Das große Grübeln

99 moralische Zwickmühlen - das neue Buch von Martin Cohen.

Von Petra Günzel

Ob das überdimensioniertes Wechselgeld an der Supermarktkasse, die verlockende Schwarz-Kopie der neuesten Software oder aber das spontane Abtauchen hinter einer schnell gestrickten Notlüge ist - unser Leben ist voll von moralischen Zwickmühlen, die uns tagtäglich klare Entscheidungen abverlangen.

Nachdem Autor Martin Cohen in seinem ersten Buch 99 philosophische Rätsel aufgegeben hat, fährt er nun mit einer Sammlung von 99 moralischen Zwickmühlen auf, die dem Leser allerhand an Hirnschmalz, Ehrlichkeit und Zeit zum Grübeln abverlangen. Die ethischen Fragen, die der Philosophie-Dozent und Herausgeber der Zeitschrift The Philosopher gebündelt in den Raum stellt, sollen allerdings nicht dazu führen, ein persönliches Regelwerk zu erstellen, sondern sollen durch die individuelle Auseinandersetzung vor allem die eigene Orientierungsfähigkeit stärken.

Denken statt Smalltalk.


Wer nun meint, dieses Buch ohne Atempause verschlingen zu können, um beim nächsten Smalltalk in illustrer Runde mit philosophischer Schlagfertigkeit brillieren zu können, befindet sich eigentlich schon auf dem ultimativen Holzweg. Cohen ermuntert vielmehr dazu, sich Zeit zu nehmen, sich auf "Gedankenexperimente" einzulassen. Zudem fordert er nachdrücklich, sein Buch mit kritischem Geist zu lesen, die aufgestellten Behauptungen zu hinterfragen und die gelieferten Argumente in Zweifel zu ziehen.
Der vorangeschickten Mischung von 99 wahren sowie erfundenen Geschichten folgen im zweiten Teil des Werkes die entsprechenden Problemdiskussionen und Erörterungen, die - konsequent durchnummeriert - sofort zuzuordnen sind. Wer allerdings direkt nach jeder Problemstellung die dazugehörige Erläuterung sucht, der bringt sich um das eigentliche Vergnügen. Denn nach dem Motto "Selber denken macht schlau!" ziehe man den größten Nutzen aus dem Buch, so der Tipp des Autors, wenn man die Zwickmühlen als die Vorspeise und die entsprechenden Erläuterungen als die Nachspeise betrachte, sich die Auflösung aber als Hauptgang selbst vorbehalte, "... besteht doch hierin nicht nur der wichtigste, sondern auch der interessanteste Teil der Aufgabe".

Biblische Zwickmühlen.


Ob es nun die Fragen sind, die bereits Kant, Rousseau und Aristoteles umtrieben, oder aber die aus der Bibel entliehenen "Zwickmühlen", mit denen sich schon Abraham oder Hiob auseinander setzen mussten, sie führen uns auch heute noch in die tiefen Strukturen persönlicher Auffassung von Gerechtigkeit, Pflichtgefühl und Wahrheitsempfinden. Doch auch die jüngere Vergangenheit oder unsere Gegenwart hat genügend Zwickmühlen zu bieten: Am Beispiel eines "Life-Boat-Szenarios" die Fragen festzumachen: "Wie dosiert man Altruismus?", ist spannend, die Diskussion, ob Altruismus die Stabilität der sozialen Systeme gefährdet, eine echte Herausforderung.
Ist der freie Wille mehr als nur bloße Fiktion oder werden nicht vielmehr die moralischen Überzeugungen den äußeren Umständen angepasst? Dass dieser Ansatz seine ernüchternde Berechtigung hat, ist seit dem Milgram-Experiment oder aber Zimbardos Versuch mit Studenten an der Stanford University weitreichend bekannt.
Während die Philosophen der Antike die Ethik als das Nachdenken darüber verstanden, wie man die Welt organisieren müsse, um größtmögliche Harmonie zu erreichen, wartet die Psychologie gleich mit vier Erklärungsmodellen für moralisches Verhalten auf: Entweder geht es darum, Anerkennung in sozialen Bezugsgruppen zu finden oder aber die Forderungen des ureigenen Gewissens zu erfüllen. Weitere Möglichkeit: Es basiert schlichtweg auf einer Erziehung, die moralisch gutes Verhalten belohnt und schlechtes bestraft hat. Und - last, not least - kann das im sokratischen Sinne rationale Individuum zu der Einsicht kommen, moralisch gutes Verhalten sei einfach die beste Art, sein Leben in dieser Welt zu führen.

Humorvolle Häppchen.


Cohens Buch bietet keine klaren Verhaltensregeln und versetzt auch nicht in die Lage, die Probleme von Fall zu Fall souveräner zu lösen. Auch wenn es Cohen gelingt, sich der Zwickmühlen humorvoll und unterhaltsam anzunehmen, so tut man gut daran, sein Werk häppchenweise zu verdauen, damit es nicht allzu schwer im Magen liegt.
Hilfreich für alle, die sich in der Welt und der Geschichte des tiefgründigen Philosophierens nicht ganz so zu Hause fühlen, ist das angefügte Glossar, in dem ansatzweise die gängigsten philosophischen Ansätze und Lehren angerissen sind und Begriffe wie Unternehmensethik oder Gerechtigkeit unter die Lupe genommen werden. Alle, die noch intensiver in dieses Thema eintauchen wollen, werden dankbar sein für die weiterführenden Literaturempfehlungen.

Martin Cohen:
99 moralische Zwickmühlen.
Eine unterhaltsame Einführung
in die Philosophie des richtigen Handelns,
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2004,
343 Seiten, 19.90 Euro,
ISBN 3-593-37408-0
www.campus.de

Petra Günzel ist freie Mitarbeiterin von changeX.

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: 99 moralische Zwickmühlen.. Eine unterhaltsame Einführung in die Philosophie des richtigen Handelns.. Campus Verlag, Frankfurt/New York 1900, 343 Seiten, ISBN 3-593-37408-0

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