Eine Brücke für „Schizopolis“
Eine Jugendorganisation versucht, die Feindseligkeit zwischen Muslimen und Kroaten in Mostar zu überwinden.
Von Michael Gleich
Genau zehn Jahre nach Kriegsende wird in Mostar die wieder aufgebaute Stari Most eingeweiht, die weltberühmte Brücke über die Neretva. Doch die Stadt ist immer noch tief gespalten in ein muslimisches und ein christliches Ufer. Die Jugendorganisation Mladi Most findet sich mit der Teilung nicht ab. Sie baut unsichtbare Brücken zwischen den Lagern.

„Ich soll Angst haben?
Ich bin Mostari von Kopf bis Fuß,
ich bin schon als junger Mann
von der Alten Brücke gesprungen.“

Himna za Mostare/Lied der Brückenspringer

Jugendzentrum abrabsevic: Offen
      für Muslime und Christen.
Jugendzentrum abrabsevic:
Offen für Muslime und Christen.

Wenige Panzergranaten genügten, um den Traum zu töten. Der Traum hatte die Form eines kühnen, weißen Steinbogens, der sich 438 Jahre lang über das gurgelnde Flaschengrün der Neretva spannte. Alle Lasten hatte er mit Leichtigkeit getragen, allen Stürmen standgehalten, den überbordenden Frühjahrsfluten getrotzt. Stari Most, die Alte Brücke, wie alle sie nennen, ob Bosniake, Serbe oder Kroate, war Herz und Halt der Stadt gewesen. Weithin sichtbar hatte sie als Fixpunkt im Weichbild der Flussufer geankert. Als sie an jenem Novembermorgen um 10.12 Uhr kollabierte, nach genau 65 Granaten aus dem Rohr eines kroatischen Panzers, zerbrach auch die Hoffnung für die Mostaraca, die Bewohner Mostars. Für jeden eine andere.
Für den alten Safa, Philosoph und Andenkenverkäufer, der sommers die deutschen Touristen in Diskurse über Kant und Hegel verwickelt und ihnen dann, mit kategorischem Imperativ, seine Kupferbilder angedreht hatte: Für Safa starb eine über Jahrzehnte freigiebige Ernährerin. Vanja, der Wagemutige, der nicht nur den Mädchen seines Alters den Kopf verdreht hatte, sondern auch mancher erwachsenen Frau mit Hechtsprüngen 25 Meter hinunter in die gletscherkalte Neretva: Vanja büßte den Schauplatz täglicher Heldentaten ein. Die 18-jährige Muslimin Senada, von kroatischen Soldaten mit vorgehaltenen Gewehren aus ihrer Wohnung vertrieben, gleichmütig beobachtet von den guten Christenmenschen in der Nachbarschaft: Senada fand die Rückkehr ans Westufer ein für alle Mal abgeschnitten. In all diesen Geschichten reißt ein Faden, bricht etwas.
Einige Tausend Mostaraca waren zu diesem Zeitpunkt getötet worden, Zehntausende vertrieben, der muslimische Ostteil lag nach mehrmonatigem Dauerbeschuss in Trümmern. Doch erst das Sterben von Stari Most, einer Fußgängerbrücke ohne jede strategische Bedeutung, verdichtete all die kranken Umtriebe der vergangenen Monate zu einem traumatischen Bild. Heller Stein, der zu Staubfontänen explodierte, Mörtel, der die Neretva blutrot färbte: Schönheit wurde vernichtet allein um des Vernichtens Willen. Übrig blieben zwei Stümpfe, die sich einander entgegenreckten, ohne sich zu erreichen. Ihre ohnmächtige Gestik drückte aus: Mostar wird nie wieder die gleiche Stadt sein.


Eine neue Brücke ist noch kein neuer Frieden.


