Geschafft!
Deutschland und Europa 2020 - Ein Zukunfts-Szenario.
Willkommen in der Zukunft! Europa ist spezialisiert auf das Geschäft mit regional passfähigen Lösungen, hat die Wasserstoff-Wirtschaft eingeführt und profitiert von seiner kulturellen Vielfalt. Der Staat hat sich auf seine Kernaufgabe zurückgezogen und gewährleistet die Freiheit seiner Bürger, statt sich regulierend in ihr Privatleben einzumischen. Und die Unternehmen sind nach der Glaubwürdigkeitskrise in die Verantwortungs-Offensive gegangen.
Die Forscher von Z_punkt haben eine Reihe von Szenarien für unsere Gesellschaft im Jahr 2020 entwickelt. Die Themen: Globalisierung mit menschlichem Antlitz, Futurizing Society, Werte-Kompetenzen, Schwarm-Gesellschaft, Klarheit vor Überfluss und unüberwindliche Ungleichheiten. Die "Schwarm-Gesellschaft" ist bereits im Partnerforum erschienen - nun hier die restlichen Szenarien.
Wunder dürfen wir keine erwarten, und doch haben es Gesellschaft und Staat bis 2020 geschafft, sich zu erneuern. Das im Folgenden geschilderte Basis-Szenario geht von Veränderungen durch existierende Trends und prinzipiell durchsetzbare Reformen aus, nicht von schockartigen externen Ereignissen oder einem plötzlichen Sinneswandel der Menschen. Es will eine bodenständige Vision, eine wünschenswerte Perspektive auf realistischen Beinen sein und ist insofern ein Chancen-Szenario. Als Grundbedingungen des Wandels setzt es allerdings eine hohe gesellschaftliche und individuelle Lernfähigkeit voraus sowie die Bereitschaft von uns allen, Verantwortung zu übernehmen und sich auf Veränderungsprozesse einzulassen, die auch scheitern können.
Globalisierung mit menschlichem Antlitz.
Im Jahr 2020 ist die Welt noch
globalisierter als um die Jahrtausendwende. Und es erweist sich
als Glück, dass die protektionistischen Tendenzen vom Anfang des
Jahrtausends abgewehrt werden konnten. Die noch tiefere
Einbindung Deutschlands in Weltwirtschaft und Weltgesellschaft
lässt sich weniger an Exportanteilen oder Finanzströmen messen
als am menschlichen Austausch: Deutsche Senior-Experten arbeiten
in der Provinz Szechuan, dreisprachige virtuelle Universitäten
haben ihren Sitz in Berlin, Nassau/Bahamas und Kislowodsk, und
Touristen-Unternehmer aus Pakistan sind für drei Monate oder ein
Jahr in deutschen Autohäusern tätig.
Europa hat insgesamt eine neue Rolle in der globalen
Arbeitsteilung gefunden: "Regional passfähige Lösungen" lautet
das Zauberwort. Europa exportiert individuell zugeschnittene
Energietechnik nach Afrika und auf chinesische Verhältnisse
eingerichtete digitale Fabriken in das Reich der Mitte.
Die Mega-Cities in Asien und Südamerika nutzen regional
angepasste Infrastruktur-Dienstleistungen aus Europa, und
regionalisierte europäische Medienprodukte haben sogar den
Eintritt in den nordamerikanischen Markt geschafft. Die
kulturelle Vielfalt Europas, früher oft als Bremse für die
Integration des alten Kontinents angesehen, ist in der Wissens-
und Dienstleistungswirtschaft des 21. Jahrhunderts seine
wichtigste Ressource.
Wasserstoff und Innovation.
Die Vision war alt, oftmals
besprochen und verworfen, aber sie kehrte regelmäßig zurück auf
die politische Agenda: der Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft.
Die Energieunternehmen dachten zwar langfristiger, investierten
auch frühzeitig gezielt in erneuerbare Energien, aber sie
scheuten letztlich davor zurück, im Alleingang eine
flächendeckende Infrastruktur aufzubauen. In der
Automobilindustrie hatte man den Eindruck, dass alle Großen der
Branche in den Startlöchern standen. Jeder hatte seine
spezifische Brennstoffzelle bis zur Serienreife entwickelt und
wartete ab, was wohl der Konkurrent machen würde.
