Ethik kann diese Unsicherheit nicht beheben. Sie hilft jedoch dabei, die moralischen Probleme unserer Zeit bewusster wahrzunehmen und kompetenter zu reflektieren. Aber was heißt hier Kompetenz? In der Praxis ist es vor allem wichtig, zu wissen, wie man ethisch argumentiert und wie man zu ethisch vertretbaren Entscheidungen kommt. Das kann man wie Deutsch oder Mathematik lernen. Ethik-Kompetenz heißt darum zunächst nicht, dass man ein guter Mensch ist oder wird. Zu denken ist eher an die Fähigkeit, nach guten Argumenten für die eigenen moralischen Überzeugungen, Intuitionen und Positionen zu suchen. Impliziert ist damit auch die Fähigkeit, moralische Positionen anderer ernst zu nehmen und auf sie einzugehen. Warnlampen sollten aufleuchten, wenn ein Mensch vehement eine moralische Überzeugung vertritt und nicht mehr in der Lage ist, die Schwächen seiner eigenen Position darzulegen.
Gelassenheit und Glaubwürdigkeit.
Gemessen an der Realität in
geschäftlichen Meetings, politischen Debatten oder Talkshows ist
der ethische Lernbedarf erheblich. Öffentliche Debatten sind
häufig sehr aufgeregt. Irgendwer macht irgendetwas Fragwürdiges
oder man meint, es sei etwas Fragwürdiges, und schon prallen die
unterschiedlichen Positionen heftig zusammen. Das ist
verständlich, denn die wenigsten Menschen bilden sich ihre
Meinung zu moralischen Themen aufgrund von ausgewogenen Gutachten
und langwierigen Argumentations- und Abwägungsprozessen. Aber man
könnte auch versuchen, nicht aufeinander loszugehen, sondern sich
erst einmal anzuschauen, was es nun genau ist, das so schlimm
sein soll, ob es wirklich so schlimm ist und warum das so schlimm
ist. Auf diese Art und Weise kann man Luft aus den überhitzten
Debatten herausnehmen.
Dabei sind das kritische Eingehen auf die Argumentation
eines Gegenübers und der ehrliche Versuch, das Argument des
anderen zu verstehen, nicht nur ein Merkmal kompetenter Ethik,
sondern zeugen auch von Gelassenheit, Übersicht und
Menschlichkeit. Und mit solchen Merkmalen steigen nicht nur die
Sympathie, sondern auch die Glaubwürdigkeit und die
Überzeugungskraft der eigenen Position.
Nicht moralische Utopien, sondern geregelte Entscheidungen.
Ich habe mit meinem Kollegen Jörg
De Bernardi ein Schema der ethischen Urteilsfindung entwickelt,
das im Falle von moralischen Problemen und Konflikten den Aufbau
von Ethik-Kompetenz beispielsweise in Unternehmen unterstützt.
Im ersten Schritt wird der Ist-Zustand analysiert, also die
Sach- und Interessenlage, die Konfliktfelder, der
ordnungspolitische Rahmen. Das muss sehr sorgfältig rekonstruiert
werden, weil häufig viele Interessen oder Rahmenbedingungen mit
dem jeweiligen Fall verquickt sind. Im zweiten Schritt fragt man,
welche moralischen Prinzipien, Positionen und Überzeugungen
eigentlich formuliert werden. In einem dritten Schritt wird
geprüft, welche Argumente es für bestimmte Handlungsoptionen
gibt. Ziel ist es, zu einer begründeten Stellungnahme zu kommen.
Im vierten Schritt ist zu fragen: Kann man die empfohlene
Handlungsoption auch umsetzen und wie kann das geschehen? Viele
ethische Debatten hören vor diesem in der Tat schwierigen Schritt
auf, weil man denkt: Jetzt wissen wir, was gut oder weniger gut
ist, oder welches das kleinere Übel ist. Ich bin aber der
Ansicht, dass es nicht ausreicht, eine ethische Überzeugung oder
Option zu formulieren. Man muss sich auch immer überlegen, wie
man das gesellschaftlich oder unternehmerisch umsetzen und
individuell realisieren kann. Sonst verkommt Ethik leicht zur
idealistischen Moralpredigt und die Handlungsmöglichkeit bleibt
nichts weiter als eine schöne Utopie.