Zehn Jahre später. Türkische Steinmetze meißeln letzte Unebenheiten von den Quadern, die den Brückenbogen abschließen. Stari Most, die Totgeglaubte, bekommt ein zweites Leben geschenkt. Die Türme, die rechts und links der Neretva den Übergang kontrollieren, wirken trutzig wie einst. Benachbarte Moscheen sind repariert, neue hinzugekommen. 15 Millionen Euro hat der Wiederaufbau gekostet. Im Juli soll die neue Alte Brücke mit großem Pomp eingeweiht werden. Alle Welt wird sich über die Bilder des strahlend weißen Bogens freuen. Man wird denken: Nun ist die klaffende Wunde über der Neretva verheilt, das Gespenst des Krieges vertrieben. Man wird Sekt trinken und jubilieren: Seht her, wir haben Mostar wieder vereinigt! Man wird sich fürchterlich irren.
„In Wirklichkeit sind wir vom Frieden weit entfernt“, meint die Muslimin Senada Zuric, die im Krieg auf das andere Ufer der Neretva vertrieben wurde. Seit den ethnischen Säuberungen ist der Fluss für Mostar, was die Mauer für Berlin war: eine Demarkationslinie zwischen zwei Völkern. Auf der östlichen Seite leben die muslimischen Bosniaken, im Westteil die christlichen Kroaten. Schizopolis, Stadt mit gespaltenem Bewusstsein. Obwohl sie nur etwas mehr als 100.000 Einwohner zählt, leistet sie sich den Unsinn von zwei Universitäten, zwei Wasserwerken, zwei Schulsystemen, zwei Arbeitsämtern, zwei Zivilrechtsordnungen. In Schizopolis gilt das Gesetz des „Teilens und Herrschens“. Der Krieg hat neue Eliten geschaffen. Viele neue Posten sind zu besetzen. Auf dem Ticket der Gewalt sind sie nach oben gekommen, mit Tiraden gegen die „andere Seite“ profilieren sie sich, als Hardliner behaupten sie die politische Führung.


Unsichtbare Brücken.


Senada ist 28 und damit zu jung, sich mit der Teilung der Stadt abzufinden. „Denn das würde bedeuten, die Vision aufzugeben, dass wir eines Tages in Mostar wieder ganz normal leben können.“ Viel verlangt sie nicht für sich, für ihre Generation. Einen Job, ein bisschen Kultur, Spaziergänge ohne Angst - eine Chance halt. Hälftig wäre Mostar jedoch nicht überlebensfähig. Senada hat sich mit anderen zusammengetan, jungen Bosniaken, Kroaten und Serben. Baumeister sind sie allesamt, denn auch sie errichten Übergänge über die Neretva. Unsichtbare, aber besonders wichtige. Mladi Most heißt ihre Organisation, Junge Brücke. Die angehende Betriebswirtin Senada koordiniert das Programm, kümmert sich um die Finanzen und pflegt, weil sie hervorragend englisch spricht, die wichtigen Kontakte zum Ausland. Sie ist eine moderne Muslimin, die den Ramadan einhält, weil sie das Fasten mag, aber das Alkoholverbot des Korans als genussfeindlich ignoriert.

Mostar ist immer noch zerstört -
        und nach Ethnien streng getrennt.
Mostar ist immer noch zerstört -
und nach Ethnien streng getrennt.

Als Mladi Most gleich nach Kriegsende gegründet wurde, halfen deutsche Studenten von der Aktion Sühnezeichen, inmitten von trümmergesäumten Straßenzügen und granatendurchpflügten Brachen ein Jugendzentrum zu errichten. Es liegt genau auf der ehemaligen Frontlinie, nach allen Seiten offen. Auf den ersten Blick machen die Jugendlichen im Zentrum Abrasevic nichts anderes als ihre Altersgenossen in irgendeiner Kleinstadt im Westen. Foto-AG und Internet-Café, Theater und Rockmusik spielen, eine eigene Zeitung herausgeben und Videos drehen. Doch in einem Umfeld der Extreme wird das Normale zum Außergewöhnlichen.
„Dva dva djela. Zwei zwei Teile. Auf dem Altar des Teufels / habt ihr die Stadt zerschnitten. Politikfiguren schüren den Hass. / Die Stadt schreit vor Schmerz / wenn sich ihre Bewohner hassen. Begraben wir die Messer / nähen wir die Wunden. Djela grada, die geteilte Stadt / verjagt die Arschlöcher, die Hasskappen, um wieder eins zu werden mit sich.“ - Die drei Jungs von „Corpus Delicti“ schreien ihren Frust heraus. Zu Beats vom Band reimen und rappen sie, Sprechgesang im Stakkato, der das kleine Tonstudio von Abrasevic erzittern lässt, und wenn auch die Kinnbärte, die in den Kniekehlen hängenden Hosen geliehene Symbole aus amerikanischen Schwarzen-Ghettos sind: Der Zorn der 20-Jährigen ist echt.
Als Kriegskinder haben sie mit angesehen, wie Frauen beim Wäschewaschen an der Neretva von Scharfschützen abgeknallt wurden. Als Jugendliche haben sie in den Ruinen am einst heftig umkämpften „Bulevar“ verbotene Zigaretten geraucht. „Und jetzt, wo das Leben eigentlich losgehen sollte, geht gar nichts los“, sagt Mirko, einer der drei. - Weil der Krieg zwar zu Ende ist, aber der Frieden nicht kommt? - Nein, weil Jobs fehlen. Gäbe es Arbeit, würde sich der Konflikt in Nichts auflösen. „Dva dva djela, zerstrittene Zwillinge, Hass und Liebe, wir sind nicht Bosniake, nicht Kroate, Mostaraca sind wir, wir schreien es heraus. Mit einer Stimme, nicht mit zweien.“
Kein Wunder, dass Abrasevic von den nationalistischen Hasskappen, die in Bosnien-Herzegowina in der Politik den Ton angeben, misstrauisch beobachtet wird. „Drogendealer“ lautet der Vorwurf der milderen Art, „Verräter“ die weitaus gefährlichere Anklage; darauf stand in Kriegsbosnien nicht selten die Todesstrafe. In einer Atmosphäre, die noch den winzigsten kulturellen Unterschied zum identitätsstiftenden Merkmal aufblasen möchte, gilt der Betrieb eines gemischtethnischen Jugendzentrums als Provokation.


