Frieden in der Favela
In Rio de Janeiro versucht eine kleine Organisation, die Spirale der Gewalt einzudämmen. Mit wachsendem Erfolg.
Nirgendwo werden so viele Menschen erschossen wie in Brasilien - 40.000 allein im vergangenen Jahr. Direkt hinter Rios Traumstränden herrscht Krieg. Im Stadtteil Cantagalo, einst eine blutig umkämpfte Hochburg der Drogenmafia, ist es der Organisation Vivario jedoch gelungen, das Morden zu stoppen.
|
Noch bevor Brasilien das Endspiel verlor, lag er für immer flach. Eine Kugel durchtrennte die Nervenstränge seines Rückenmarks, als Polizisten wild um sich feuernd Cantagalo stürmten - die Reaktion auf einen Banküberfall im angrenzenden Reichenviertel Ipanema.
Fünf Jahre ist das her und seitdem hängen seine Beine reglos und verschorft an dem schmächtigen Körper. Ein Katheder führt aus verwaschenen Boxershorts unters Bett in einen Urinbeutel, daneben einige Packen Windeln. Kein Buch auf dem Nachttisch - lesen kann er nicht -, nur ein voller Aschenbecher.
"Ich hab � Glück gehabt", nuschelt Eduardo. Fast alle seine Kumpel wurden erschossen, darunter sein bester Freund Jolo, den ein konkurrierender Kokaindealer umgelegt hat. Vor zwei Jahren erwischte es gleich vier seiner Freunde auf einmal. Auch sie Drogendealer. "Man fand sie auf einer Dachterrasse, Nackenschuss", sagt Eduardo. Polizisten hatten kurzen Prozess mit ihnen gemacht. Von seinem Zimmer aus konnte er die Randale der Nachbarn hören, die den Hügel ins Reichenviertel hinabstiegen, Autos in Brand steckten, Fenster einschlugen und Geschäfte plünderten.
Dass es sich nach all den Toten wieder halbwegs friedlich in der Armensiedlung Cantagalo leben lässt, ist der Organisation Vivario zu verdanken, die vor zehn Jahren antrat, die Gewalt in Brasiliens Städten einzudämmen. Anlass war auch damals ein Massaker, das Polizisten an Straßenkindern vor der Kirche Candelaria verübt hatten, beauftragt und bezahlt von Geschäftsleuten, die sich durch die bettelnden Kinder vor ihren Schaufenstern gestört fühlten.
Der Kindermord von Rio weckte das Gewissen von Wissenschaftlern, Unternehmern, Künstlern, Journalisten und Politikern, die Strategien gegen die wachsende Zahl von schießwütigen Polizisten und Kriminellen entwickelten. Heute verfügt die Organisation über tausend bezahlte Mitarbeiter und dreitausend freiwillige Helfer, die mehr als 500 Projekte in 354 Favelas betreibt, darunter Sportprogramme für 300.000 Kinder, Schulabschlüsse für 25.000 Jugendliche und Aktionen, bei denen 100.000 illegale, von der Polizei konfiszierte Waffen öffentlich mit einem Bulldozer zerstört wurden.
Um in Cantagalo Frieden schaffen zu können, so das Kalkül von Vivario bei Projektstart vor zwei Jahren, müssten alle bisher getesteten Projekte mit einem Schlag auf die neuralgischen Punkte der Favela wirken: Polizei, Jugend, Recht, Kultur und Politik.
Die Polizei.
Polizeistation XI, Cantagalo.
Sargent Vidal, 32, tritt vor seine Männer aus dem 16. Bataillon
der Militärpolizei. Ihre Maschinengewehre haben sie auf Stühlen
abgelegt, nicht aber die schusssicheren Westen und Pistolen. Sie
blicken gespannt auf ihren Commander. Sargent Vidal lispelt, hat
ein Bäuchlein und einen großen Pickel auf der Nase. Er schaltet
den Fernseher ein, auf dem Bildschirm erscheint eine
treppenförmige Grafik, die besagt, dass sich Konflikte nicht nur
mit dem Schießprügel, sondern auch verbal lösen lassen.
