vorstellungen hätten wir total falsch geplant", sagt Singham.
Das deutsche Geld, so wusste er, würde für zehn Häuser reichen. Als SEED das Vorhaben ausschrieb, meldeten sich 850 Familien. "Wir haben uns die Zeit genommen, mit jeder einzelnen zu reden. Manchmal konnte ich abends nur noch heulen, nach all dem, was mir die Leute von Getöteten und Verschwundenen, von Gefolterten und Vergewaltigten erzählt haben." Ihre Geschichten ließen ihn nicht los. "Willst du mal Heli fliegen?", hatten die Armeesoldaten eine Gefangene gefragt. Sie hatten ihre Füße mit einem Strick zusammengebunden und sie daran aufgehängt. Dann hatten sie den Körper rechts und links gegen die Wände der Zelle geschleudert. Den Boden hatten die Folterknechte mit Glasscherben und scharfkantigen Patronenhülsen ausgelegt. Irgendwann war der Strick gerissen, "safe landing" hatten die Soldaten das genannt.
Keine Abhängigkeiten.
Für alle wollte Singham etwas tun,
alles heilen. Schlimm war für ihn deshalb, zehn auszuwählen - und
damit 840 abzulehnen. "Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich
über andere Schicksale entscheiden." Im Team wurde beschlossen,
landlosen Familien, mit Behinderten oder besonders kinderreich,
den Vorrang zu geben. Nachvollziehbare Kriterien entlasteten das
Gewissen.
Gemeinsam rodeten das SEED-Team und die zukünftigen
Bewohner ein Stück Dschungel. Sie trugen Holz und Steine auf dem
Rücken zur Baustelle, installierten eine Wasserpumpe, die eine
Flüchtlingsorganisation gestiftet hatte. Geschützfeuer ganz in
der Nähe unterbrach immer wieder die Arbeit. Die Kämpfe zwischen
den Tamil Tigers und der sri-lankischen Armee waren wieder
aufgeflammt, die Frontlinie wanderte ständig. Mal kamen die
Granaten von links, mal von rechts. Stille war unheimlich, weil
unberechenbar.
"Damals entstand in mir so etwas wie ein Vaterinstinkt:
Ich, Singham, sorge für Witwen und Waisen. Falsch, das ist völlig
falsch. Wir wollen nicht ihre Beschützer werden, sondern ihnen
helfen, selbständig zurechtzukommen." Schon bald nach dem
Richtfest begannen die Frauen, Gemüse und Bananen auf ihren
Grundstücken anzubauen, verdienten sich mit Seilflechten ein
kleines Einkommen. Keine langfristigen Abhängigkeiten: Was für
Singhams eigenes Leben gilt, formuliert er auch als Prinzip für
SEED. Nach dem ersten erfolgreichen Projekt entstand ein zweites
für 65 Familien, derzeit sind ein drittes und viertes für jeweils
270 Familien in Bau. Also doch Wachstum? "Mittlerweile gibt es im
Team zehn andere, die die Arbeit genauso gut machen wie ich",
sagt Singham. "Wir können erweitern, ohne an Qualität zu
verlieren."
Und der Bedarf ist riesig. Das Flüchtlingswerk der
Vereinten Nationen schätzt, dass auf der Insel noch 700.000
Vertriebene in Lagern leben oder im Land umherirren. Fast täglich
werden Minenopfer gemeldet. Dazu die seelischen Verwundungen. In
der Region nördlich von Vavuniya waren 97 Prozent der Kinder
Zeugen traumatisierender Ereignisse, Bombardements, Brände oder
Tötung von Verwandten. Ein Viertel von ihnen leidet dauerhaft
unter den psychischen Folgen der Traumata. Doch gibt es im
gesamten Norden und Osten der Insel, den vom Bürgerkrieg am
schwersten betroffenen Gebieten, vielleicht drei Psychiater, die
solche seelischen Störungen erkennen und behandeln können.
Traumatisierte Tropen.
Bremsende Bürokratie.
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Nach Stunden, wenn alles ausgeladen ist, nickt der Soldat, und alles wird wieder hineingeschaufelt. Der Lkw fährt durch 100 Meter entmilitarisierter Zone und gelangt zum Checkpoint der Tamil Tigers. Die gleiche Prozedur: Sand rausschaufeln, Tiger nickt, Sand reinschaufeln. Dann durchquert der Lkw das Gebiet der LTTE, um an dessen Nordgrenze noch zweimal das Rein-raus-Spiel zu wiederholen. Sisyphos auf Sri-lankisch. Wenn der Sand in Jaffna ankommt, ist er viermal gesiebt worden, wird zum teuren Gut, sozusagen Hochsicherheitssand erster Güte.