Fluchtpunkte.


Für Damir ist es eine Entspannung. Eine hassfreie Zone. Ein Fluchtpunkt für den 19-Jährigen, wenn es zu Hause mal wieder Stunk gibt. „Mein Vater ist Kroate, meine Mutter Muslimin. Kaum ist der Fernseher an und geht es um Politik, vertritt er die eine Position und sie die gegenteilige. Die beiden zanken sich jeden Tag. Manchmal fühle ich mich regelrecht in der Mitte gespalten. Das fängt schon bei der Sprache an. Muslime sagen für Brot 'hljeb', Kroaten 'kruh'. Wenn ich ein Brot kaufen soll und beim kroatischen Bäcker ein 'kruh' bestelle, fühle ich mich, als würde ich meine Mutter verraten.“ Für Gleichaltrige auf der Westseite ist er der Muslim, mit dem sie nichts zu tun haben wollen, im Osten wird er dagegen als Kroate beargwöhnt. „Mittlerweile nehme ich das nicht mehr persönlich.“

Theatergruppe von Jugendlichen in
        Mostar.
Theatergruppe von Jugendlichen
in Mostar.

Das große Morden in Mostar überlebte Damir durch eine glückliche Fügung: „Wir kickten auf einem Bolzplatz. Wie Kinder so sind: Die spielen auch im Krieg. Ich war gerade vom Feld gerannt, hinter einem Typen her, der mich geärgert hatte. Genau in diesem Moment kam die Granate. Sie schlug zwischen den beiden Stöcken ein, die wir als Tore aufgestellt hatten. Sieben Kinder wurden verletzt, eines starb später.“ Damirs Familie floh nach Deutschland. Vier Jahre lebte er in Augsburg, gewann Freunde. „Dorthin möchte ich zurück, sobald es geht - auch wenn das unsere Lehrer hier nicht gerne hören. Die reden uns ein, wir schuldeten es unserem Land, hier zu bleiben.“ 70 Prozent der Jugendlichen geben an, Bosnien verlassen zu wollen, wenn sie die Chance dazu bekommen. Oft sind es die gut Ausgebildeten, die gehen, die mit den Sprachkenntnissen, die Mutigen. Mit jedem von ihnen trocknet die Zukunft ein wenig mehr aus, so wie ein langsam verlandender See.
Mladi Most versucht, diesem Schwund mit bescheidenen Mitteln entgegenzuwirken. „Nach Kriegsende ging es uns zunächst darum, junge Bosniaken, Serben und Kroaten zusammenzubringen“, erklärt Senada. Sie erinnert sich an lange Diskussionen, die mit dem Überschwang eines „Wir-haben-uns-doch-alle-lieb“ begannen und dann vor aufplatzenden seelischen Verwundungen kapitulieren mussten, an Seminare, die Versöhnung zum Programm machen wollten, aber an offenen Rechnungen scheiterten. Mit der Zeit schoben sich jedoch andere Probleme in den Vordergrund. Die Jugendlichen fühlten sich betrogen. Doppelt sogar. Nach der Implosion des Ostblocks ging es zwar allen ehemaligen Planwirtschaften schlecht, doch in Bosnien kam der Krieg hinzu. Das Land ist auch ökonomisch eine Ruine. „Deshalb hatten die meisten Jugendlichen die Schnauze voll von den Kriegsgeschichten. Sie sagen sich, wir haben damit nichts zu tun. Auch nicht mit dem Gerede von ethnischen Unterschieden, kroatisch hüben, bosniakisch drüben. Alles Quatsch, der von Politikern hochgespielt wird.“
Bei Abrasevic gehen die Jugendlichen ein und aus, und selten weiß man voneinander, wer auf welcher Seite der Neretva wohnt. Es spielt keine Rolle. Die Atmosphäre erinnert ein bisschen an jene paradiesischen Zeiten, von den alten Mostaraca gerne beschworen, als man voneinander zwar die Spitznamen, nicht aber die Religion kannte. Vor dem Krieg war Mostar ein Modell für Multikulti, muslimisch-christliche Mischehen hatten einen Anteil von über 40 Prozent, mehr als irgendwo anders in Europa. Im ehemaligen Jugoslawien waren die Leute Muslim oder Christ, wie man die getragenen Hosen vom älteren Bruder übernimmt: Ohne große Begeisterung, man wächst halt hinein. Und heute? Die Götter der Jugendlichen sind sowieso von dieser Welt, sie heißen Britney Spears, Brad Pitt und Michael Schumacher. MTV und schlecht synchronisierte spanische Tele-Novelas bestimmen den Wochenrhythmus. In den mit Pop und Pomp verbundenen Träumen findet sich der Nachwuchs mühelos überkonfessionell vereint.