"Die nächste Stufe ist die Androhung von Gewalt, erst dann
kommt die höchste Stufe des Konflikts: die Gewaltanwendung",
lispelt Sargent Vidal. "Habt ihr das verstanden?" Ein bulliger
Polizist mit Bürstenschnitt runzelt die Stirn, malmt auf seinem
Kaugummi und brummt: "Wenn's richtig brenzlig wird, kann ich doch
nicht erst lange diskutieren!" Sargent Vidal ist auf die Frage
vorbereitet: "Wenn du selbst in Gefahr bist, darfst du schießen.
Doch ein Rückzug kann die bessere Alternative sein, besonders
wenn unschuldige Menschen durch eine Schießerei gefährdet
werden."
In der letzten Reihe sitzt die Soziologin Veronica dos
Anjos und nickt zustimmend. Sie hat im Auftrag von Vivario
Sargent Vidal und fast 4.000 seiner Kollegen in zahlreichen
Kursen die "Verbesserung der Bürgernähe in der polizeilichen
Praxis" ans Herz gelegt. Nun prüft sie, ob Vidal sein Wissen
richtig weitergibt. Vidal hat seine Lektion gelernt. "Denkt dran:
Nur zwei von Hundert der Bewohner in den Favelas stecken im
Drogenhandel! Die große Mehrheit versucht, sich ebenso anständig
durchzuschlagen wie ihr auch," mahnt er und schickt seine Leute
auf Streife. Die führt von der Station ein steiles, kurviges
Sträßchen aus Kopfsteinpflaster hinab. Aus dem Gassengewirr
steigen Leuchtraketen in den Himmel: Die Warnung der Späher an
die Drogendealer, dass Polizei unterwegs ist.
Seine alte Einheit mied die zwielichtigen Ecken ihres
Reviers, stürmte sie nur, wenn zwischen zwei Fraktionen der
Drogenmafia heftige Schießereien entbrannten oder Bürger in den
angrenzenden Vierteln der weißen Mittelschicht durch
Raubüberfälle verunsichert wurden. Drogendealer lauerten auf den
Dächern und beschossen die Polizisten, sobald sie einrückten.
Seitdem kennt er das Gefühl, auf offener Straße als lebende
Zielscheibe mit der Aufschrift "Policía" zu dienen. Oder in einen
Hinterhalt zu geraten. In seiner rechten Kniekehle hat
�s ihn
einmal erwischt. Wenn Vidals Einheit sich ins Innere der Favela
vorgekämpft hatte, gingen die Dealer in Deckung und warteten, bis
die Polizisten wieder abgezogen waren. Dann begann das Spiel von
neuem.
In Cantagalo schiebt Vidal dagegen mit 16 Polizisten auf
vier Posten Tag und Nacht Wache. Das kostet die Stadt zwar mehr
Geld, aber spart Leben. Ihr Auftrag lautet: Präsenz zeigen, Teil
der Gemeinde werden, um Verbrechen zuvorzukommen und nicht erst
auf Notruf reagieren zu können. "Community Police" nennt Vivario
dieses Konzept, ein Ideenimport aus den USA, für den Vivario-Chef
Ruben Cesar Fernandez vor zwei Jahren die Stadtregierung von Rio
de Janeiro gewinnen konnte.
Auf Vidals Schreibtisch liegt eine Beschwerde: die Bergbahn
funktioniere manchmal nicht, deshalb hingen viele Jugendliche
lieber auf der Straße rum, als in die Schule zu gehen. Sargent
Vidal hat die Reparatur der Bahn von der Stadtverwaltung gestern
schon eingefordert. Nun schlendert er mit etwas Abstand der
Patrouille hinterher, die Hände auf dem Rücken verschränkt, das
Bäuchlein nach vorne gereckt. Er löst in einer engen Kurve einen
Verkehrsstau und begrüßt zwei vorbeigehende Schüler, denen er
Kurse über "Bürgerkunde" und "ansteckende Sexualkrankheiten"
gehalten hat.
