„Ich soll
Angst haben?
Ich bin Mostari von Kopf bis Fuß,
ich bin schon als junger Mann
von der Alten Brücke gesprungen.“
Himna za Mostare/Lied der Brückenspringer
Offen für Muslime und Christen.
Wenige Panzergranaten genügten, um den Traum zu töten. Der
Traum hatte die Form eines kühnen, weißen Steinbogens, der sich 438
Jahre lang über das gurgelnde Flaschengrün der Neretva spannte.
Alle Lasten hatte er mit Leichtigkeit getragen, allen Stürmen
standgehalten, den überbordenden Frühjahrsfluten getrotzt. Stari
Most, die Alte Brücke, wie alle sie nennen, ob Bosniake, Serbe oder
Kroate, war Herz und Halt der Stadt gewesen. Weithin sichtbar hatte
sie als Fixpunkt im Weichbild der Flussufer geankert. Als sie an
jenem Novembermorgen um 10.12 Uhr kollabierte, nach genau 65
Granaten aus dem Rohr eines kroatischen Panzers, zerbrach auch die
Hoffnung für die Mostaraca, die Bewohner Mostars. Für jeden eine
andere.
Für den alten Safa, Philosoph und Andenkenverkäufer, der
sommers die deutschen Touristen in Diskurse über Kant und Hegel
verwickelt und ihnen dann, mit kategorischem Imperativ, seine
Kupferbilder angedreht hatte: Für Safa starb eine über Jahrzehnte
freigiebige Ernährerin. Vanja, der Wagemutige, der nicht nur den
Mädchen seines Alters den Kopf verdreht hatte, sondern auch mancher
erwachsenen Frau mit Hechtsprüngen 25 Meter hinunter in die
gletscherkalte Neretva: Vanja büßte den Schauplatz täglicher
Heldentaten ein. Die 18-jährige Muslimin Senada, von kroatischen
Soldaten mit vorgehaltenen Gewehren aus ihrer Wohnung vertrieben,
gleichmütig beobachtet von den guten Christenmenschen in der
Nachbarschaft: Senada fand die Rückkehr ans Westufer ein für alle
Mal abgeschnitten. In all diesen Geschichten reißt ein Faden,
bricht etwas.
Einige Tausend Mostaraca waren zu diesem Zeitpunkt getötet
worden, Zehntausende vertrieben, der muslimische Ostteil lag nach
mehrmonatigem Dauerbeschuss in Trümmern. Doch erst das Sterben von
Stari Most, einer Fußgängerbrücke ohne jede strategische Bedeutung,
verdichtete all die kranken Umtriebe der vergangenen Monate zu
einem traumatischen Bild. Heller Stein, der zu Staubfontänen
explodierte, Mörtel, der die Neretva blutrot färbte: Schönheit
wurde vernichtet allein um des Vernichtens Willen. Übrig blieben
zwei Stümpfe, die sich einander entgegenreckten, ohne sich zu
erreichen. Ihre ohnmächtige Gestik drückte aus: Mostar wird nie
wieder die gleiche Stadt sein.
Eine neue Brücke ist noch kein neuer Frieden.
Zehn Jahre später. Türkische
Steinmetze meißeln letzte Unebenheiten von den Quadern, die den
Brückenbogen abschließen. Stari Most, die Totgeglaubte, bekommt
ein zweites Leben geschenkt. Die Türme, die rechts und links der
Neretva den Übergang kontrollieren, wirken trutzig wie einst.
Benachbarte Moscheen sind repariert, neue hinzugekommen. 15
Millionen Euro hat der Wiederaufbau gekostet. Im Juli soll die
neue Alte Brücke mit großem Pomp eingeweiht werden. Alle Welt
wird sich über die Bilder des strahlend weißen Bogens freuen. Man
wird denken: Nun ist die klaffende Wunde über der Neretva
verheilt, das Gespenst des Krieges vertrieben. Man wird Sekt
trinken und jubilieren: Seht her, wir haben Mostar wieder
vereinigt! Man wird sich fürchterlich irren.
