Customizing statt Massenproduktion.
Weniger offensichtlich, aber
logisch, sind die Auswirkungen der Beschleunigung auf die
Organisation von Unternehmen- und Unternehmenstätigkeiten.
Schnell ein Produkt zu liefern bringt größeren wirtschaftlichen
Erfolg und ist inzwischen wichtiger, als über den traditionellen
Vorteil von großen Stückzahlen von Produkten zu verfügen. Die
Zeit zwischen der Auftragserteilung und der Auftragserledigung
oder die Kürze eines Innovationszyklus gibt immer häufiger den
Ausschlag für die Auftragserteilung - wer zuerst kommt, mahlt
zuerst. Damit verbunden ist, dass heute nicht mehr effiziente
Massenproduktion der Maßstab für eine Firma ist, sondern ihre
Problemlösungskompetenz und ihre Fähigkeit, Systeme und Services
anzubieten. Individuelle, maßgeschneiderte Angebote - Customizing
- liefern zu können ist immer entscheidender für die
Kundenbindung.
Die Änderungen der Angebote von Massenware für einen
anonymen Markt zu einer kundenindividuellen Produktion von Gütern
und Leistungen führt auch zu tief greifenden Veränderungen in der
Ausrichtung und dem Selbstverständnis von Unternehmen. Industrien
wandeln sich zu Systemlösungsanbietern. Doch man muss diese
Prozesse gemeinsam mit den Kunden gestalten, nicht gegen sie.
In den neuen Wertschöpfungsprozessen werden die
Entwicklung, die Bereitstellung und der Vertrieb von Produkten
oder Leistungen durch die Entwicklung, Bereitstellung und den
Vertrieb von Leistungspotentialen ausgetauscht, die dann in eine
auf den Kunden zugeschnittene Lösung oder ein zugeschnittenes
Produkt münden. Diese Leistung kann aber nur dann erbracht
werden, wenn der Kunde in direkter Interaktion mit dem Hersteller
Informationen über die Produktmerkmale bereitstellt, die er
benötigt und wünscht. Der Kunde wird in einer Form in den
Leistungsprozess integriert, der sowohl von dem Hersteller als
auch von dem Kunden Input und Informationen erfordert.
Der Kunde arbeitet mit.
Damit entsteht auch ein ganz neues
Beziehungsgeflecht zwischen einem Unternehmen und seinen Kunden.
Beide Seiten investieren in den Aufbau eines Datenvorrats. Der
Kunde investiert in eine zuverlässige und zugeschnittene
Lieferquelle. Denn je mehr ich als Kunde von meinen Gewohnheiten
preisgegeben habe, desto maßgeschneiderter ist das Produkt und
desto besser ist der Service für mich - und desto unwilliger
steige ich auf einen anderen Anbieter um.
Auch hier treten altbekannte Mechanismen außer Kraft. Das
klassische Kunden-Lieferanten-Verhältnis löst sich auf. Der Kunde
wird Teil des Wertschöpfungsprozesses. Er beginnt, auch für den
Lieferanten zu arbeiten. Wenn Sie Ihre Kontoauszüge ausdrucken,
arbeiten Sie dann für sich oder für die Bank, die Ihnen die
Auszüge früher zugeschickt hat? Wenn der Kunde über seine Wünsche
und Ideen Auskunft gibt, arbeitet er genauso für den Anbieter.
Der Kunde wird durch die Geltendmachung seiner Wünsche und die
Einforderungen seiner Bedürfnisse Mitproduzent bei der Gestaltung
des Produktes.
Doch damit sind die Ansprüche der Kunden gestiegen. Nicht
mehr so fehlerfrei wie nötig, sondern so fehlerfrei wie möglich
muss ein Produkt hergestellt werden und funktionieren. Der Kunde
erwartet darüber hinaus, über die gesamte Lebensdauer des
Produktes vom Unternehmen betreut zu werden - und mit dem Produkt
zufrieden zu sein. Zahlreiche Initiativen wie Total Quality
Management oder der European Quality Award zur Qualitätskontrolle
sind entstanden.
Groß ist nicht gleich gut.
Das ist ein Teil der Veränderungen,
die in der Wirtschaft schon Platz gegriffen haben und die immer
noch stattfinden. Die Art und Weise, wie Unternehmen
funktionieren, ändert sich; die Industrie ist komplexer geworden.