"Seit wir hier sind, hat es keinen Mord mehr gegeben. Die
Spielregeln haben sich geändert", sagt er. Einen Schönheitsfehler
in den Spielregeln muss er allerdings zugeben: "Den Drogenhandel
können wir nicht unterbinden. Dahinter steckt zu viel Geld. Wir
können nur die Gewalt eindämmen, die von den Dealern ausgeht."
Vor 20 Jahren kam das Kokain von Kolumbien nach Brasilien, um
nach Europa weiterexportiert zu werden. Die Favelas eignen sich
perfekt als Zwischenlager, weil sich der Staat lange Jahre nicht
um die Armensiedlungen gekümmert hat: keine Polizei, keine
Gerichte, keine Kanalisation, keine Krankenhäuser, keine
Müllabfuhr, schlechte Schulen.
Die Jugend.
|
Über seinen nackten Oberkörper spielen Muskeln, als er aufsteht und den steilen Weg unter rhythmischem Klatschen seiner Badelatschen hinaufgeht. Nach den Statistiken von Vivario zählt Douglas zur "höchsten Risikogruppe": "Männlich, zwischen 14 und 25 Jahre alt, kein Schulabschluss". 1,3 Millionen Einwohner des Bundesstaates Rio de Janeiro haben die achtjährige Schulpflicht nicht abgeschlossen und damit erheblich schlechtere Aussichten, einen Job zu bekommen.
Von diesen Statistiken weiß Douglas nichts, aber er kennt das Leben dahinter. Die Freunde, die er gerade zurückgelassen hat, fordern ihn manchmal auf: "Komm, lass uns einen Überfall machen!" Gelegentlich ist er ihnen den Hügel in die Stadt hinunter gefolgt. Eine Sauangst hatte er da, aber es sind nun mal seine Freunde, mit denen er auch am Strand abhängt oder Fußball spielt.
Douglas will nicht mehr mitmachen, fragt lieber in den Geschäften, ob sie einen Job für ihn haben, anstatt sie zu überfallen. Haben sie aber nicht. Ohne Beziehungen läuft nichts. Seine Mutter legt jetzt ein gutes Wort für ihn in einer privaten Sicherheitsfirma ein, die sie täglich putzt. Ob die ihm vertrauen, bei seiner Adresse?
Seine beste Zeit hatte er beim Militär. Da gab �s Disziplin. Douglas arbeitete schon als 14-Jähriger im Lager eines Gemischtwarenladens, um seine Familie zu unterstützen. In seiner Freizeit trainierte er Jiu-Jitsu bis zur Perfektion, die verschwollenen Ohren sind der Beweis. Er wollte sich bei der Armee verpflichten. Aber das wollen viele. Ohne Schulabschluss sind seine Chancen so groß wie die Fleischstücke in seiner Feijoada am Freitag Nachmittag.
Douglas latscht an der Polizeistation vorbei zu einem Gebäude aus Beton und Glas, das sich in großem Bogen an den Hügel, den "Morro", schmiegt, hoch über Rio de Janeiro. Der Bau sollte einmal das "Hotel Panorama" werden, mit weitem Blick über Meer, Granitfelsen und den Strand von Ipanema. Zur benachbarten Favela gab es keinen Ausgang. Die Gäste sollten das Hotel in einem Aufzug erreichen, der ganze 30 Sekunden Fahrtzeit braucht vom Einstieg in Ipanema bis zum Ausstieg auf dem Morro. Doch die Bauherren machten Bankrott. Die Stadt konfiszierte das Gebäude und gab es dem Morro zurück.
Jetzt besitzt das "Hotel Panorama" einen breiten Eingang, der sich zur Favela hin öffnet. In den oberen zwei Stockwerken lernen die Kinder aus Cantagalo Rechnen und Schreiben, die beiden Stockwerke unter der Grundschule bezog Vivario. Kinderstimmen mischen sich im Hall der Gänge mit Befehlen eines Tanzlehrers und dem "Tik-Tok" von Tischtennisbällen. Jugendliche spielen Volleyball auf der Terrasse, die ein Netz umspannt, damit der Ball nicht in die Tiefe springen kann. Nebenan trillert eine Pfeife, Körper klatschen ins Wasser und schwimmen um die Wette. Allen zur Seite stets ein Erwachsener im blauen T-Shirt mit der Aufschrift "Professor". Vivario hat die Sportlehrer eigens eingestellt, um Jugendliche und Kinder in ihrer Freizeit vor Dummheiten zu bewahren, wie sie Douglas und Eduardo begangen haben. 2.000 kommen jeden Tag.