„In Wirklichkeit sind wir vom Frieden weit entfernt“, meint
die Muslimin Senada Zuric, die im Krieg auf das andere Ufer der
Neretva vertrieben wurde. Seit den ethnischen Säuberungen ist der
Fluss für Mostar, was die Mauer für Berlin war: eine
Demarkationslinie zwischen zwei Völkern. Auf der östlichen Seite
leben die muslimischen Bosniaken, im Westteil die christlichen
Kroaten. Schizopolis, Stadt mit gespaltenem Bewusstsein. Obwohl
sie nur etwas mehr als 100.000 Einwohner zählt, leistet sie sich
den Unsinn von zwei Universitäten, zwei Wasserwerken, zwei
Schulsystemen, zwei Arbeitsämtern, zwei Zivilrechtsordnungen. In
Schizopolis gilt das Gesetz des „Teilens und Herrschens“. Der
Krieg hat neue Eliten geschaffen. Viele neue Posten sind zu
besetzen. Auf dem Ticket der Gewalt sind sie nach oben gekommen,
mit Tiraden gegen die „andere Seite“ profilieren sie sich, als
Hardliner behaupten sie die politische Führung.
Unsichtbare Brücken.
Senada ist 28 und damit zu jung, sich mit der Teilung der Stadt abzufinden. „Denn das würde bedeuten, die Vision aufzugeben, dass wir eines Tages in Mostar wieder ganz normal leben können.“ Viel verlangt sie nicht für sich, für ihre Generation. Einen Job, ein bisschen Kultur, Spaziergänge ohne Angst - eine Chance halt. Hälftig wäre Mostar jedoch nicht überlebensfähig. Senada hat sich mit anderen zusammengetan, jungen Bosniaken, Kroaten und Serben. Baumeister sind sie allesamt, denn auch sie errichten Übergänge über die Neretva. Unsichtbare, aber besonders wichtige. Mladi Most heißt ihre Organisation, Junge Brücke. Die angehende Betriebswirtin Senada koordiniert das Programm, kümmert sich um die Finanzen und pflegt, weil sie hervorragend englisch spricht, die wichtigen Kontakte zum Ausland. Sie ist eine moderne Muslimin, die den Ramadan einhält, weil sie das Fasten mag, aber das Alkoholverbot des Korans als genussfeindlich ignoriert.
und nach Ethnien streng getrennt.
Als Mladi Most gleich nach Kriegsende gegründet wurde,
halfen deutsche Studenten von der Aktion Sühnezeichen, inmitten von
trümmergesäumten Straßenzügen und granatendurchpflügten Brachen ein
Jugendzentrum zu errichten. Es liegt genau auf der ehemaligen
Frontlinie, nach allen Seiten offen. Auf den ersten Blick machen
die Jugendlichen im Zentrum Abrasevic nichts anderes als ihre
Altersgenossen in irgendeiner Kleinstadt im Westen. Foto-AG und
Internet-Café, Theater und Rockmusik spielen, eine eigene Zeitung
herausgeben und Videos drehen. Doch in einem Umfeld der Extreme
wird das Normale zum Außergewöhnlichen.
„Dva dva djela. Zwei zwei Teile. Auf dem Altar des Teufels /
habt ihr die Stadt zerschnitten. Politikfiguren schüren den Hass. /
Die Stadt schreit vor Schmerz / wenn sich ihre Bewohner hassen.
Begraben wir die Messer / nähen wir die Wunden. Djela grada, die
geteilte Stadt / verjagt die Arschlöcher, die Hasskappen, um wieder
eins zu werden mit sich.“ - Die drei Jungs von „Corpus Delicti“
schreien ihren Frust heraus. Zu Beats vom Band reimen und rappen
sie, Sprechgesang im Stakkato, der das kleine Tonstudio von
Abrasevic erzittern lässt, und wenn auch die Kinnbärte, die in den
Kniekehlen hängenden Hosen geliehene Symbole aus amerikanischen
Schwarzen-Ghettos sind: Der Zorn der 20-Jährigen ist echt.
Als Kriegskinder haben sie mit angesehen, wie Frauen beim
Wäschewaschen an der Neretva von Scharfschützen abgeknallt wurden.
