Raus aus dem Laufrad
Living at Work-Serie | Folge 19 | - Rainer Zech über Life Design und Karriere.
Das moderne Leben lässt uns nicht in Ruhe. Es zwingt uns, immer und immer wieder an uns zu arbeiten, uns weiterzuentwickeln, damit wir weiterkommen, höher hinauf auf der gesellschaftlichen Stufenleiter. Wer nicht fit genug ist, fällt durch die mittlerweile großen Löcher des sozialen Netzes. Doch immer mehr Leute sagen sich: "Das kann doch nicht alles sein!" Es ist Zeit, uns die Frage neu zu stellen, was ein "gelungenes Leben" eigentlich ausmacht.
Die Beschäftigung mit den Themen
"Work-Life-Balance", "Life Planning" oder "Life Design &
Karriere" hat zur Zeit Konjunktur, versprechen die Formulierungen
doch ein aus dem Lot geratenes Leben wieder in die Balance zu
bringen, es wieder planbar zu machen. Schon der Blick mit etwas
gesundem Menschenverstand macht deutlich, dass man es bei dieser
Art Ratgeberei mindestens mit Scharlatanerie, wenn nicht mit
gezielter Verdummung zu tun hat: Die Formulierung
"Work-Life-Balance" unterstellt, dass man es mit einer Waage
(engl. balance) zu tun hat, bei der auf der einen Waagschale die
Arbeit läge und auf der anderen das Leben. Arbeit und Leben
werden also als Gegensätze konstruiert, die sich wechselseitig
ausschließen. Wer arbeitet, lebt nicht, und wer lebt, arbeitet
nicht - was für ein Unsinn!
"Life Planning" wiederum unterstellt, dass das Leben
planbar wäre. Da wir von der Zukunft aber per definitionem nichts
wissen können, kann es sich bei entsprechender Lebensplanung nur
um eine Verlängerung der Vergangenheit handeln. Leben ist
allerdings gerade das Gegenteil, nämlich die Möglichkeit des
Andersseins, des Neuanfangs, der Abweichung, des Sprungs in die
Kontingenz, des Zufalls und der Nicht-Notwendigkeit. Dafür gibt
es keinen Plan, sondern nur eine Kompetenz, und zwar die, mit
Unerwartetem strukturbildend umgehen zu können.
Die Formulierung "Life Design & Karriere" schließlich
kommt gleich mit drei Fremdwörtern daher. Design bedeutet Muster
und kommt aus dem Lateinischen ("designare" = bezeichnen).
Karriere wurde im 18. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnt
von "carrière"; das bedeutete Rennbahn, das Stammwort ist im
Lateinischen "carrus" = Karre, Wagen. Life Design & Karriere
bedeuten also: Wir folgen einem vorherbestimmten Muster des außen
geleiteten Erfolgzwangs in einer Wettkampfarena.
Rat race.
Karriere zu machen - davon träumt
jeder. Karriere bedeutet mehr Geld, mehr Macht, mehr Ruhm, mehr
Sexappeal. Karriere ist der Weg nach oben. So glaubt man
gewöhnlich. Wir haben vergessen, dass Karriere von Rennbahn
kommt. "Rat race" nennen die Amerikaner das konkurrierende
Streben um Erfolg im Wirtschaftsleben. Schon mancher, der hoch
hinauf wollte, ist tief gefallen. Es gibt auch die Karriere eines
Alkoholikers. Topmanagement und Alkoholismus sind übrigens eine
nicht seltene Kombination.
Dieser Wettkampf in der Rennbahn des wirtschaftlichen
Erfolges hat sich in unser Leben eingezeichnet, hat seine Spuren
in uns hinterlassen, hat uns gezeichnet. Das moderne Leben lässt
uns nicht in Ruhe. Es zwingt uns, immer und immer wieder an uns
zu arbeiten, uns weiterzuentwickeln, damit wir weiterkommen,
höher hinauf auf der gesellschaftlichen Stufenleiter,
lebenslänglich zum "Struggle for Life" verdammt. Die Popularität
der oben genannten "Life-Themen" ist der modernen Notwendigkeit
der narzisstischen Selbstgestaltung für den wirtschaftlichen
Konkurrenzkampf geschuldet. Das Ziel dieses Life-Designs ist
ehern hart vorformuliert. Es besteht in der Fitness für den Kampf
um die soziale Auslese. Wer den Kampf verliert, hat selber Schuld
und fällt im Zweifel durch die mittlerweile großen Löcher des
sozialen Netzes.