Douglas latscht den Gang entlang, der in die Bibliothek führt. Edvis, 15, und Camila, 14, sitzen mit Lehrerin Anna-Paula um einen Tisch und schneiden Fotos aus Reiseprospekten über Norwegen aus, kleben sie auf ein großes Blatt Papier und schreiben an den Rand, was sie über dieses seltsame Land der Trolle und bunten Holzhäuser erfahren haben. In einer Woche kommt sogar der König aus Norwegen zu Besuch, um sich die Projekte im Hotel Panorama anzuschauen. "Prinz Charles war schon vor ihm da," sagt Camila trotzig, weil sie keine Lust mehr zum Schneiden hat. Sie will lieber an einem der 32 Computer im Internet surfen, die Vivario von der brasilianischen Post geschenkt bekommen hat.
Douglas geht eine breite Treppe hinunter in sein Klassenzimmer, verstaut seinen Rucksack unterm Sitz und wartet, bis der Mathematik-Lehrer den Unterricht beginnt. Die Bücher und Filme über Geschichte, Literatur oder Geographie stellt Vivario. "Länge mal Breite gleich Fläche" notiert Douglas. Furchen auf seiner Stirn verraten, wenn er die Linien in seinem Heft nicht versteht. Er will unbedingt die Prüfung in zwei Monaten bestehen, um sich mit dem Zeugnis bei Firmen zu bewerben, "egal für was".
Die "Stellenbörse" von Vivario hat seinen Lebenslauf im Computer abgespeichert und vergleicht seine Daten regelmäßig mit Stellenanzeigen aus den Zeitungen. Passt eine Anzeige, vermittelt Vivario den ersten Kontakt. Über Vivario vermittelt zu werden, gilt als Referenz in Rio. Schließlich sitzen viele namhafte Unternehmen, Medienleute, Politiker und Wissenschaftler im Verwaltungsrat der Organisation.
Das Recht.
|
In Cantagalo hat sich rumgesprochen, dass dort Leute sitzen, die Konflikte ohne Waffen lösen. Auf der Bank vor dem Büro wartet ein Dutzend Menschen, denen die Sambalaune aus dem Gesicht gefallen ist. Der Raum hinter der Holzwand ist der einzige in Cantagalo, in dem Gesetzesbücher im Schrank stehen, wenn auch reichlich abgegriffene Exemplare.
"Der Nächste", ruft die Jurastudentin Taiana Felix, eine ehrenamtliche Mitarbeiterin von Vivario. Eine junge Frau mit filigran geflochtenen Zöpfen, großen Augen und einer knubbeligen Nase drängt herein. Mit etwas Abstand ihr Bruder: kurzes Kraushaar, Zahnlücke, ebenfalls knubbelige Nase. Die Schwester platzt vor Zorn: "Ich halt �s nicht mehr aus mit denen im Haus, diesen Drecksäuen, da kommt jetzt eine Wand rein und die zahlen die! Und wenn die nochmal drohen, mich umzubringen, dann verpfeif ich sie bei der Polizei! Säufer!! Kokser!!!" Der Bruder brummelt mit alkohollahmer Stimme zurück. Taiana ermahnt zur Ruhe, vergebens.
Doch Taiana lässt nicht locker, sie weiß, wie wichtig eine Einigung der Geschwister ist. Vielleicht hat eine Seite gute Kontakte zu einem Drogenhändler, der eines Tages den Konflikt auf seine Weise löst. Das Schema dieser Schlichtungstechnik ist immer gleich: Erst Drohen, dann Prügel, dann ein Schuss ins Bein - und wenn's dann immer noch Ärger gibt, in den Kopf.