Als Jugendliche haben sie in den Ruinen am einst heftig umkämpften
„Bulevar“ verbotene Zigaretten geraucht. „Und jetzt, wo das Leben
eigentlich losgehen sollte, geht gar nichts los“, sagt Mirko, einer
der drei. - Weil der Krieg zwar zu Ende ist, aber der Frieden nicht
kommt? - Nein, weil Jobs fehlen. Gäbe es Arbeit, würde sich der
Konflikt in Nichts auflösen. „Dva dva djela, zerstrittene
Zwillinge, Hass und Liebe, wir sind nicht Bosniake, nicht Kroate,
Mostaraca sind wir, wir schreien es heraus. Mit einer Stimme, nicht
mit zweien.“
Kein Wunder, dass Abrasevic von den nationalistischen
Hasskappen, die in Bosnien-Herzegowina in der Politik den Ton
angeben, misstrauisch beobachtet wird. „Drogendealer“ lautet der
Vorwurf der milderen Art, „Verräter“ die weitaus gefährlichere
Anklage; darauf stand in Kriegsbosnien nicht selten die
Todesstrafe. In einer Atmosphäre, die noch den winzigsten
kulturellen Unterschied zum identitätsstiftenden Merkmal aufblasen
möchte, gilt der Betrieb eines gemischtethnischen Jugendzentrums
als Provokation.
Fluchtpunkte.
Für Damir ist es eine Entspannung. Eine hassfreie Zone. Ein Fluchtpunkt für den 19-Jährigen, wenn es zu Hause mal wieder Stunk gibt. „Mein Vater ist Kroate, meine Mutter Muslimin. Kaum ist der Fernseher an und geht es um Politik, vertritt er die eine Position und sie die gegenteilige. Die beiden zanken sich jeden Tag. Manchmal fühle ich mich regelrecht in der Mitte gespalten. Das fängt schon bei der Sprache an. Muslime sagen für Brot 'hljeb', Kroaten 'kruh'. Wenn ich ein Brot kaufen soll und beim kroatischen Bäcker ein 'kruh' bestelle, fühle ich mich, als würde ich meine Mutter verraten.“ Für Gleichaltrige auf der Westseite ist er der Muslim, mit dem sie nichts zu tun haben wollen, im Osten wird er dagegen als Kroate beargwöhnt. „Mittlerweile nehme ich das nicht mehr persönlich.“
in Mostar.
Das große Morden in Mostar überlebte Damir durch eine
glückliche Fügung: „Wir kickten auf einem Bolzplatz. Wie Kinder so
sind: Die spielen auch im Krieg. Ich war gerade vom Feld gerannt,
hinter einem Typen her, der mich geärgert hatte. Genau in diesem
Moment kam die Granate. Sie schlug zwischen den beiden Stöcken ein,
die wir als Tore aufgestellt hatten. Sieben Kinder wurden verletzt,
eines starb später.“ Damirs Familie floh nach Deutschland. Vier
Jahre lebte er in Augsburg, gewann Freunde. „Dorthin möchte ich
zurück, sobald es geht - auch wenn das unsere Lehrer hier nicht
gerne hören. Die reden uns ein, wir schuldeten es unserem Land,
hier zu bleiben.“ 70 Prozent der Jugendlichen geben an, Bosnien
verlassen zu wollen, wenn sie die Chance dazu bekommen. Oft sind es
die gut Ausgebildeten, die gehen, die mit den Sprachkenntnissen,
die Mutigen. Mit jedem von ihnen trocknet die Zukunft ein wenig
mehr aus, so wie ein langsam verlandender See.
Mladi Most versucht, diesem Schwund mit bescheidenen Mitteln
entgegenzuwirken. „Nach Kriegsende ging es uns zunächst darum,
junge Bosniaken, Serben und Kroaten zusammenzubringen“, erklärt
Senada. Sie erinnert sich an lange Diskussionen, die mit dem
Überschwang eines „Wir-haben-uns-doch-alle-lieb“ begannen und dann
vor aufplatzenden seelischen Verwundungen kapitulieren mussten, an
Seminare, die Versöhnung zum Programm machen wollten, aber an
offenen Rechnungen scheiterten. Mit der Zeit schoben sich jedoch
andere Probleme in den Vordergrund. Die Jugendlichen fühlten sich
betrogen. Doppelt sogar. Nach der Implosion des Ostblocks ging es
zwar allen ehemaligen Planwirtschaften schlecht, doch in Bosnien
kam der Krieg hinzu. Das Land ist auch ökonomisch eine Ruine.
„Deshalb hatten die meisten Jugendlichen die Schnauze voll von den
Kriegsgeschichten. Sie sagen sich, wir haben damit nichts zu tun.