Jobs und Träume.


Die Aktivisten von Mladi Most planen schon die nächste Generation von Brücken. Die führen nicht mehr über die Neretva, sondern in die Zukunft. „Mehr als die Hälfte der jungen Bosnier haben keine Arbeit. Hier tickt eine echte Zeitbombe“, meint Senada, die befürchtet, „dass Frust leicht zu neuer Gewalt eskaliert“. So schreibt sie Anträge und telefoniert mit Stiftungen in Dänemark, Deutschland und Österreich, um neue Stellen in der Kulturarbeit zu schaffen und mehr Kurse anbieten zu können, die Jugendliche fit machen für spätere Jobs. Einige Teilnehmer von Foto-Workshops verdienen bereits ihr eigenes Geld als Hochzeitsfotografen, Internetkenntnisse kommen bei Firmen gut an, aus Videoprojekten gingen Jungjournalisten hervor. „Wir wissen, wie wenig es ist, was wir tun können“, meint Senada, „aber wir sind jung, wir hoffen noch, also versuchen wir's.“
Dzemal versucht es mit Fotos. Ein Hüne mit Pferdeschwanz und weichen Gesichtszügen, 26 Jahre alt, davon sechs als Kriegsflüchtling in Bad Neuenahr. Die Zwangspause inspirierte ihn, Portraits von Angehörigen seiner Generation zu fotografieren. „Einstürzende Neubauten“ nennt er sein Projekt. Die schwarz-weißen Bilder zeigen zerschossene Hauswände, davor junge Gesichter, zu denen gebrochene Biografien gehören, Lebensentwürfe, die ins Wasser fielen wie Stari Most. Ein Flüchtlingsmädchen aus dem Kosovo, das in Italien nicht bleiben durfte, und irgendwie in Mostar hängen blieb; ein muslimischer Freund, der wegen seiner Religionszugehörigkeit nicht in Mostar studieren kann, sondern dafür nach Pristina gehen muss; einen, der im Krieg beide Eltern verloren hat und sich als Bauer durchschlägt, obwohl er eigentlich Journalist ist. Dennoch spricht aus den Gesichtern nicht Depression, sondern ein starker Wille, sich wieder neu zu erfinden. Den Ruinen im Hintergrund zu trotzen. Das Schöne im Schrecklichen zu finden. Die Nachkriegsgeneration will sich von der Vergangenheit nicht erdrücken lassen, sie verteidigt ihre Zukunft.
Dzemal ist spät dran mit seiner Zukunft. Erst jetzt, in einem Alter, wo andere ihr Uni-Examen ablegen, will er sein Fachabitur machen, dann möchte er Fotografie studieren. „Ich habe keine wilden Träume. Eine kleine Arbeit, das wäre schon was.“ In Mostar? „Da müsste ich schon schwer Glück haben. Was du kriegst, sind illegale Geschäfte. Oder eine mies bezahlte Stelle als Kellner. Ich will aber nicht Kellner werden.“ Wohin also? „Zwei meiner Brüder leben in den USA. Vielleicht kann ich da hin.“ Wenn alle weggehen, wer soll dann das neue Mostar bauen? „Ich habe mich dafür eingesetzt, dass es hier besser wird. Aber stattdessen geht es wirtschaftlich immer mehr bergab. Ich muss jetzt endlich an mich denken.“
Sein Freund Igor, der von morgens bis abends im Abrasevic herumwuselt, zeigt die gleichen Anzeichen von Ungeduld. Man trifft ihn beim Malen auf Holz, beim Aufbau für ein Konzert, als Schauspieler in einer Theatergruppe, als Kletterer, der sich in der Nähe vom Jugendzentrum von einem Baukran abseilt. „Ich lebe, so schnell ich kann“, sagt Igor. Ihm sind ein paar Jahre gestohlen worden, jetzt fährt er auf der Überholspur, um sie sich zurückzuholen.