Diese Life-Design-Ideologie kann sich bereits auf den
Naturalismus und den Biologismus des späten 19. Jahrhunderts
berufen. In dieser Denktradition gibt es keine Unterscheidung
mehr zwischen Gut und Böse, sondern nur noch zwischen Stark und
Schwach. Das hat - verbunden mit ökonomischem Denken - zum so
genannten Sozialdarwinismus geführt, der den Kampf ums Dasein auf
die gesellschaftliche Ebene übertrug und damit jegliche
egoistische Rücksichtslosigkeit auf dem individuellen Weg nach
oben legitimierte. Man findet deshalb auch Anklänge dieser
Denkform in den heutigen Ratgebern erfolgreicher Lebens-
beziehungsweise Karrieregestaltung, aber auch in
neoliberalistischen Wirtschaftstheorien.
Hamster im Laufrad.
In der Spätmoderne wird der Mensch
für sich selbst zum Ding, sein Körper wird ihm zum
manipulierbaren Mittel im Kampf gegen erlebte Bedrohungen. Der
"gebuildete" Body ist seine Rüstung. Die Beschäftigung mit
populären Life-Themen ist keine Lösung des Problems, sondern
dessen Ausdruck. Der Wunsch, sich selbst zu vervollkommnen und
Karriere zu machen, ist der Ausdruck eines latent erlebten
Mangels. Geld, Macht, Ruhm, Sex - das Verlangen nach Intensität
und Steigerung ist der Ausdruck der Losgerissenheit des modernen
Individuums aus seinen gesellschaftlichen Halterungen. Wir sollen
glauben, dass es auf uns und nur auf uns allein ankommt. Mit dem
Gefühl der Selbstbestimmtheit erfüllen wir den fremd gesetzten
Plan. Wir produzieren diesen Zustand alle gemeinsam, aber jeder
vereinzelt. Als Hamster im Laufrad arbeiten wir heftig mit an der
Reproduktion dieses Zustands - und an unserem eigenen Burn-out.
Das ganze Design des modernen Lebens umhüllt nur Leere.
Trotzdem bleibt die drängende Frage, wie man leben soll
oder was man aus seinem Leben machen kann. "Das kann doch nicht
alles gewesen sein" ist das Grundgefühl der heutigen Zeit. Das,
was uns treibt, ist das Gefühl des Mangels. Die Frage nach dem
gelingenden Leben stellt sich, wenn das Leben nicht mehr durch
gesellschaftliche Strukturen und entsprechende Traditionen
geschützt und geregelt ist.
Das Ideal des gelungenen Lebens ist für Sokrates/Platon der
Inbegriff dessen, was der Mensch aus sich selbst machen kann.
Leichter gesagt als getan. Dem Menschen fehlte auch damals das
Wissen, wie das eigene Leben zu führen ist. Das hat sich heute
nicht verändert. Gleich ist also diese Ausgangssituation, und
deshalb war auch die Frage damals die gleiche wie heute. Die
Antwort der alten Griechen war allerdings eine andere. Statt den
Menschen nur auf sich selbst zurückzuverweisen, gab man ihm so
genannte Selbsttechniken an die Hand. Diese Technologien des
Selbst sollten es dem Einzelnen mit Hilfe einer Reihe von Übungen
für Körper und Seele ermöglichen, eine Existenzweise zu
realisieren, die einem gelungenen Leben entspricht. Die Sorge um
sich selbst war eine ständig geübte Praxis in folgenden
Bereichen:
1. Die Sorge um die richtige
Ernährung, die Diätetik,
2. die Sorge um das Wohl des Körpers, die Gymnastik,
3. die Sorge um das richtige Denken, die Philosophie,
4. die Sorge um den rechten Gebrauch der Lüste, die Erotik,
5. und die Sorge für das Gemeinwesen, die Politik.
Die Sorge um sich selbst.
Der Unterschied zu heute: Sokrates
schrieb keine Ratgeber nach dem Motto "Erfolgreich durch
neurolinguistische Selbstprogrammierung", sondern lehrte denken,
betätigte sich als Geburtshelfer des Selberdenkens seiner
Gesprächspartner. Der Mensch musste lernen, sich selbst zu
beherrschen, um nicht von fremden äußeren Mächten beherrscht zu
werden; er musste sich für die Gesellschaft engagieren und durfte
ihr nicht entfliehen. Die Sorge um sich selbst war die Form des
gelungenen Lebens in der Gemeinschaft.