Auch nicht mit dem Gerede von ethnischen Unterschieden, kroatisch
hüben, bosniakisch drüben. Alles Quatsch, der von Politikern
hochgespielt wird.“
Bei Abrasevic gehen die Jugendlichen ein und aus, und selten
weiß man voneinander, wer auf welcher Seite der Neretva wohnt. Es
spielt keine Rolle. Die Atmosphäre erinnert ein bisschen an jene
paradiesischen Zeiten, von den alten Mostaraca gerne beschworen,
als man voneinander zwar die Spitznamen, nicht aber die Religion
kannte. Vor dem Krieg war Mostar ein Modell für Multikulti,
muslimisch-christliche Mischehen hatten einen Anteil von über 40
Prozent, mehr als irgendwo anders in Europa. Im ehemaligen
Jugoslawien waren die Leute Muslim oder Christ, wie man die
getragenen Hosen vom älteren Bruder übernimmt: Ohne große
Begeisterung, man wächst halt hinein. Und heute? Die Götter der
Jugendlichen sind sowieso von dieser Welt, sie heißen Britney
Spears, Brad Pitt und Michael Schumacher. MTV und schlecht
synchronisierte spanische Tele-Novelas bestimmen den
Wochenrhythmus. In den mit Pop und Pomp verbundenen Träumen findet
sich der Nachwuchs mühelos überkonfessionell vereint.
Jobs und Träume.
Die Aktivisten von Mladi Most
planen schon die nächste Generation von Brücken. Die führen nicht
mehr über die Neretva, sondern in die Zukunft. „Mehr als die
Hälfte der jungen Bosnier haben keine Arbeit. Hier tickt eine
echte Zeitbombe“, meint Senada, die befürchtet, „dass Frust
leicht zu neuer Gewalt eskaliert“. So schreibt sie Anträge und
telefoniert mit Stiftungen in Dänemark, Deutschland und
Österreich, um neue Stellen in der Kulturarbeit zu schaffen und
mehr Kurse anbieten zu können, die Jugendliche fit machen für
spätere Jobs. Einige Teilnehmer von Foto-Workshops verdienen
bereits ihr eigenes Geld als Hochzeitsfotografen,
Internetkenntnisse kommen bei Firmen gut an, aus Videoprojekten
gingen Jungjournalisten hervor. „Wir wissen, wie wenig es ist,
was wir tun können“, meint Senada, „aber wir sind jung, wir
hoffen noch, also versuchen wir's.“
Dzemal versucht es mit Fotos. Ein Hüne mit Pferdeschwanz
und weichen Gesichtszügen, 26 Jahre alt, davon sechs als
Kriegsflüchtling in Bad Neuenahr. Die Zwangspause inspirierte
ihn, Portraits von Angehörigen seiner Generation zu
fotografieren. „Einstürzende Neubauten“ nennt er sein Projekt.
Die schwarz-weißen Bilder zeigen zerschossene Hauswände, davor
junge Gesichter, zu denen gebrochene Biografien gehören,
Lebensentwürfe, die ins Wasser fielen wie Stari Most. Ein
Flüchtlingsmädchen aus dem Kosovo, das in Italien nicht bleiben
durfte, und irgendwie in Mostar hängen blieb; ein muslimischer
Freund, der wegen seiner Religionszugehörigkeit nicht in Mostar
studieren kann, sondern dafür nach Pristina gehen muss; einen,
der im Krieg beide Eltern verloren hat und sich als Bauer
durchschlägt, obwohl er eigentlich Journalist ist. Dennoch
spricht aus den Gesichtern nicht Depression, sondern ein starker
Wille, sich wieder neu zu erfinden. Den Ruinen im Hintergrund zu
trotzen. Das Schöne im Schrecklichen zu finden. Die
Nachkriegsgeneration will sich von der Vergangenheit nicht
erdrücken lassen, sie verteidigt ihre Zukunft.