Branchenübergreifende Lösungen wurden nicht ernsthaft diskutiert,
stattdessen verwies man auf den Staat, der ein klares Signal für
den Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft vermissen ließ. Der
Staat wiederum sah sich nicht imstande, mit einem Förderprogramm
und begleitenden steuerlichen Vergünstigungen eine gewünschte
Entwicklung in Gang zu setzen. Nachdem 2008 tatsächlich eine
radikale Steuerreform erfolgte, galten Subventionen gleich
welcher Art als verpönt und nicht sachdienlich.
Die Förderer alternativer Energien waren uneins. Bedeutete
doch ein großtechnischer Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft
auch erhebliche Eingriffe in bisher unberührte Regionen. Die Crux
lag in der energie-intensiven Gewinnung des Wasserstoffs sowie
dessen Transport; ökologisch vertretbar war allein eine
solartechnische Energieerzeugung. Der nahe liegende Vorschlag,
hierzu gigantische Solarkraftwerke in der Sahara aufzubauen und
den gewonnenen Wasserstoff über große Pipelines nach Europa und
Asien zu transportieren, behagte etlichen Umweltschützern nicht.
Die Autofahrer wiederum verhielten sich abwartend. Schon wieder
eine neue Investition, außerdem verlangen die Brennstoffzellen
eine angemessene Fahrweise: Der Bleifuß würde der Vergangenheit
angehören. Zu Beginn der zweiten Dekade konnte man mit Recht von
einer gesamtgesellschaftlichen Blockade sprechen.
Wieder einmal kam die Wende von außen und war schmerzlich.
Die Abhängigkeit von den sinkenden Erdölreserven zeigte sich
überdeutlich während der fortdauernden Krise im Nahen Osten, dem
lang erwarteten Umsturz des saudi-arabischen Königshauses Fahd
durch islamische Fundamentalisten und dem endgültigen Kollaps der
Opec. Die Energiepreise gerieten außer Kontrolle und versetzten
der labilen Weltkonjunktur einen entscheidenden Hieb.
Erstaunlich für viele Beobachter war, wie es der
Europäischen Union gelang, ihre Handlungsfähigkeit zu erhalten
und einen Vorschlag von Eurosolar und Greenpeace aufzugreifen.
Den beiden Organisationen war es kurzfristig gelungen, eine
schlagkräftige Allianz aus Royal Dutch/Shell, Exxon,
DaimlerChrysler, Renault und Toyota zu schmieden, die jetzt
bereit waren, in einer europäischen Initiative den Aufbau einer
Wasserstoff-Infrastruktur bis 2020 vorzunehmen. Neben der
aktuellen Energiekrise war es vor allem die Angst vor dem
Konkurrenten und die begründete Hoffnung auf einen weltweiten
Export dieser Infrastruktur, die den Ausschlag gab. Nach dem das
Europäische Parlament das transeuropäische Großprojekt gebilligt
hatte, bekundeten auch die Asean-Staaten ihr Interesse, und sogar
die USA signalisierte ihre Bereitschaft an einer Beteiligung.
Der Druck von außen bewirkte noch mehr. Es gab plötzlich
wieder eine breite Diskussion über Großprojekte und Visionen,
über die Notwendigkeit, Basisinnovationen voranzutreiben, wollte
man noch in der ersten Liga der Hightech-Länder mitspielen.
Eingedenk der Erfahrungen mit staatlichen Förderprogrammen, wie
in den Technologiefeldern Atom, Informationstechnologie sowie der
Bio- und Gentechnik, war es allen Beteiligten klar: Wir benötigen
einen erweiterten Innovationsbegriff. Innovationen dürfen nicht
verkürzt nur technisch gedacht werden. Sie sind, wollen sie
nachhaltig erfolgreich sein, als eine gesamtgesellschaftliche
Einrichtung zu verstehen, die gleichzeitig immer die sozialen,
organisatorischen und kulturellen Dimensionen mit bedenkt.
Der Begriff der Innovationskultur erfährt neue Beachtung.