Es geht nicht mehr nur um das einfache mechanistische
Organisieren der Aneinanderreihung von modularen
Arbeitsvorgängen. Neue Technologien haben Auswirkungen auf die
Unternehmensstruktur - und am Ende auch auf die
Unternehmenskultur.
Ein Blick zurück: In den 60er Jahren hat jeder nach Lean
Production, nach der schlanken Produktion nach japanischem
Vorbild gefragt. Alles wurde auf einen Prüfstand gestellt - aus
Sicht der Kostenersparnis.
In den 70er Jahren waren Datenverarbeitung,
Diversifizierung und die Bildung von Konglomeraten state of the
art. In den 80er Jahren brach die Fusionitis aus -
Kompensationsgeschäfte, Skaleneffekte, Hierarchieabflachung und
Teamwork definierten Unternehmensumstrukturierungen. Es waren
nicht Unternehmensfusionen im Rahmen von Marktkonsolidierung, wie
wir sie heute etwa in der Auto- oder der Pharmaindustrie erleben.
Es waren Fusionen unter dem Aspekt: je größer, desto
wettbewerbsfähiger.
Heute müssen wir schnell, flexibel und intelligent auf die
Veränderungen reagieren können. Die großen Unternehmen, die wie
Riesendampfer durch das Wirtschaftsgeschehen fahren, sind nicht
mehr steuerbar. Nach wie vor gilt die Annahme: Die schnellen
Unternehmen werden die langsamen vom Markt drücken. Gerade
organisatorische "Kolosse" können sich nicht schnell genug
verändern. Einen Umlernprozess durchzusetzen in einem Unternehmen
mit "nur" 10.000 Mitarbeitern dauert geradezu schmerzhaft lange.
Je größer eine Gruppe ist, desto stabiler und behäbiger ist sie -
und damit resistenter gegen Veränderungen. Und
Veränderungsmanagement ist heute auf einer alltäglichen Basis
notwendig, um sich den kontinuierlichen Veränderungen und der
kontinuierlichen Beschleunigung des Marktes anzupassen.
Hierarchien kosten Zeit und Kraft.
Strategische Allianzen prägen das
Bild der modernen Wirtschaft. Sie entstehen aus Firmen, die sich
auf die Kernbereiche ihrer Fähigkeiten reduziert haben und die
sich durch Outsourcing oder andere Maßnahmen des Business Process
Reengineerings verkleinert und verschlankt haben.
Das hat Auswirkungen auf die Managementhierarchien. Denn
die alte Regel, dass ein Manager fünf Mitarbeiter optimal
beaufsichtigen kann, resultierte in einer Pyramide von
Führungsebenen. Kompetenz und Informationsgrad in jeder Stufe
sind genau definiert. Von unten nach oben werden Berichte und
Anfragen weitergereicht, von oben nach unten Anordnungen.
Dazwischen werden sauber Kompetenzen definiert - und die
Nichtüberschreitung von Kompetenzgrenzen wird eifersüchtig
überwacht. Das ganze Verfahren frisst viel Zeit und Arbeitskraft
- und Motivation. Dieses Verfahren macht aus jedem Schnellboot
einen Dampfer.
Meetings sind dann auch nicht Treffen zum Austausch und zur
Weiterentwicklung von Ideen. Sie sind Kontrollgremien. Das kostet
immense Summen: Eine Abteilung besteht aus acht Mitarbeitern.
Einmal wöchentlich trifft sich die Abteilung für zwei Stunden zur
Arbeitskontrolle, acht Mitarbeiter mit einem durchschnittlichen
Stundenlohn von 300 Euro sind für monatlich acht Stunden von der
Arbeit ferngehalten: 19.200 Euro. Ein Meeting zweier Abteilungen
mit acht Mitarbeitern, um Kompetenzen abzustecken - nach wie vor
ein beliebtes Spiel zwischen Abteilungen. Dauer etwa zwei
Stunden. Kosten: 9.600 Euro. Diese Liste ließe sich beliebig
fortsetzen.
Projekt ist Trumpf.
Das heute notwendige
projektorientierte Arbeiten an kundenspezifischen Problemlösungen
verlangt völlig andere Managementstrukturen. Nicht mehr die
Kontrolle der Mitarbeiter, sondern die Evaluierung der Ergebnisse
steht im Vordergrund. Und für die Entwicklung der Ergebnisse
brauchen Mitarbeiter zeitliche Spielräume - auch für das Gespräch
auf dem Gang oder an der Kaffeemaschine, für den informellen
Austausch. Er ist - so wissenschaftliche Untersuchungen - für 80
Prozent aller innovativen Problemlösungen verantwortlich.