Dzemal ist spät dran mit seiner Zukunft. Erst jetzt, in
einem Alter, wo andere ihr Uni-Examen ablegen, will er sein
Fachabitur machen, dann möchte er Fotografie studieren. „Ich habe
keine wilden Träume. Eine kleine Arbeit, das wäre schon was.“ In
Mostar? „Da müsste ich schon schwer Glück haben. Was du kriegst,
sind illegale Geschäfte. Oder eine mies bezahlte Stelle als
Kellner. Ich will aber nicht Kellner werden.“ Wohin also? „Zwei
meiner Brüder leben in den USA. Vielleicht kann ich da hin.“ Wenn
alle weggehen, wer soll dann das neue Mostar bauen? „Ich habe
mich dafür eingesetzt, dass es hier besser wird. Aber stattdessen
geht es wirtschaftlich immer mehr bergab. Ich muss jetzt endlich
an mich denken.“
Sein Freund Igor, der von morgens bis abends im Abrasevic
herumwuselt, zeigt die gleichen Anzeichen von Ungeduld. Man
trifft ihn beim Malen auf Holz, beim Aufbau für ein Konzert, als
Schauspieler in einer Theatergruppe, als Kletterer, der sich in
der Nähe vom Jugendzentrum von einem Baukran abseilt. „Ich lebe,
so schnell ich kann“, sagt Igor. Ihm sind ein paar Jahre
gestohlen worden, jetzt fährt er auf der Überholspur, um sie sich
zurückzuholen.
Trutzburg aus Beton.
Abrasevic bietet viel Raum für nachgeholte Kindheiten. Das Zentrum besteht aus 16 Containern, gegen Regen und Sonne von einem weißen Zirkuszelt überdacht. Die kleine Wagenburg war von dem Medienpolitiker Freimut Duve ausgedacht und von westlichen Stiftungen mit viel Hightech ausgerüstet worden und reiste dann durch die Länder Ex-Jugoslawiens. In Mostar, der letzten Destination, wurde der Kulturtreck sesshaft. Ein Glücksfall für die Stadt, in der Cafés die einzigen Treffpunkte für Jugendliche waren. In den mit leuchtenden Graffiti besprühten Metallwürfeln verbirgt sich eine Art technischer Abenteuerspielplatz: modern eingerichtete Großküche, Internet-Café, Tonstudio, Schnittplätze für Videoproduktionen, Büro für die Verwaltung, in der Mitte eine voll ausgerüstete Bühne für Konzerte und Theater.
für Muslime und Christen.
Auch die skurrile Umgebung lockt. Die Containerrunde
siedelt mitten in einer Trutzburg aus Beton. Daraus sollte einmal
ein Mehrzweckstadion werden, wegen des Krieges wurde es nicht zu
Ende gebaut, heute wäre Abreißen zu teuer. Mit seinen massiven
Tribünen und in den Himmel zeigenden Pfeilern, die nichts tragen,
hier und da schon von Klatschmohn und Mauerwurz besiedelt, wirkt es
wie ein griechisches Amphitheater, das Archäologen ausgegraben
haben. Die grauen Wände scheinen die bunte Zeltstadt gegen
Angreifer von außen zu schützen. Neutraler Boden, sicherer Ort.
Aber auch ein Illusionstheater: Hierher kommen die Jugendlichen wie
im Monopoly-Spiel „nur zu Besuch“, irgendwann gehen sie heim, die
einen hüben, die anderen nach drüben, und schon hat Schizopolis sie
wieder.
„Was, wenn hier in Abrasevic ein Junge vom Ostufer ein
Mädchen vom Westufer kennen lernt?“, fragt der 25-jährige Denan
Behmen, der bei einer der fünf Organisationen arbeitet, die das
Zentrum tragen. „Vielleicht gehen die beiden eine Weile
miteinander, aber irgendwann wird's kompliziert.“ Er spricht nicht
von irgendeinem Jungen, sondern in Wirklichkeit von sich. Die
eigenen Eltern waren nicht das Problem, als er eine Kroatin kennen
lernte, sie waren Muslime von Geburt, aber nicht nach dem Herzen.
Er durfte Maria mit nach Hause bringen. Doch auf der anderen Seite
der Neretva durften sich die beiden nicht Hand in Hand erwischen
lassen. Marias Eltern hätten ihr wegen der Liaison mit einem Muslim
die Hölle heiß gemacht. Falls sie ihren Vater doch mal auf der
Straße träfen, so bat ihn seine Freundin inständig, solle er sich
als „Daniel“ vorstellen. Ein christlicher Name als Tarnung.
„Das hätte ich sogar gemacht“, sagt er heute, „aber
irgendwann ließ sich unsere Beziehung nicht mehr verheimlichen.
Unter dem Druck der Alten ist sie in die Brüche gegangen. Die
Erwachsenen sind einfach noch nicht so weit wie wir.“ So sei das
oft, im neuen geteilten Mostar: Tändeln, das geht auch über die
Neretva hinweg, aber wenn es ans Heiraten geht, scheinen alle
Brücken wie abgebrochen. „Eine gemischte Ehe bringt nur Probleme“,
sagen die Eltern, obwohl sie es besser wissen müssten: Diese
Mischung war noch vor 15 Jahren völlig normal. Aber das war vor dem
Krieg.