Code of Conduct, ja oder nein?
Ethische Urteilsfindung ist aber
doch mehr als nur eine Frage der argumentativen Kompetenz. Sie
setzt auch eine gewisse persönliche Haltung voraus. Ich bin der
Ansicht, dass Menschen, die nicht in einer Lebensform zu Hause
sind, die auf Ethik ansprechbar ist, auch keine Ethik-Kompetenz
zu vermitteln ist. Man muss schon glauben, dass es sinnvoll ist,
über Fragen der Moral nachzudenken. Wenn dieses Minimum nicht
vorausgesetzt werden kann, dann ist der Ruf nach Kompetenz in
Ethik sinnlos.
Manche fordern, Ethik zum Pflichtfach der
Managementausbildung zu machen oder gar eine Art "hippokratischer
Eid" für Manager einzuführen. Letzteres halte ich für nicht
sonderlich sinnvoll - aber persönlich würde ich ein Pflichtfach
Ethik hilfreich finden. Das heißt natürlich, dass man zunächst
einmal keine inhaltlichen moralischen Positionen bevorzugen darf.
Es sollten primär neutrale Tools vermittelt werden, welche in der
Praxis der ethischen Urteilsfindung hilfreich sind.
Ich tendiere dazu, dass möglichst viel von dem, was wir in
der Wirtschaft an moralisch korrektem Verhalten wollen, durch
ordnungspolitische Rahmenbedingungen hergestellt wird. Wenn Ethik
nicht allzu viel kosten und nicht zu Nachteilen am Markt führen
soll, dann geht das ohne bestimmte Rahmenbedingungen nicht. Für
Führungskräfte von Unternehmen scheint mir ein weiteres Problem
folgendes zu sein: Wie schaffen wir es, die Ethikstandards, die
wir formuliert haben, auf allen Ebenen unseres Unternehmens zu
implementieren? Oft ist es so, dass die oberste Etage einen
wohlklingenden Code of Conduct ausgearbeitet hat, aber die Leute
an der Front eben doch nur daran interessiert sind oder sein
dürfen, möglichst viel Gewinn zu machen. Wo diese Spannung nicht
reflektiert wird, da taugt auch der beste Code of Conduct nicht.
Dieser ist nur dann sinnvoll, wenn die ganze Struktur des
Unternehmens so umgebaut wird, dass die Mitarbeiter an der Front
diese ethischen Richtlinien auch umsetzen können.
Einen absoluten Standpunkt gibt es nicht mehr.
Der Verlust der tradierten Autoritäten sollte darum nicht durch den Aufbau neuer Autoritäten wie beispielsweise das "Bauchgefühl" oder die "innere Stimme des Herzens" kompensiert werden. Dieser Weg nach innen ist dort berechtigt, wo man sehr autoritätsgläubig in Traditionen verhaftet ist und dem Individuum nichts zutraut - dann ist die Aufforderung, auf sich selbst zu hören, sehr wichtig. Wenn er allerdings als Heilmittel für Orientierungskrisen angepriesen wird, bin ich skeptisch. Denn wir können uns immer irren - das kann ein noch so angestrengtes Fokussieren nach innen nicht verhindern. Darum braucht es Kritik und Korrekturen und die haben wir durch den Diskurs mit anderen. Man sollte also nicht nur sagen: "Mein Herz sagt mir dies und jenes", sondern auch immer versuchen, dieses gegenüber anderen zu begründen, oder Argumente dafür zu geben, warum wir so fühlen. Außerdem ist die Position: "Ich selbst definiere, was gut ist", nicht leicht zu halten. Spätestens wenn ein Konflikt zwischen verschiedenen moralischen Positionen aufkommt, wird deutlich, dass man nicht nur auf sich selbst rekurrieren kann, sondern dem anderen gute Argumente dafür geben muss, warum er etwas tun oder nicht tun soll. Und ein gutes Argument ist eben nicht: "Ich will nicht, dass du das tust, weil es für mich nicht stimmt." Dann sagt der andere: "Für dich vielleicht nicht, für mich schon."
Die Praxis unseres Zusammenlebens zeigt also, dass wir ständig mit anderen verhandeln müssen, was für uns gemeinsam als gut gelten soll und worauf wir uns gemeinsam einigen wollen.
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Vom 19. bis 23. Oktober 2004 |
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