Danach wird Projektarbeit ausgerichtet: Für ein neues
Projekt bildet sich ein kompetentes Team, das aus fähigen
Mitarbeitern der Firma, externen Spezialisten (zum Beispiel von
Subunternehmen) und eventuell auch dem Kunden selbst besteht.
Jedes Team arbeitet weitgehend ungehindert selbstständig, es
erhält ein großes Maß an Entscheidungskompetenz und hat Zugriff
auf alle nötigen Informationen. Man arbeitet wie ein Unternehmen
im Unternehmen. Ähnliche Regeln gelten auch innerhalb des Teams
für die einzelnen Mitglieder. Vertrauen tritt an die Stelle von
Kontrolle. Der Manager hat überwiegend koordinierende Funktion.
Und die Unternehmensleitung managt keine durchsteuerbaren
Hierarchien mehr, sondern komplexe Systeme.
Vom Team zum Netzwerk.
Dies ist zwingend notwendig, denn
Hierarchien begrenzen Innovation. Nehmen wir ein Netzwerk aus
drei Teilnehmern. Für jeden der Teilnehmer gibt es zwei
Möglichkeiten, eine Verbindung herzustellen. Der Austausch von
Ideen und Gedanken und damit die Möglichkeit zur Entwicklung von
Innovation sind begrenzt. Die gegenseitige Befruchtung wächst,
wenn ein Teilnehmer hinzukommt. Die Verbindungen wachsen auf drei
Verbindungen für jeden einzelnen Teilnehmer an, in der Summe
aller Teilnehmer sogar auf sechs. Allerdings tritt mit
gemeinsamer Kommunikation in der Gruppe ein weiterer steigernder
Parameter hinzu: Parallelschaltungen von Teilnehmer 1 mit
Teilnehmer 2 und 3; Teilnehmer 1 mit Teilnehmer 3 und Teilnehmer
4, Teilnehmer 2 mit Teilnehmer 3 und Teilnehmer 4 und Teilnehmer
1 mit Teilnehmer 2, 3 und 4. Bei fünf Teilnehmern sind es bereits
zehn bipolare Verbindungen und 16 Mehrfachkontakte. Es ist eine
Rechnung mit mathematischen Variationen. Je mehr Teilnehmer
hinzukommen, desto stärker wird die Innovationsfähigkeit.
Allerdings - und das muss ich betonen - funktioniert das nur bis
zu einer kritischen Größe. Wird sie überschritten, entwickeln
sich Hierarchien - und das System führt sich selber ad absurdum.
Mit solchen Netzwerken verändern sich auch Strukturen.
Haben Sie sich einmal Hollywood angeschaut? Zu Beginn wurden
Zeitarbeitskräfte an die bestehenden Produktionsfirmen
angebunden. Gegenwärtig gibt es projektbezogene Verträge, in
denen "outgesourctes" Personal zu einer zeitlich befristeten
Produktionseinheit zusammengeführt wird. Die Produktionseinheit
löst sich wieder auf, wenn das Projekt beendet ist. Das ist eine
hochproduktive und äußerst flexible Arbeitsweise. In Hollywood
gibt es kaum noch eine Filmproduktion, die nicht über diese
Mechanismen arbeitet. Es entsteht also eine Unternehmensstruktur,
in der weniger als zehn Unternehmen mehr als 1.000 Mitarbeiter
beschäftigen. 85 Prozent der Firmen haben aber nur noch maximal
zehn Angestellte - von denen sich immer mehr am Gewinn beteiligen
lassen und damit als Angestellte im herkömmlichen Sinn nicht mehr
fungieren können. So verändern sich langsam, aber sicher
Strukturen an den Arbeitsmärkten - unabhängig von irgendwelchen
Branchen.
Übersicht aller bereits erschienenen Beiträge der "Living at Work-Serie".
English version: PDF-File.
Susanne Eyrich berät Unternehmen in der wirtschaftspolitischen Positionierung und lebt und arbeitet in Frankfurt und Berlin.
www.orgatec.de
Vom 19. bis 23. Oktober 2004 |
© changeX Partnerforum [15.10.2004] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
changeX 15.10.2004. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.