Wie muss eine Gesellschaft beschaffen sein, die Gründergeist,
kreative Gestaltungsräume und die dazugehörige Kultur des
Scheiterns freisetzt? Wie kommt Bewegung, wie kommt Dynamik
zustande? Alles wird in Frage gestellt. Ohne den Druck der
Verhältnisse wäre es auch nicht denkbar, dass vom 1. Mai 2020 an
Innovationsförderung keine staatliche, sondern eine
gesellschaftliche Aufgabe ist. Praktisch heißt das, dass
Unternehmen, Verbände, NGOs, der Staat und die Bürger gemeinsam
Innovationsvorhaben auswählen und umsetzen, ihre Finanzierung
regeln und alle begleitenden Maßnahmen und Folgen
eigenverantwortlich regeln. Damit wurde die
zivilgesellschaftliche Initiative zur Erweiterung der
repräsentativen Demokratie um konsultative Elemente in den Rang
eines Gesetzes erhoben. Der Präzedenzfall ist der Einstieg in die
Wasserstoffwirtschaft.
Futurizing Society.
Voraussetzung für die Erneuerung
war Entgrenzung - auch Prometheus musste vom Fels veralteter und
zu komplexer Regelungen loskommen. Wurde um die Jahrhundertwende
noch von den Menschen gefordert, sich agiler in den starren
Strukturen des Arbeits- oder auch des Bildungssystems zu bewegen,
so kamen die aus dem Industriezeitalter ererbten Institutionen
nun selbst auf den Prüfstand.
Im Rückblick erscheint es einfach: Die Finanzkrisen der
ersten Dekade wurden zum Motor von Veränderung und Erneuerung. Wo
immer der Staat sich mangels Geld zurückzog, forderten die Bürger
die entstehenden Freiräume für sich ein, sei es im Bildungswesen,
sei es mit neuen Formen der Selbstständigkeit, sei es in der
Kommune. Und wer nicht mehr zahlt, soll sich auch beim Regulieren
zurückhalten, war das Credo.
Futurizing Society wurde spätestens mit der gleichnamigen
Europäischen Deklaration von 2008 zum Schlagwort für die
Veränderungen. Futurizing bedeutete, die Systeme selbst zu öffnen
und einst undurchlässige Grenzen zu schleifen, etwa jene von
Arbeitsleben und Rente, Ehrenamt und bezahlter Tätigkeit,
zwischen öffentlichen und privatwirtschaftlichen Aufgaben. Dabei
ging es aber nicht nur um eine Vereinfachung und Verschlankung
des Staates (Lean Governance) und die Effizienzsteigerung der
Verwaltung und der Justiz, sondern um eine erhöhte Lernfähigkeit
der Gesellschaft insgesamt und um die Bereitschaft der Bürger,
selbst mehr Verantwortung zu übernehmen. Vor 2008 wurde das so
genannte Lissabon-Ziel der EU, Europa zur innovativsten und
dynamischsten Region der Welt zu machen, bestenfalls mitleidig
belächelt. Nach 2008 war die Dynamik unverkennbar.
Rightsizing.
Der Staat hat sich auf seine
Kernaufgabe zurückgezogen: die Gewährleistung der Freiheit seiner
Bürger. Er fungiert als Garant einer stabilen Rechtsordnung,
kümmert sich um die Sicherheit, koordiniert die Infrastruktur und
sorgt bis zu einem gewissen Grad für den Ausgleich von sozialer
Ungleichheit. Statt wie früher den lebensweltlichen Nahbereich
seiner Bürger zu reglementieren, beschränkt er sich jetzt auf
eine Rolle als Moderator und Aktivator bürgerschaftlichen
Engagements und unternehmerischen Handelns.
Allerdings bedurfte es dafür erst kleinerer Anstöße seitens
seiner Kundschaft: Nachdem die Verwaltungsreformen der neunziger
und der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts mit ihren
Versprechungen, die administrativen Apparate zu verschlanken und
die Service-Qualität für den Bürger zu erhöhen, gescheitert
waren, hatten immer größere Teile der Bevölkerung ihrem Staat die
Gefolgschaft verweigert. Die Bürger, denen in immer neuen
Reform-Agenda-Wellen mehr und mehr Flexibilität und Verzicht
abverlangt worden waren, bliesen zum Gegenangriff. Erst führte
ein Volksbegehren im Jahr 2008 zur Abschaffung des
Berufsbeamtentums, von der lediglich einige hoheitliche
Aufgabenbereiche in Justiz und Polizei ausgenommen wurden. Das
alte Steuersystem, das mit mehr als 70.000 Vorschriften einen
traurigen Rekord hielt, wurde durch ein einfaches
Dreistufen-Modell ersetzt. Die daraus resultierenden Einschnitte
- etwa ein völliger Subventionsabbau - wurden von den Wählern
klaglos akzeptiert, weil sie erstmals wirkliche Gegenleistungen
erhielten: einen effektiven Bürgerservice ohne Willkür und
Wartezeiten, höhere Nettoeinkommen und das Bewusstsein, dass ihr
Beitrag zum Gemeinwohl nicht im Labyrinth aufgeblasener und
ineffektiver Strukturen versandet.