Es geht für den Menschen heute nach wie vor darum,
herauszufinden, was er will und was er kann, um dann zu wollen,
was er kann. Wollen und Können dürfen nicht auseinander gerissen
sein. Man muss seine Möglichkeiten und seine Grenzen erkennen, um
sein Wollen dann auf diese einzustellen und innerhalb seiner
Grenzen seine Möglichkeiten zu gestalten. Wollen wir vielleicht,
was gar nicht zu uns passt, was uns aber von außen als "in",
modern oder erfolgreich vorgegaukelt wird? Erst wenn Wollen und
Können synchronisiert sind, haben wir die beste Voraussetzung für
ein Gelingen.
Wer über Life Design beziehungsweise Lebensgestaltung
nachdenkt, ist mit seinem Leben nicht zufrieden. Dieser Wille zur
gestaltenden Formung des eigenen Lebens ist im Kern ein
künstlerischer Wille. Es ist der Versuch, dem Leben eine schöne,
eine würdige Form zu geben. Doch es bleibt die Frage nach dem
Ideal des gelungenen Lebens. Was ist gelungen? Diese Frage
begleitet jeden Einzelnen jeden Tag, auch wenn er es nicht merkt.
Sie begleitet ihn aber als meistens unbewusste Folie der
Bewertung. Jeder weiß und fühlt es ganz genau: Das war heute
wieder ein beschissener Tag; diese Sitzung ging voll in die Hose;
diese Party ist mal wieder völlig öde. Auch wenn wir es nicht
explizieren können, wir alle haben eine implizite Folie des
Gelungenen. Sonst könnten wir noch nicht einmal unzufrieden sein.
Unser implizites Ideal des Gelungenen ermöglicht erst die Kritik
des Vorhandenen. Dieses Ideal gilt es, sich zu vergegenwärtigen.
Denkbar wären heute folgende Felder der
Lebensgestaltung:
Sicherheit: Welche und wie viel Sicherheit ist für mich
angemessen? Und wie viel ist mir diese wert?
Anerkennung: Welche Art der Anerkennung erfahre ich von
wem? Wie viel ist mir diese jeweils wert? Von wem vermisse ich
welche Anerkennung? Wem gegenüber und wie drücke ich Anerkennung
aus?
Liebe: Werde ich geliebt und von wem? Liebe ich und wenn
ja, wen?
Gesundheit: Lebe ich gesund? Treibe ich Sport? Ernähre ich
mich richtig?
Sozialität: Bin ich eingebunden in ein Netzwerk von
Freunden, Bekannten und alltäglichen Kontakten? Erfahre ich Hilfe
von anderen, und helfe ich anderen?
Geistig-kulturelle Entfaltung: Nehme ich Teil am
kulturellen Leben? Habe ich genügend Zeit und Energie zur
Entfaltung meiner außerberuflichen Interessen und Hobbys?
Wenn wir diese Fragen positiv beantworten können, dann hat unser Leben eine schöne Form und wir werden es zu Recht als gelungen bezeichnen können. "Life Design & Karriere", "Work-Life-Balance", "Life-Planning" und weiteren Ratgeberunsinn haben wir dann nicht mehr nötig.
Übersicht aller bereits erschienenen Beiträge der "Living at Work-Serie".
English version: PDF-File.
Prof. Dr. Rainer Zech ist Geschäftsführer der ArtSet Forschung, Bildung, Beratung GmbH in Hannover. Zusammen mit seinen Mitarbeitern hat er die "Lernerorientierte Qualitätstestierung für Weiterbildungsorganisationen" (LQW) - eine Alternative zur ISO-Zertifizierung - entwickelt. Seine Bücher Organisation und Lernen, Organisation und Innovation sowie Organisation und Zukunft sind im Expressum Verlag erschienen.
Zum changeX-Partnerportrait: Koelnmesse GmbH.
www.orgatec.de
Vom 19. bis 23. Oktober 2004 |
© changeX Partnerforum [14.05.2004] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
changeX 14.05.2004. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Autor
Rainer ZechProf. Dr. >Rainer Zech ist Geschäftsführer der ArtSet® Forschung Bildung Beratung GmbH in Hannover und bearbeitet mit Prof. Dr. Hans-Jürgen Arlt von der Universität der Künste in Berlin das Projekt "Arbeit und …", das sich mit unterschiedlichen Aspekten von Arbeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschäftigt. kontakt@artset.de