Trutzburg aus Beton.


Abrasevic bietet viel Raum für nachgeholte Kindheiten. Das Zentrum besteht aus 16 Containern, gegen Regen und Sonne von einem weißen Zirkuszelt überdacht. Die kleine Wagenburg war von dem Medienpolitiker Freimut Duve ausgedacht und von westlichen Stiftungen mit viel Hightech ausgerüstet worden und reiste dann durch die Länder Ex-Jugoslawiens. In Mostar, der letzten Destination, wurde der Kulturtreck sesshaft. Ein Glücksfall für die Stadt, in der Cafés die einzigen Treffpunkte für Jugendliche waren. In den mit leuchtenden Graffiti besprühten Metallwürfeln verbirgt sich eine Art technischer Abenteuerspielplatz: modern eingerichtete Großküche, Internet-Café, Tonstudio, Schnittplätze für Videoproduktionen, Büro für die Verwaltung, in der Mitte eine voll ausgerüstete Bühne für Konzerte und Theater.

Jugendzentrum abrabsevic: Offen
        für Muslime und Christen.
Jugendzentrum abrabsevic: Offen
für Muslime und Christen.

Auch die skurrile Umgebung lockt. Die Containerrunde siedelt mitten in einer Trutzburg aus Beton. Daraus sollte einmal ein Mehrzweckstadion werden, wegen des Krieges wurde es nicht zu Ende gebaut, heute wäre Abreißen zu teuer. Mit seinen massiven Tribünen und in den Himmel zeigenden Pfeilern, die nichts tragen, hier und da schon von Klatschmohn und Mauerwurz besiedelt, wirkt es wie ein griechisches Amphitheater, das Archäologen ausgegraben haben. Die grauen Wände scheinen die bunte Zeltstadt gegen Angreifer von außen zu schützen. Neutraler Boden, sicherer Ort. Aber auch ein Illusionstheater: Hierher kommen die Jugendlichen wie im Monopoly-Spiel „nur zu Besuch“, irgendwann gehen sie heim, die einen hüben, die anderen nach drüben, und schon hat Schizopolis sie wieder.
„Was, wenn hier in Abrasevic ein Junge vom Ostufer ein Mädchen vom Westufer kennen lernt?“, fragt der 25-jährige Denan Behmen, der bei einer der fünf Organisationen arbeitet, die das Zentrum tragen. „Vielleicht gehen die beiden eine Weile miteinander, aber irgendwann wird's kompliziert.“ Er spricht nicht von irgendeinem Jungen, sondern in Wirklichkeit von sich. Die eigenen Eltern waren nicht das Problem, als er eine Kroatin kennen lernte, sie waren Muslime von Geburt, aber nicht nach dem Herzen. Er durfte Maria mit nach Hause bringen. Doch auf der anderen Seite der Neretva durften sich die beiden nicht Hand in Hand erwischen lassen. Marias Eltern hätten ihr wegen der Liaison mit einem Muslim die Hölle heiß gemacht. Falls sie ihren Vater doch mal auf der Straße träfen, so bat ihn seine Freundin inständig, solle er sich als „Daniel“ vorstellen. Ein christlicher Name als Tarnung.
„Das hätte ich sogar gemacht“, sagt er heute, „aber irgendwann ließ sich unsere Beziehung nicht mehr verheimlichen. Unter dem Druck der Alten ist sie in die Brüche gegangen. Die Erwachsenen sind einfach noch nicht so weit wie wir.“ So sei das oft, im neuen geteilten Mostar: Tändeln, das geht auch über die Neretva hinweg, aber wenn es ans Heiraten geht, scheinen alle Brücken wie abgebrochen. „Eine gemischte Ehe bringt nur Probleme“, sagen die Eltern, obwohl sie es besser wissen müssten: Diese Mischung war noch vor 15 Jahren völlig normal. Aber das war vor dem Krieg.
„Die Alten kannst du abhaken“, sagt Denan, sie gehörten zu einer „verlorenen Generation“. Wenn es jemand schaffen könne, die Heimatstadt irgendwann wieder zu vereinigen, „dann wir Jungen“. Eine der vielen Merkwürdigkeiten in Schizopolis besteht darin, dass diejenigen als abgehobene Spinner verunglimpft werden, die lediglich den alten Geist wieder erwecken wollen. Mostar, wie es einmal war. Kulturelle Vielfalt, Laisser-faire, die Tradition der Toleranz.