Heute können Bürger Einfluss auf die Gesellschaft nehmen,
ohne sich erst der Kärrnerarbeit eines Parteiaufstiegs aussetzen
zu müssen. Statt auf die Zuweisung oder den Entzug von
Strukturhilfen von oben zu warten, sind inzwischen überall im
Land kommunale Initiativen für Smart Shrinking am Werk: Entleerte
Dörfer, verlassene Trabantenstädte und Industrieanlagen werden
renaturiert. Die noch bewohnten Restinseln inmitten der nun
wirklich blühenden Landschaften werden in
Public-Private-Partnerships umgebaut: verdichtet im Kern, aber
mit großzügigeren Grundrissen und viel innerstädtischem Grün.
Kulturschaffende und experimentierfreudige junge Leute
werden durch Steuerfreiheit und kostenlose Grundstücke angelockt.
Netzgebundene Infrastrukturen für Verkehr, Energie- und
Wasserversorgung werden durch dezentrale und kostengünstigere
Lösungen ersetzt: Bustaxen statt Schienenfahrzeuge,
Blockheiztechnik statt Großkraftwerke. Steuererklärungen und
Meldewesen per eMail sparen zu groß gewordene Rathäuser ein,
Nachbarschaftsnetzwerke entlasten die behördliche Sozialarbeit.
Als Anreiz dienen größere Freiräume und weniger
Anonymität.
Werte-Kompetenz.
Die Erneuerung des alten Kontinents
fängt in den Köpfen an. Zwar setzt sich der fest verankerte
Individualisierungs-Trend fort - etwas zu erleben und zu genießen
bleibt ein zentraler Wunsch - aber die Inhalte haben sich
verschoben. Vor allem Wissen und Bildung haben einen hohen
gesellschaftlichen Stellenwert erhalten.
Trendforscher sprechen von einer zweiten Stufe des
Wertewandels: individuell und hedonistisch - aber wohl informiert
und mit Verantwortungs- und Pflichtgefühl für sich selbst und für
andere. Junge Menschen bauen gezielt ihre Kompetenz-Portfolios
auf und aus, eine Vorbereitung auf eine Patchwork-Biografie mit
wechselnden Phasen von Tätigkeiten in unterschiedlichen Berufen,
Lern-Sabbaticals, Kindererziehung und Ehrenamt. Und die rüstigen
Senioren eifern ihren Enkeln nach, drücken noch einmal die Schul-
oder Hochschulbank und wollen das Gelernte dann auch
ausprobieren, als Senior-Experte im In- oder Ausland, in einem
Fremdhilfe-Netzwerk oder als Freiberufler. Wer rastet, der
rostet, und nur wer nichts lernt, der verliert. Arbeit erfährt
eine neue Bewertung - weg von der Fixierung auf die Sicherung des
Lebensunterhalts hin zu einer Quelle von Lebenssinn und
persönlichem Wachstum.
Moralische Wirtschaft.
Mit dem Rückzug des Staates
gewinnen die Unternehmen einen umfassenden Einfluss auf die
Entwicklung der Gesellschaft. Sie produzieren Arbeit, Kultur,
soziale Sicherheit, Bildung, Sport und Öffentlichkeit. Aus der
Glaubwürdigkeitskrise ist eine Verantwortungs-Offensive
hervorgegangen, die über Sponsoring-Kampagnen weit hinausführt.
Wertorientierung, Fürsorglichkeit gegenüber den Mitarbeitern und
soziale Verantwortung - alte unternehmerische Tugenden - werden
wieder zum Element der globalen Geschäftspolitik. Ganz im Sinne
der Wirtschaft geht es dabei um eine De-Polarisierung des
gesellschaftlichen Umfeldes. Das menschliche Maß soll auch im
globalen Wettbewerb wieder zur Leitlinie des Geschäftemachens
werden. Die so genannten NGOs, die
Nicht-Regierungs-Organisationen wie etwa Greenpeace haben an
moralischem Prestige verloren, weil viele ihrer Positionen für
die Wirtschaft selbstverständlich geworden sind.