„Die Alten kannst du abhaken“, sagt Denan, sie gehörten zu
einer „verlorenen Generation“. Wenn es jemand schaffen könne, die
Heimatstadt irgendwann wieder zu vereinigen, „dann wir Jungen“.
Eine der vielen Merkwürdigkeiten in Schizopolis besteht darin, dass
diejenigen als abgehobene Spinner verunglimpft werden, die
lediglich den alten Geist wieder erwecken wollen. Mostar, wie es
einmal war. Kulturelle Vielfalt, Laisser-faire, die Tradition der
Toleranz.
Die Brückenspringer von Mostar.
Wie es einmal war: Dazu gehörten die Verrückten, die - für Geld oder aus Gaudi - kopfüber von der Brücke sprangen. Meist Jungs, aber auch ein paar Mädchen trauten sich. Sie nannten sich „Mostari“, die Brückner. Religion machte keinen Unterschied. Mit ihren akrobatischen Stürzen in die Tiefe waren sie genauso populär wie Stari Most selbst.
für junge Männer in Mostar. Die „Alte
Brücke“ (Stari Most) wurde im Krieg
zerstört. Rechts Vanja (christlicher Kroate,
mit Tattoo), links Dzevad (muslimischer
Bosniake).
Vanja springt. Er streckt seinen muskulösen Körper, den
Kopf hoch erhoben, die Haare flatternd im Wind. Fünf Stockwerke
tiefer rauscht die Neretva talabwärts. Doch Vanja schaut nicht nach
unten. Das sieht nicht gut aus. Haltung ist alles. Er holt ein
wenig Schwung mit den Armen, aber die eigentliche Kraft fürs
Abstoßen holt er aus den Beinen. Er fliegt. Die Füße fest
beieinander, schießt er senkrecht nach unten, das Kreuz so weit
durchgedrückt, dass nicht der Kopf zuvorderst ist, sondern die
Brust. „Schwalbe“ nennen die Mostari diese Figur. Sie gilt als die
gefährlichste von allen. Wer zu früh die Arme nach vorne nimmt, um
einzutauchen, gilt als Feigling, wer es zu spät tut, bekommt zu
spüren, wie hart Wasser sein kann. Nach drei Sekunden Flug reißt
Vanja im allerletzten Moment die Arme vor, schießt wie ein Pfeil
ins Wasser, beschreibt unter der Oberfläche einen winzigen Bogen,
keinen Meter tief eintauchend, schon reckt sich sein Kopf wieder
aus den eiskalten Strudeln. Die Touristen am Ufer applaudieren. Vor
einigen Jahren war Vanja mit dem Gesicht aufgeprallt, hatte sich
die Schulter gebrochen und war für eine halbe Minute klinisch tot.
„Am selben Tag bin ich noch mal gesprungen“, sagt er, so lässig wie
möglich. Die Mostari pflegen einen unterkühlten Machismo, wie man
ihn von Extrembergsteigern kennt.
Vanja ist ein Brückenspringer ohne Brücke. Im Krieg wurde
seine Familie auseinander gerissen. Er floh mit der Mutter nach
Split. Als 17-Jähriger trainierte er an den steilen Felsen der
kroatischen Küste, „immer mit dem Gedanken: Wenn ich eines Tages
zurückgehe, werde ich von Stari Most springen.“ So, wie sie es seit
Jahrhunderten getan haben; der weiße Steinbogen war 1556 von einem
ottomanischen Baumeister errichtet worden, und seit diesem Jahr, so
die Legende, existiere auch der Brauch des Brückenspringens. Vanja
Golos, heute 27, war der erste Flüchtling, der im April 1994 nach
Mostar zurückkam. Seit dieser Zeit ist rund 10.000-mal von der ...,
nein, nicht von der Brücke gesprungen, sondern von deren
Überresten. Oder von den angrenzenden Türmen. Oder von den Bohlen
der schmalen Behelfsbrücke. Jetzt freut er sich auf den Juli. „Von
der reparierten Brücke, das wird ein ganz anderes Gefühl sein.“
Kurz nach der Einweihung wird es den ersten Wettbewerb geben,
und dann hoffentlich eine gute Saison mit vielen Touristen, die
Geld in die Stadt bringen und etwas davon bei den Mostari lassen.