Ortstermin im Haus der Geschwister. Die Schwester braucht Taiana nicht zu erklären, in welchem Teil sie lebt: sauber gestapeltes Geschirr in der Spüle, blitzblank geputzte Fliesen, Keramikfiguren und Blumenvasen im Schrank weisen ihre Zone aus. Die der Brüder: Grünspan und Ruß auf dem Kühlschrank, verdreckte Bodenplatten, alte Kabel und Decken in den Ecken.
Die Schwester zittert am ganzen Leib und schießt eine Schrotladung des Zorns auf ihre Brüder ab. Die grummeln zurück, Taiana braucht eine halbe Stunde, um sich Gehör zu verschaffen. Sie schlägt vor, das Wohnzimmer mit einer Zwischenwand zu teilen, und für die Brüder einen zweiten Eingang auf der Rückseite zu schaffen. "Ein Gerichtsverfahren dauert lange und kostet viel mehr als eine Mauer", erklärt sie der immer noch wutbebenden Schwester. "Sie haben schon den Krämerladen ihrer Mutter geerbt und können nicht alles haben." Immer noch keine Reaktion. "Bauen sie die Mauer und sie müssen ihre Brüder nicht mehr sehen." Jetzt gibt sich die Schwester einen Ruck und unterschreibt den Schlichtungsvertrag. "Ob der hält, wissen wir nicht," sagt Taiana. "Doch oft reicht eine neutrale Stimme der Vernunft, um verhakte Streithammel auseinander zu bringen."
Die Kultur.
Nichts davon steht Tags darauf in
der Internetzeitung "Vivafavela". Die Korrespondentin in
Cantagalo, Rita de Cássia, 40, hat ihre strikten Kriterien, nach
denen sie ihre Themen auswählt. Sie jagt im schwarzen Kleid und
großvolumig geföhnter Frisur im "Beauty-Salon Regenbogen" nach
Geschichten. Der breitschultrige Chef kommt ins Schwitzen und
kratzt sich das Tattoo am Oberarm, als Rita ein Aufnahmegerät vor
seine Lippen hält. "Welche Frisuren bevorzugen ihre Kundinnen?"
Anfangs stockend, dann immer redseliger erzählt der Friseur von
Dauerwellen, Reflex-Behandlung und "Mega-Hair" - künstlichen
Strähnen für zehn Euro das Stück, die am Rahmen eines großen
Spiegels hängen mit der Aufschrift "Eigentum von Jesus Christus"
"Ich schreibe über unsere Würde und die Gefühle, die wir im
Herzen tragen," versichert Rita dem Friseur. Auf Romantik
versteht sie sich. Schon mit 13 Jahren schrieb sie
stellvertretend für Analphabeten Liebesbriefe. Der Friseur
pflichtet ihr bei: "Die großen Zeitungen der Stadt schreiben nur
über Morde und Drogen in den Favelas. Unser Alltag interessiert
die nicht. Wir sind nur Kriminelle für die, keine Menschen."
Eine gedruckte Zeitung gibt es in Cantagalo nicht, das wäre
zu teuer. Die Internetzeitung Vivafavela hat der Friseur zwar
noch nie gelesen, aber schon viel über sie von Bewohnern gehört,
die regelmäßig an den Computern im Hotel Panorama durchs Internet
surfen.
Rita reicht ihm die Mappe mit ihren gesammelten Artikeln:
über den ersten Transvestiten von Cantagalo und über Hilfe unter
Nachbarn, über das Fußballturnier vergangene Woche und über
eifersüchtige Frauen. "Die war erst gestern hier", freut sich der
Friseur und zeigt auf das Foto einer jungen Frau, die im Artikel
bekennt, ihren Freund allein deshalb geschlagen zu haben, weil er
mit einer anderen Frau geredet hat. Der Friseur weiß viel mehr
über sie, als in dem Artikel steht. Zum Beispiel, dass sie prima
rappt und boxt. Aber dass eine Zeitung über sie geschrieben hat:
Toll!