Was für die einen eine hinterlistige Strategie des
entfesselten Kapitalismus bleibt, sehen die anderen als einen
echten Beitrag zu einer besseren Globalisierung. In jedem Fall
zwingt die wachsende Aufmerksamkeit für die moralischen Aspekte
des Wirtschaftens und die mittlerweile ausgeprägte Sensibilität
für inhaltsleere Parolen der Unternehmen zu einem bisher
ungekannten Maß an Transparenz und offensiver
Kommunikationspolitik. Aus dem Innovations-Wettbewerb ist eine
Art Moral-Schlacht geworden, die allerdings teilweise groteske
Züge annimmt. Man übertrifft sich mit Darstellungen von
firmeneigenen Bildungsagenturen in Darmstadt oder São Paulo,
berichtet ausgiebig über die fairen Kooperationen mit den
ecuadorianischen Kaffeebauern oder verweist auf das kommunale
Engagement an den unterschiedlichen Unternehmensstandorten.
Die alte Welt hat ihr Wertesystem wieder belebt und
aufgemöbelt. Die hiesigen Unternehmen positionieren sich offensiv
als Saubermänner der Weltmärkte. Wo aber das Gute wirkt, ist das
Böse nicht fern: Es bilden sich unterschwellig neue Feindbilder.
Und so lautet die heimliche Botschaft: Kauft nicht beim
Chinesen!
Klarheit vor Überfluss.
Auch der Konsum, Anfang des
Jahrtausends noch von zahlreichen Krisenerscheinungen wie
allgemeine Kaufunlust, weitgehend gesättigten Märkten und
Rabatt-Orgien gekennzeichnet, hat einen deutlichen
Bedeutungswandel erfahren. Auch das Wirrwarr aus Happy Digits,
verschiedensten Basis- bis Premium-Stufen, unübersichtlichen
Paket-Geschäften, immer neuen Handy-Features ist inzwischen
wieder im Orkus gescheiterter Marketing-Ideen verschwunden.Vor
dem Hintergrund gesunkener öffentlicher und beitragsfinanzierter
Leistungen steht Konsum zwar immer stärker in Konkurrenz zu
privaten Ausgaben für Gesundheit und Bildung, doch im Unterschied
zu früher wird darüber nicht mehr lamentiert. Vielmehr
konzentrieren sich immer mehr Menschen auf die wirklich wichtigen
Dinge und Werte: Klarheit, reeller Nutzen und individuelle
Zeitsouveränität.
Die Wirtschaft hat - unabhängig von aller Marktforschung -
dabei viel gelernt. Produkt-Individualisierung und die Einbindung
des Käufers in den Produktionsprozess (Personal Fabbing) haben
sich in vielen Bereichen durchgesetzt. Aber die Hersteller
wissen, dass sie damit nur dann erfolgreich sein können, wenn sie
den Verbraucher nicht mit übermäßiger Komplexität behelligen.
Langlebige Waren mit ansprechender Produktgeschichte und
zeitlosem Design finden ebenso Absatz wie immaterielle
Nutzen-statt-Kaufen-Services. Am erfolgreichsten sind Produkte
und Dienstleistungen, die sich klar am Konsumentennutzen
orientieren und ein Maximum an angenehm und sinnvoll verbrachter
Lebenszeit garantieren.
Kaufst du noch, oder lebst du schon?
Die bald 20 Jahre alte, leicht
abgewandelte Ikea-Losung bringt die allgemeine Stimmung auf den
Punkt. Manch einer der heutigen Rentner erinnert sich schmunzelnd
an Erich Fromms "Haben oder Sein", eine der Bibeln des
Psycholinken der späten siebziger Jahre. Wir betreten ein
gewöhnliches Mode-Kaufhaus. Wir sehen eine junge Frau, die
zielstrebig das Eingangsportal passiert und ganz offensichtlich
in Eile ist. Routiniert nimmt sie im Vorbeigehen eines der
bereitliegenden Handgeräte, das sie auffordert, ihm ihre Wünsche
mitzuteilen und ihre persönliche Chip-Karte mit ihren Maßen und
Stilvorlieben einzuführen. Ohne Umschweife weist ihr ein
beweglicher Pfeil im Display den Weg zu dem Kleiderständer mit
den pinkfarbenen T-Shirts in Größe 38, wo bereits ein
Funk-Etikett mit einem Blinkzeichen auf sich aufmerksam macht.