Denn das Springen, früher ausschließlich Mutprobe und
Aufnahmeprüfung ins Erwachsenendasein, ist mittlerweile eine
sprudelnde Dollar- und Euro-Quelle geworden. Und die teilen sich
Kroaten wie Vanja mit Muslimen wie Dzevad, seinem Freund. „Unser
Club steht allen Seiten offen“, sagt Dzevad, und Vanja nickt dazu.
Das gute Geschäft verbindet.
vom Hass der ethnischen Gruppen
aufeinander.
Beim Geld hört angeblich die Freundschaft auf.
Interessanterweise beginnt sie bei den Mostari genau dort. Eine
Touristengruppe sammelt leicht 100 Euro für einen Kopfsprung, viel
Geld in Mostar, wo ein Kellner 300 Euro im Monat verdient. Der Club
der Mostari regelt den Betrieb auf der Brücke: Wer wann drauf darf,
wie viel Sprünge pro Mann, wie die Einnahmen verteilt werden.
Früher war es auf Stari Most zu Handgreiflichkeiten gekommen, die
Polizei musste einschreiten, Springer hatten einen Ruf als Rüpel.
Seit Gründung des Clubs herrscht Eintracht über der Neretva. Auch
zwischen den ethnischen Gruppen. „Für uns zählt, wie elegant einer
springt, und nicht, ob er in die Moschee oder in die Kirche geht“,
sagt Dzevad. Dennoch weiß er zu unterscheiden zwischen seinem
kroatischen Freund Vanja und den kroatischen Nationalisten, auf
deren Geheiß aus Stari Most Bauschutt wurde. „Die haben die
Nachricht von der Zerstörung im Westteil gefeiert, haben mit
Leuchtspurmunition in die Luft geschossen, die waren völlig aus dem
Häuschen, wie Fußballfans nach einem Sieg.“ Das habe ihn verletzt,
denn „als die Brücke zusammenbrach, ist auch ein Teil von mir
zerbrochen“. Kroaten, die auf der schwarzen Liste der
Kriegsverbrecher stehen, hätten keine Chance, in den Club
aufgenommen zu werden. „Da ist eine Grenze. Denen zu verzeihen kann
keiner von uns verlangen.“
Auch er fiebert dem Moment entgegen, wo der Bogen von Stari
Most wieder komplett ist: „Dann werde ich mich auch wieder komplett
fühlen.“ Lokalpatriotismus verbindet sich mit Geschäftssinn, auf
der Brücke kann er in drei Monaten das Geld für ein ganzes Jahr
verdienen.
Ein Krieg der Symbole.
Hans Koschnick hält die 15
Millionen Euro, die internationale Geber in den Wiederaufbau
stecken, für eine gute Investition. Der ehemalige Bürgermeister
von Bremen regierte zwei Jahre lang als EU-Administrator in
Mostar. Das Datum der Einweihung von Stari Most, der 23. Juli,
erinnert an den Tag vor genau zehn Jahren, als er die Stadt
übernahm. Insbesondere der muslimische Ostteil lag fast
vollständig in Trümmern, es gab kein Wasser, keinen Strom.
Seitdem hat die EU insgesamt 250 Millionen Euro in den
Wiederaufbau der Stadt gepumpt. Koschnick war letztes Jahr noch
einmal dort, erfreut und enttäuscht gleichermaßen. „Die Stadt
wächst zusammen, was die Verwaltung betrifft. Aber wir haben es
nicht geschafft, auch die beiden Bevölkerungen einander näher zu
bringen.“ Er nennt es „eine Illusion, mit viel Geld eine schnelle
Versöhnung bewirken zu wollen“. Eine Brücke in die Luft zu
sprengen geht schnell, aber sie zu reparieren dauert lange. Das
Gleiche gilt für die Annäherung der ehemaligen Feinde. Seine
Hoffnungen verknüpft Koschnick mit zwei Gruppen: „Die Alten, die
noch das multikulturelle, intakte Mostar kannten und sich danach
zurücksehnen. Und die ganz Jungen, die den Krieg vergessen wollen
und wissen, dass Mostar nur vereint eine Chance hat.“
für junge Männer in Mostar. Die „Alte
Brücke“ (Stari Most) wurde im Krieg
zerstört. Links Vanja (christlicher Kroate),
rechts Dzevad (muslimischer Bosniake).