Rita muss sich sputen, in einer Stunde ist
Redaktionssitzung in der Zentrale von Vivario. Im Aufzug des
Hotels Panorama schwebt sie aus der armen Welt auf dem Morro nach
Ipanema, 26 Stockwerke tiefer, wo Luxuskarossen vor dem Palace
Hotel vorfahren, Gitter aus Gusseisen videoüberwachte Wohnblocks
abschirmen, jeder mit Portier und Sitzecke vor dem Aufzug.
An der "Rua Ipanema" direkt am Strand steigt Rita in den
Bus, fährt an der Copacabana vorbei bis ins Zentrum von Rio zur
Villa Venturoza, einem weißen Kolonialgebäude mit Fensterläden
aus dunklem Holz und schmiedeisernem Eingangstor. Am Empfang
sitzen drei Damen und leiten Anrufe an die 300 Mitarbeiter in die
Großraumbüros gleich dahinter weiter. Tasten klappern, ständig
klingelt das Telefon, eine französische Künstlerin erklärt
gestenreich, wie sie die Christusstatue auf dem Corcovado-Hügel
blau anleuchten will: "La couleur du paix", "die Farbe des
Friedens!" schwärmt sie.
Die Korrespondenten, Fotografen und Redakteure von
Vivafavela versammeln sich um den Tisch im Besprechungszimmer.
"Welche Themen haben wir für morgen?" fragt die Chefredakteurin
Cristiane Ramalho, 40. Sie hat 20 Jahre lang für alle großen
brasilianischen Zeitungen und Zeitschriften geschrieben. Nun will
sie die Favelas ins digitale Zeitalter integrieren. "Die Bewohner
brauchen nicht nur Essen und Medizin, sondern auch Information
und gute Unterhaltung," sagt sie. Die Comic-Figur Cambito, ein
Junge mit Schildkappe bis über beide Ohren und dem Traum, eines
Tages Armut und Gewalt der Favelas entfliehen zu können, hat eine
stetig wachsende Fangemeinde, auch in den weißen Reichenvierteln.
Das lässt sich am Stil der Leserbriefe erkennen. Über 12.000
Menschen besuchen jeden Tag die Website von Vivfavela.
"Durch das Internet sollen der arme und der wohlhabende
Teil Rios, die Favelas und der 'Asphalt', zusammenwachsen", sagt
Cristiane Ramalho. Die Tageszeitung "O Dia" druckt regelmäßig
Artikel der Vivafavela-Korrespondenten, ein Dutzend Medienleute
ruft jede Woche bei Cristiane Ramalho an, um Informationen aus
den Favelas zu bekommen, selber trauen sie sich nicht rein. Als
Polizisten vor einigen Monaten vier Unschuldige für Dealer
hielten und erschossen, erzwangen die Berichte von Vivafavela die
Bildung einer Untersuchungskommission im Ministerium für
Menschenrechte. Schließlich griffen auch die großen Medien das
Thema auf.
Rita schlägt der Redaktion die Geschichte über die
Beauty-Salons vor. "Beschränk dich auf einen oder zwei Läden",
mahnt die Chefredakteurin. "Letzte Woche haben wir einen Artikel
über ein Fußballspiel mit 22 Zitaten bekommen, von jedem Spieler
eins, und fast alle haben das Gleiche gesagt." Es gebe aber viele
schöne Salons, hält Rita dagegen. Schließlich willigt sie ein,
überprüft das Volumen ihrer Frisur und sagt: "Ihr kürzt mir
zuviel. Ich schreib
� bald ein Buch. Über die schönste Favela der
Welt!"
Die Politik.
|
Seine graue Mähne fällt lässig nach hinten, ohne zu zerzausen. Mit ruhigem Griff zieht er eine Studie aus dem Schrank: "Ein Drittel der beschlagnahmten illegalen Waffen wurden einst legal erworben und dann auf dem Schwarzmarkt verkauft, die meisten stammen aus brasilianischer Produktion. Wenn wir die Quelle kontrollieren, gelangen auch weniger Waffen in die Hände der Drogendealer."