Die Brückenspringer von Mostar.


Wie es einmal war: Dazu gehörten die Verrückten, die - für Geld oder aus Gaudi - kopfüber von der Brücke sprangen. Meist Jungs, aber auch ein paar Mädchen trauten sich. Sie nannten sich „Mostari“, die Brückner. Religion machte keinen Unterschied. Mit ihren akrobatischen Stürzen in die Tiefe waren sie genauso populär wie Stari Most selbst.

Brückenspringer: Seit alters eine Mutprobe für junge Männer in Mostar. Die "Alte Brücke" (Stari Most) wurde im Krieg zerstört.
Brückenspringer: Seit alters eine Mutprobe
für junge Männer in Mostar. Die „Alte
Brücke“ (Stari Most) wurde im Krieg
zerstört. Rechts Vanja (christlicher Kroate,
mit Tattoo), links Dzevad (muslimischer
Bosniake).

Vanja springt. Er streckt seinen muskulösen Körper, den Kopf hoch erhoben, die Haare flatternd im Wind. Fünf Stockwerke tiefer rauscht die Neretva talabwärts. Doch Vanja schaut nicht nach unten. Das sieht nicht gut aus. Haltung ist alles. Er holt ein wenig Schwung mit den Armen, aber die eigentliche Kraft fürs Abstoßen holt er aus den Beinen. Er fliegt. Die Füße fest beieinander, schießt er senkrecht nach unten, das Kreuz so weit durchgedrückt, dass nicht der Kopf zuvorderst ist, sondern die Brust. „Schwalbe“ nennen die Mostari diese Figur. Sie gilt als die gefährlichste von allen. Wer zu früh die Arme nach vorne nimmt, um einzutauchen, gilt als Feigling, wer es zu spät tut, bekommt zu spüren, wie hart Wasser sein kann. Nach drei Sekunden Flug reißt Vanja im allerletzten Moment die Arme vor, schießt wie ein Pfeil ins Wasser, beschreibt unter der Oberfläche einen winzigen Bogen, keinen Meter tief eintauchend, schon reckt sich sein Kopf wieder aus den eiskalten Strudeln. Die Touristen am Ufer applaudieren. Vor einigen Jahren war Vanja mit dem Gesicht aufgeprallt, hatte sich die Schulter gebrochen und war für eine halbe Minute klinisch tot. „Am selben Tag bin ich noch mal gesprungen“, sagt er, so lässig wie möglich. Die Mostari pflegen einen unterkühlten Machismo, wie man ihn von Extrembergsteigern kennt.
Vanja ist ein Brückenspringer ohne Brücke. Im Krieg wurde seine Familie auseinander gerissen. Er floh mit der Mutter nach Split. Als 17-Jähriger trainierte er an den steilen Felsen der kroatischen Küste, „immer mit dem Gedanken: Wenn ich eines Tages zurückgehe, werde ich von Stari Most springen.“ So, wie sie es seit Jahrhunderten getan haben; der weiße Steinbogen war 1556 von einem ottomanischen Baumeister errichtet worden, und seit diesem Jahr, so die Legende, existiere auch der Brauch des Brückenspringens. Vanja Golos, heute 27, war der erste Flüchtling, der im April 1994 nach Mostar zurückkam. Seit dieser Zeit ist rund 10.000-mal von der ..., nein, nicht von der Brücke gesprungen, sondern von deren Überresten. Oder von den angrenzenden Türmen. Oder von den Bohlen der schmalen Behelfsbrücke. Jetzt freut er sich auf den Juli. „Von der reparierten Brücke, das wird ein ganz anderes Gefühl sein.“
Kurz nach der Einweihung wird es den ersten Wettbewerb geben, und dann hoffentlich eine gute Saison mit vielen Touristen, die Geld in die Stadt bringen und etwas davon bei den Mostari lassen. Denn das Springen, früher ausschließlich Mutprobe und Aufnahmeprüfung ins Erwachsenendasein, ist mittlerweile eine sprudelnde Dollar- und Euro-Quelle geworden. Und die teilen sich Kroaten wie Vanja mit Muslimen wie Dzevad, seinem Freund. „Unser Club steht allen Seiten offen“, sagt Dzevad, und Vanja nickt dazu.