Gezahlt wird beim Durchschreiten der elektronischen Schranke, die
automatisch alle mit Funk-Chips ausgestatteten Artikel in der
Einkaufstüte erfasst und den Betrag vom freigegebenen
Kreditkartenkonto der Käuferin einzieht. All das ist in fünf
Minuten erledigt. Da bleibt noch Zeit für einen Drink im
"Ambiente" um die Ecke.
Das "Ambiente" ist ein überdachter Marktplatz für
Kommunikation, Kultur und Kommerz, ein halb öffentliches
Wohnzimmer, ein modernes Erlebnis-Shopping-Center mit
Themeninseln, in denen gekauft, geruht, gegessen und geredet
werden kann. Die junge Frau lässt sich in einem der ausgestellten
Designer-Sessel der leicht nach Moschus duftenden India Lounge
nieder, blättert in ein paar Reiseprospekten über Bombay und
bestellt sich erst mal einen Yogi-Tee.
Der Käufer schwankt im Jahr 2020 zwischen zwei Extremen:
Bequemlichkeit und Erlebnis. Zielgerichtet, bequem und
zeiteffizient sollen unsere Grundbedürfnisse befriedigt werden.
Vorbei die Zeiten ritualisierter Masseneinkäufe. Eine grelle und
unübersichtliche Angebotsvielfalt wird mittlerweile als Zumutung
erlebt. Zeit gilt als die wertvollste Ressource und zugleich
härteste Währung in einer Gesellschaft, die schon alles hat. Die
Zeit, die der Einzelne auf diesem Planeten hat, möchte jeder so
angenehm und interessant wie möglich verbringen. Statt Firlefanz
kaufen wir, was wir wirklich brauchen: kulturelle Anregung,
Bildung, Entspannung und Gesundheit.
Made by You!
Der Durchbruch kam im Kinderzimmer.
Als ein bekannter dänischer Spielwarenkonzern seinen ersten
"3D-Creator" für die Heimfabrikation von personalisierten
Spielsachen in die Regale brachte, wurde der radikale Wandel für
jedermann greifbar. Mit diesem Wundergerät können sich die Kids
Action-Figuren oder ganze Bausätze aus dem Netz herunterladen und
binnen Minuten als dreidimensionale Gegenstände "ausdrucken". Der
zehnjährige Tim hat sich gerade heute einen supercoolen Hyperjet
ausgedacht. Er baut das Ding virtuell auf dem 3D-Display
zusammen, das Online-System berechnet die dazu notwendigen
Bauelemente, die dann nach kurzer Zeit aus Hightech-Pulver
synthetisiert aus dem 3D-Creator purzeln - elektronische
Funktionseinheiten eingeschlossen. Der Preis wird von Tims
Toy-Abo abgebucht - ein Weihnachtsgeschenk seiner Oma.
Bereits seit einigen Jahren werden die Kunden immer stärker
in den Produktplanungs- und Entstehungsprozess einbezogen:
Kundenbindung ist Produktbindung. Menschen binden sich nicht an
Marken, sondern schätzen Dinge, die einen konkreten Wert für sie
darstellen und deren individuelle Aneignung auch tatsächlich
möglich ist. Die Kunden werden nun schrittweise selbst zum
aktiven Element in der Wertschöpfungskette gemacht, indem sie
zunehmend in die Rolle des Schöpfers ihrer individuellen
Produktwelt hineinwachsen. Der Weg zur dezentralisierten
Produktion bis zur Personal Fabrication (Fabbing) ist vor diesem
Hintergrund konsequent und dennoch in seinen Konsequenzen
überraschend. Statt neuer Fabriken im Ausland entstehen dank
innovativer Produktionstechniken wie dem Realtime-Manufacturing
vermehrt unabhängige Mini-Fabriken im städtischen Kontext. Häufig
werden die leer stehenden Einzelhandelsflächen in Zentrumslagen
genutzt.
Fabbing-Center werden die neuen Tempel der
Produkt-Entstehung und -Inszenierung genannt, in denen die
Vorstellungs- und Bedürfniswelten der Kunden vor ihren Augen -
und auf Wunsch mit ihrem aktiven Zutun - in Unikate umgesetzt
werden. Vom Ersatzteil bis zum Maßschuh, vom Hightech-Möbel im
Selbst-Design bis hin zum Leichtbau-Citycar mit regionaler Note
reicht heute die Palette der realisierten Fabbing-Services. Die
Kunden, so scheint es, haben sehr rasch verstanden. Das
Fabbing-Fieber steigt, ein vollkommen neues Spiel hat
begonnen.