Zwei Jahre lang haben Antonio Bandeiras und seine Leute zahllose Revolver und Gewehre in den Depots der Polizei untersucht, Seriennummern aufgeschrieben und mit den Waffenscheinen verglichen. Eine bisher einmalige Aktion, denn keine andere Stadt in Brasilien außer Rio de Janeiro hat sich in die Waffenkammer schauen lassen.
Für jedes Klientel hat Antonio Bandeiras die richtige Studie parat. "Fast 80 Prozent der Bevölkerung will, dass Zivilpersonen verboten wird, Waffen zu tragen." Das stimmt Politiker nachdenklich. Die Wirtschaft, die immerhin fast die Hälfte aller Spendengelder für Vivario aufbringt, überzeugt vor allem die Kosten-Nutzen-Rechnung der Gewaltprävention: "Acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts von Rio de Janeiro werden für Sicherheitsausgaben aufgewandt, allein der private Sektor in Brasilien investiert 20 Milliarden Euro, doppelt so viel wie der öffentliche." Nicht zuletzt deshalb sind der Ölriese Petrobrás und der brasilianische Industrieverband mit insgesamt einer Million Euro im Jahr die größten Einzelspender von Vivario.
Zahlen sind die Munition in Antonio Bandeiras Kampf gegen die Waffenlobby, die nach seinen Informationen Abgeordnete im Kongress besticht. Doch sein bestes Argument ist nach wie vor sein Leben: "Ich weiß, welche schlimmen Folgen der Gebrauch von Waffen haben kann." Als Guerillero kämpfte er gegen die Militärdiktatur in Brasilien, kam im chilenischen Exil Präsident Allende als Berater zu Hilfe und erlebte dessen gewaltsamen Sturz. Erst in Kanada fühlte er sich als Professor für Politik wieder sicher.
Nach 20 Jahren kehrte er als Regierungsberater in ein anderes Brasilien zurück, wo sich der ehemalige Untergrundkämpfer fürchtete, nachts durch die Straßen der Hauptstadt zu laufen. "Die Waffen und die Gewalt sind mit dem Kokain gekommen. Waffen ändern die Natur eines Konflikts. Ohne sie wäre die Mordrate niedriger. Also müssen wir ihren Erwerb erschweren."
Sein Handy klingelt, langsam kramt er es aus der hellen Leinenhose: "Ja, nächste Woche der Protestmarsch in Arancaju. Wir hoffen, dass TV Globo wieder mitmacht wie in Rio." Der Drehbuchautor der beliebtesten Seifenoper Brasiliens, "Leidenschaftliche Frauen", hatte einen Hauptdarsteller während einer Schießerei durch einen Querschläger sterben lassen und wollte nun zeigen, wie die Freunde des Toten auf einer Kundgebung gegen Waffenbesitz einen Protestmarsch von Vivario begleiten.
"Wir haben den Marsch organisiert", schwärmt Antonio Bandeiras und bekommt ein leichtes Vibrato in seinen sonst so festen Bass. An die 70 Millionen Zuschauer - aus den Reichenvierteln und Favelas gleichermaßen - sahen in der nächsten Folge von "Leidenschaftliche Frauen", wie trotz Nieselregen 50.000 Demonstranten auf der Copacabana aufmarschierten, Schauspieler Schulter an Schulter mit echten Opfern von Querschlägern, die heute im Rollstuhl sitzen oder auf Krücken humpeln und Transparente mit den Forderungen von Vivario hochhielten.
Fotos: � paul hahn/laif
Tilman Wörtz ist Autor bei der Agentur Zeitenspiegel und lebt und arbeit derzeit in Shanghai.
Zum changeX-Partnerportrait: Peace Counts project.
© changeX Partnerforum [24.05.2003] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
changeX 24.05.2004. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
Artikeltags
Peace Counts project
Weitere Artikel dieses Partners
Japaner gründeten eine Friedensuniversität, die ständig rund um die Welt schippert. zum Report
Hilfe für die Menschen in Sri Lanka - ein ungewöhnliches Projekt. zum Report
Eine Jugendorganisation versucht, die Feindseligkeit zwischen Muslimen und Kroaten in Mostar zu überwinden. zum Report