Das gute Geschäft verbindet.


Jugendzentrum abrabsevic: Abseilen
        vom Hass der ethnischen Gruppen aufeinander.
Jugendzentrum abrabsevic: Abseilen
vom Hass der ethnischen Gruppen
aufeinander.

Beim Geld hört angeblich die Freundschaft auf. Interessanterweise beginnt sie bei den Mostari genau dort. Eine Touristengruppe sammelt leicht 100 Euro für einen Kopfsprung, viel Geld in Mostar, wo ein Kellner 300 Euro im Monat verdient. Der Club der Mostari regelt den Betrieb auf der Brücke: Wer wann drauf darf, wie viel Sprünge pro Mann, wie die Einnahmen verteilt werden. Früher war es auf Stari Most zu Handgreiflichkeiten gekommen, die Polizei musste einschreiten, Springer hatten einen Ruf als Rüpel. Seit Gründung des Clubs herrscht Eintracht über der Neretva. Auch zwischen den ethnischen Gruppen. „Für uns zählt, wie elegant einer springt, und nicht, ob er in die Moschee oder in die Kirche geht“, sagt Dzevad. Dennoch weiß er zu unterscheiden zwischen seinem kroatischen Freund Vanja und den kroatischen Nationalisten, auf deren Geheiß aus Stari Most Bauschutt wurde. „Die haben die Nachricht von der Zerstörung im Westteil gefeiert, haben mit Leuchtspurmunition in die Luft geschossen, die waren völlig aus dem Häuschen, wie Fußballfans nach einem Sieg.“ Das habe ihn verletzt, denn „als die Brücke zusammenbrach, ist auch ein Teil von mir zerbrochen“. Kroaten, die auf der schwarzen Liste der Kriegsverbrecher stehen, hätten keine Chance, in den Club aufgenommen zu werden. „Da ist eine Grenze. Denen zu verzeihen kann keiner von uns verlangen.“
Auch er fiebert dem Moment entgegen, wo der Bogen von Stari Most wieder komplett ist: „Dann werde ich mich auch wieder komplett fühlen.“ Lokalpatriotismus verbindet sich mit Geschäftssinn, auf der Brücke kann er in drei Monaten das Geld für ein ganzes Jahr verdienen.


Ein Krieg der Symbole.


Hans Koschnick hält die 15 Millionen Euro, die internationale Geber in den Wiederaufbau stecken, für eine gute Investition. Der ehemalige Bürgermeister von Bremen regierte zwei Jahre lang als EU-Administrator in Mostar. Das Datum der Einweihung von Stari Most, der 23. Juli, erinnert an den Tag vor genau zehn Jahren, als er die Stadt übernahm. Insbesondere der muslimische Ostteil lag fast vollständig in Trümmern, es gab kein Wasser, keinen Strom. Seitdem hat die EU insgesamt 250 Millionen Euro in den Wiederaufbau der Stadt gepumpt. Koschnick war letztes Jahr noch einmal dort, erfreut und enttäuscht gleichermaßen. „Die Stadt wächst zusammen, was die Verwaltung betrifft. Aber wir haben es nicht geschafft, auch die beiden Bevölkerungen einander näher zu bringen.“ Er nennt es „eine Illusion, mit viel Geld eine schnelle Versöhnung bewirken zu wollen“. Eine Brücke in die Luft zu sprengen geht schnell, aber sie zu reparieren dauert lange. Das Gleiche gilt für die Annäherung der ehemaligen Feinde. Seine Hoffnungen verknüpft Koschnick mit zwei Gruppen: „Die Alten, die noch das multikulturelle, intakte Mostar kannten und sich danach zurücksehnen. Und die ganz Jungen, die den Krieg vergessen wollen und wissen, dass Mostar nur vereint eine Chance hat.“

Brückenspringer:
        <br /> Seit alters eine Mutprobe für junge Männer in
        Mostar. Die "Alte Brücke" (Stari Most) wurde im Krieg
        zerstört. Links Vanja (christlicher Kroate), rechts Dzevad
        (muslimischer Bosniake).
Brückenspringer: Seit alters eine Mutprobe
für junge Männer in Mostar. Die „Alte
Brücke“ (Stari Most) wurde im Krieg
zerstört. Links Vanja (christlicher Kroate),
rechts Dzevad (muslimischer Bosniake).