Stari Most, Glanzstück osmanischer Baukunst, Übergang
zwischen Orient und Okzident, die wunderbare Leichtigkeit des
Steins. Ihre Zerstörung sei „ein Akt der Barbarei“ gewesen, meint
Koschnick. Als er die Stadt regierte, seien zunächst alle Seiten
für den sofortigen Wiederaufbau gewesen. „Doch allmählich ist das
gekippt. Die Kroaten wollten nicht mehr, weil sie eine geteilte
Stadt anstrebten - da brauche man keine Übergänge. Und die
Bosniaken wollten die Wunde lieber offen liegen lassen; sie
befürchteten, die Hilfsbereitschaft des Auslands werde erlahmen,
wenn die Brücke wieder heil ist.“ Schließlich siegte die Wehmut.
Alle waren sich einig: Mostar ohne Alte Brücke sei wie Pisa ohne
Schiefen Turm oder Lourdes ohne Heilige Quelle. Doch auch die
wirtschaftliche Bedeutung des weltbekannten Baudenkmals, so
Koschnick, könne gar nicht hoch genug geschätzt werden. „Sie wird
in Zukunft vielleicht noch mehr Touristen in die Stadt ziehen als
vor dem Krieg. Als Attraktion ist sie eine der wenigen
wirtschaftlichen Lichtblicke.“
Und erst der symbolische Wert. Seit in Mostar nicht mehr mit
Kalaschnikows gekämpft wird, entdecken fanatische Politiker die
Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln: Sie führen einen Krieg
der Symbole. Da errichten Kroaten auf dem Berg Hum ein 23 Meter
hohes, eisernes Kreuz, das die Skyline über der Stadt beherrscht -
ausgerechnet dort, von wo aus die kroatischen Geschütze ganze
muslimische Häuserzeilen in Schutt und Asche legten. Als
Gegenreaktion rüsten die Imame auf der Ostseite die Lautsprecher
der Moscheen auf, die den Gesang des Muezzins verstärken: Fünfmal
am Tag dröhnen sie nach drüben und übertönen das Läuten der
Kirchenglocken. Die Franziskaner wiederum, davon herausgefordert,
längen den Turm ihrer Kirche in groteske Höhen - auf dass kein
Minarett ihn überrage. Und so weiter.
Auf solchermaßen ideologisch vermintem Gelände bewegten sich
die Ingenieure und Architekten bei der Rekonstruktion der Alten
Brücke. Weil die Baufirma aus der Türkei kam, musste sich die
Bauaufsicht aus Kroaten rekrutieren. Wie gut, dass Archäologen bei
den Vorarbeiten auf Fundamente stießen, die aus der Zeit vor der
türkischen Eroberung Mostars stammen. Sicher, eine muslimische
Brücke, aber auf christlichen Pfeilern. Noch mal Glück gehabt,
Stari Most hat eine ethnisch korrekte Vergangenheit.
Engagierte Jugendliche beobachten solche politischen
Sandkastenspiele mit einer Mischung aus Staunen und Ekel. „Die
Erwachsenen“, sagt die Jugendarbeiterin Senada Zuric dazu, „sind
sich für keine Albernheit zu schade. Und finden dafür auch noch
Geldgeber, während wir jeden Dollar dreimal umdrehen müssen.“ Sie
hofft, dass man nach der Einweihung im Ausland nicht glaube, Stadt,
Land, Fluss, alles eitel Frieden. Die neue Brücke ist nur eine
Kopie, bestehend aus neuen Steinen, die man nach alter Baukunst
zusammenfügte. Mostar wie Brücke werden nie mehr das Original,
sondern nur Kopie sein. Dennoch, sagt Senada, könnte Stari Most das
Wahrzeichen einer neuen Zeit werden. „Sie betont das Verbindende.
Eine Brücke gehört nicht dem rechten Ufer und nicht dem linken. Sie
gehört immer beiden.“
Michael Gleich ist Wissenschaftspublizist und engagiert sich in der Initiative Peace Counts project für den Frieden.
changeX 25.11.2004. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Peace Counts project
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Autor
Michael GleichMichael Gleich, Publizist, Stroryteller und Redner, hat 2011 "der kongress tanzt. Netzwerk für gute Veranstaltungen" initiiert. Es berät Veranstalter darin, Konferenzen und Foren als lebendige Lernorte zu gestalten.