Singham erinnert die Prozedur fatal an Checkpoint Charlie, an die steinernen Gesichter von Volkspolizisten, die ernste Miene zu merkwürdigen Kontrollspielen machten. Er würde gerne darüber lachen, nur: "Unsere Wirtschaft werden wir auf diese Weise nicht flottkriegen." Zwei Jahrzehnte lang gaben Regierung und Rebellen Milliarden Dollar für Rüstungsgüter aus und zerstörten damit planvoll Straßen und Schulen, Brücken und Brunnen. Das Geld fehlt jetzt an allen Ecken.
Groß-WG auf dem Lande.
Für SEED bedeutet das, zunächst für
das Nötigste zu sorgen: ein Dach über dem Kopf, sauberes Wasser,
gesunde Nahrung. Damit hat die Organisation zwar alle Hände voll
zu tun. Aber Singham denkt schon über die nächste Phase nach. Er,
der das "Prinzip Durchwurschteln" angesichts täglich neuer
Widrigkeiten perfektioniert hat, lebt auf, wenn seine Visionen
ehrgeiziger werden, wenn Pläne abheben, Ideen fliegen. "Sri
Lanka, glückliches Lanka - das wird wieder. Schließlich haben
Tamilen und Singhalesen hunderte von Jahren friedlich
zusammengelebt. Wir dürfen uns nur nicht manipulieren lassen, von
Politikern, die Menschen in Kriege hineinhetzen", sagt Singham
und malt mit ausgreifenden Gesten Bilder in die Luft, "aber dazu
müssen wir etwas lernen, was hier zu Lande fast unbekannt ist:
sich einen eigenen Kopf machen, kritisch nachfragen, offen
diskutieren."
In seiner Person verschmelzen Kreuzberger Kommune und
sri-lankischer Pragmatismus, ein Amalgam, aus dem sich
ungewöhnliche Modelle formen lassen. Etwa der Ökobauernhof, eine
grüne Oase mitten im Geisterland. Im milden, sanftroten
Abendlicht wird die Farm zu einem visionären Ort, der spüren
lässt, wie fruchtbar und friedlich Sri Lanka sein kann. Seit die
eigenen Brunnen Wasser liefern, gedeiht, was als Same in die Erde
gesteckt wurde: Banane, Papaya, Ananas, Mango, Spinat, Kohl,
Bohnen, Maniok. Bei der Vermarktung arbeiten die Tamilen mit
einer singhalesischen Gruppe zusammen. SEED liefert Früchte in
den Süden, von dort kommen Biotee und -gewürze. Die offizielle
Feindschaft wird ignoriert.
Gegenseitiges Gewinnen. Die Abfälle der einen Pflanze
befruchten das Wachstum der anderen, Regenwürmer werden in Dienst
gestellt, um aus Erde Dünger zu machen. Deutsche Schäferhunde,
australische Langohrziegen und indische Perlhühner wuseln
durcheinander, ein animalisches Multikulti. Zwei Pfauen
stolzieren auf einem Palmblätterdach herum. Wofür sind die gut?
"Die", sagt Singham, "sind einfach nur schön."
Eine kopfstarke Kommune ist entstanden. Singhams Frau und
seine Schwiegermutter gehören dazu, Freunde, Farmarbeiter und
quasi Adoptierte. Alle unter einem Dach, möglichst viel Leben auf
engem Raum. So hat es sich Singham immer gewünscht, seit Berliner
Zeiten: die Groß-WG auf dem Lande. Kein Motorenbrummen weit und
breit. Traumhafte Tropen.
Ein Ort der Harmonie. Außen. Doch in den Köpfen der
Farmbewohner sieht es anders aus. Es wird noch lange dauern,
vielleicht generationenlang, bis das Grollen der Granaten
verstummt, die Brände verlöschen, das Dröhnen der Tiefflieger
verhallt. Bis es innen drin leiser wird, still.
Michael Gleich ist Wissenschaftspublizist und engagiert sich in der Initiative Peace Counts project für den Frieden.
Fotos: � Paul Hahn/Laif.
© changeX Partnerforum [13.01.2005] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Autor
Michael GleichMichael Gleich, Publizist, Stroryteller und Redner, hat 2011 "der kongress tanzt. Netzwerk für gute Veranstaltungen" initiiert. Es berät Veranstalter darin, Konferenzen und Foren als lebendige Lernorte zu gestalten.