Stari Most, Glanzstück osmanischer Baukunst, Übergang zwischen Orient und Okzident, die wunderbare Leichtigkeit des Steins. Ihre Zerstörung sei „ein Akt der Barbarei“ gewesen, meint Koschnick. Als er die Stadt regierte, seien zunächst alle Seiten für den sofortigen Wiederaufbau gewesen. „Doch allmählich ist das gekippt. Die Kroaten wollten nicht mehr, weil sie eine geteilte Stadt anstrebten - da brauche man keine Übergänge. Und die Bosniaken wollten die Wunde lieber offen liegen lassen; sie befürchteten, die Hilfsbereitschaft des Auslands werde erlahmen, wenn die Brücke wieder heil ist.“ Schließlich siegte die Wehmut. Alle waren sich einig: Mostar ohne Alte Brücke sei wie Pisa ohne Schiefen Turm oder Lourdes ohne Heilige Quelle. Doch auch die wirtschaftliche Bedeutung des weltbekannten Baudenkmals, so Koschnick, könne gar nicht hoch genug geschätzt werden. „Sie wird in Zukunft vielleicht noch mehr Touristen in die Stadt ziehen als vor dem Krieg. Als Attraktion ist sie eine der wenigen wirtschaftlichen Lichtblicke.“
Und erst der symbolische Wert. Seit in Mostar nicht mehr mit Kalaschnikows gekämpft wird, entdecken fanatische Politiker die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln: Sie führen einen Krieg der Symbole. Da errichten Kroaten auf dem Berg Hum ein 23 Meter hohes, eisernes Kreuz, das die Skyline über der Stadt beherrscht - ausgerechnet dort, von wo aus die kroatischen Geschütze ganze muslimische Häuserzeilen in Schutt und Asche legten. Als Gegenreaktion rüsten die Imame auf der Ostseite die Lautsprecher der Moscheen auf, die den Gesang des Muezzins verstärken: Fünfmal am Tag dröhnen sie nach drüben und übertönen das Läuten der Kirchenglocken. Die Franziskaner wiederum, davon herausgefordert, längen den Turm ihrer Kirche in groteske Höhen - auf dass kein Minarett ihn überrage. Und so weiter.
Auf solchermaßen ideologisch vermintem Gelände bewegten sich die Ingenieure und Architekten bei der Rekonstruktion der Alten Brücke. Weil die Baufirma aus der Türkei kam, musste sich die Bauaufsicht aus Kroaten rekrutieren. Wie gut, dass Archäologen bei den Vorarbeiten auf Fundamente stießen, die aus der Zeit vor der türkischen Eroberung Mostars stammen. Sicher, eine muslimische Brücke, aber auf christlichen Pfeilern. Noch mal Glück gehabt, Stari Most hat eine ethnisch korrekte Vergangenheit.
Engagierte Jugendliche beobachten solche politischen Sandkastenspiele mit einer Mischung aus Staunen und Ekel. „Die Erwachsenen“, sagt die Jugendarbeiterin Senada Zuric dazu, „sind sich für keine Albernheit zu schade. Und finden dafür auch noch Geldgeber, während wir jeden Dollar dreimal umdrehen müssen.“ Sie hofft, dass man nach der Einweihung im Ausland nicht glaube, Stadt, Land, Fluss, alles eitel Frieden. Die neue Brücke ist nur eine Kopie, bestehend aus neuen Steinen, die man nach alter Baukunst zusammenfügte. Mostar wie Brücke werden nie mehr das Original, sondern nur Kopie sein. Dennoch, sagt Senada, könnte Stari Most das Wahrzeichen einer neuen Zeit werden. „Sie betont das Verbindende. Eine Brücke gehört nicht dem rechten Ufer und nicht dem linken. Sie gehört immer beiden.“

Michael Gleich ist Wissenschaftspublizist und engagiert sich in der Initiative Peace Counts project für den Frieden.

www.peace-counts.org


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Michael Gleich
Gleich

Michael Gleich, Publizist, Stroryteller und Redner, hat 2011 "der kongress tanzt. Netzwerk für gute Veranstaltungen" initiiert. Es berät Veranstalter darin, Konferenzen und Foren als lebendige Lernorte zu gestalten.

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