Unüberwindliche Ungleichheiten.
Trotz aller positiven Entwicklungen
bleiben Widersprüche und gravierende strukturelle Unterschiede
bestehen, nicht nur weltweit zwischen den dynamischen Regionen
und den immer noch armen Entwicklungsländern. Auch in Europa ist
die Kluft zwischen den weitgehend entsiedelten Landschaften im
Osten und im Süden und den Boom-Regionen entlang der Küsten, um
die großen Agglomerationen und im europäischen Kernland von
London über Amsterdam und die Rhein-Schiene bis nach Mailand
unübersehbar.
Zudem stehen den Gewinnern der Wissensgesellschaft die
Verlierer gegenüber: Menschen, die die Veränderungen nicht
mitmachen können oder wollen. Und trotz anhaltenden moderaten
Wachstums reicht die europäische Wirtschaftskraft nicht für den
Ausgleich der Unterschiede. Außerdem sinkt trotz Zuwanderung um
2020 die europäische Bevölkerungszahl. Aber immerhin - und
erstmals für eine eigentlich nur in der Expansion funktionierende
Marktwirtschaft - ist es Deutschland und Europa gelungen, den
Kurs eines Smart Shrinking einzuschlagen, einer intelligenten
Erneuerung trotz alternder und schrumpfender Bevölkerung.
Neue deutsche Welle: Anpacken wird Kult.
Am Ende hat die Love Parade nur
noch ein paar hundert Alt-Raver auf die Straßen der Hauptstadt
gelockt. Love ohne Ziel, Feiern ohne Folgen, Selbstinszenierung
als Hobby - das mobilisiert heute keine Massen mehr. Für die neue
Generation bedeutet Spaßgesellschaft, etwas konkret zu bewirken,
in der Gruppe, in der Stadt, im Unternehmen, für das ganze Land.
Selbst organisiert, ideologiefrei, pragmatisch und aktiv sind die
Jungs und Mädels. Sie verbessern, was sie stört, ohne auf
Erlaubnis zu warten. Das selbstmitleidige Dauerlamentieren der
(Eltern-)Generation Golf kommt ihnen schon lange zu den Ohren
raus. Und die immer noch umherspukenden Sozialträumereien der
68er-Opas sind ihnen erst recht fremd.
Es geht heute kaum mehr um Solidarität, sondern um die
Herstellung von individuellem Sinn mittels kollektiver Aktion. Es
geht auch nicht mehr um Karriere, sondern um die Erweiterung von
persönlichen Handlungsräumen. Und es geht schon gar nicht um
kühne Visionen, sondern um das unmittelbare Spüren und
Manipulieren der Wirklichkeit. So kann es schon passieren, dass
sich plötzlich einige hundert Leute in der Cottbuser Innenstadt
versammeln und mal eben einen öffentlichen Platz neu gestalten.
Erst schaffen, dann diskutieren. Cool ist, wer im Land etwas
bewegt, für sich und für andere.
Diese neue deutsche Welle sieht den Staat nicht mehr als
Versicherungsunternehmen. Sie verlangt von ihm ein
professionelles Management öffentlicher Aufgaben, setzt aber
sonst vor allem auf sich selbst. Und diese Welle schwappt
zwangsläufig auch in die Unternehmen hinein, bringt die
Führungselite unter Druck.
Tatsächlich scheint sich im Land ein Kulturwandel
anzubahnen. Experimente werden aufmerksam begleitet. Scheitern
gehört zum Geschäft. Echte Wirtschaftswunder werden erst mal
keine erwartet, aber die Dynamik von unten ist deutlich spürbar.
Die Führungselite ist verunsichert und neigt reflexartig zum
Bremsen, um dann schließlich doch mitzusurfen. Die Stimmung ist
gut, auch wenn die Leute unterbewusst spüren, dass sie gar keine
Alternative zum Anpacken haben.
Klaus Burmeister, Andreas Neef, Beate Schulz-Montag und Karlheinz Steinmüller sind Zukunftsforscher und Gesellschafter der Z-punkt GmbH The Foresight Company.
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Klaus BurmeisterKlaus Burmeister ist Gründer und Managing Partner von Z_punkt The Foresight Company.
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Andreas NeefAndreas Neef ist Managing Partner von Z_punkt.