Überleben im Information Overload

Living at Work-Serie | Folge 5 | - Hermann Sottong über den Wert von informellen Kommunikationsnetzwerken.

Die Müllberge an Informationen in Unternehmen werden immer größer. Memos, E-Mail-Rundschreiben, Foliensätze und PowerPoint-Dateien landen täglich als wirrer Haufen auf den Schreibtischen. Das Fußvolk in den Büroetagen versucht tapfer, diese Lawine aufzuhalten. Der Rest geht in die Emigration. Genau diese aktiven Ignoranten aber sind, so der Autor Hermann Sottong, die besten Pfadfinder in der Wissensgesellschaft.

"Und dann merkst du - kein Mensch hat es wirklich gelesen", klagte neulich im ICE ein Manager einem Kollegen sein Leid. Verzweiflungsvoll ruhte sein Blick auf dem umfangreichen Dossier, das er zur Information seiner Mitarbeiter für das Meeting zusammengestellt hatte, von dem er gerade kam. Keine Frage, der Mann war frustriert. So viel Mühe, so viel akribischer Fleiß, so viel Liebe fürs Detail sind in seine umfänglichen Informationsbemühungen eingeflossen - und dann wurde alles einfach ignoriert.
"Aber das Meeting ist doch gut gelaufen. Du hast doch erzählt, dass alles glatt durchging", wirft sein Gegenüber ein. "Du weißt doch, wie das ist: Alle nicken, alle sagen, sie hätten es verstanden, aber dann wird klar, die haben das bloß überflogen. Und du weißt genau, dass du die nächsten Monate bei jedem Umsetzungsschritt wieder alles erklären musst, überzeugen musst, nachkarten musst. Es ist immer dasselbe."
Stellt sich die Frage, ob es unserem Manager in diesem Moment ein Trost gewesen wäre, ihm bewusst zu machen, dass es vielen seiner Kollegen in ihren Unternehmen mit ihren Dossiers und Präsentationen, ihren Konzeptbroschüren und Rundschreiben ebenso ergeht. Sie werden einfach nicht mehr wahrgenommen. Ganz zu schweigen von all den Mitarbeiter- und Führungskräfteinformationen in Druckform, in Intranets, den Memos und E-Mail-Rundschreiben, den Foliensätzen und PowerPoint-Dateien, den Informations- und Wissensdatenbanken.
Alles, wirklich alles ist da - verschriftet und verbildlicht, analogisiert und digitalisiert, greifbar, lesbar, downloadable - und doch scheinen die Menschen in Unternehmen und Organisationen nicht den richtigen Gebrauch davon zu machen.

Wasser schöpfen - mit einem Sieb.


Für viele Mitarbeiter und Führungskräfte gleicht das tägliche Bemühen, sich in der (internen) Kommunikationsflut zu orientieren, dem Versuch, Wasser mit einem Sieb zu schöpfen: Wenig bleibt hängen, auch wenn man tief hineingreift, und je mehr man sich bemüht, desto frustrierter bleibt man zurück.
Gerade Mitarbeiter, die mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln informiert werden, klagen gleichzeitig über einen "Information Overload" und darüber, nicht genug informiert worden zu sein. Auf diese offenkundige Paradoxie im Kommunikationssystem reagieren viele Organisationen mit einem Lösungsversuch, der das Problem verschärft: Sie drehen den Hahn noch weiter auf und erhöhen den Druck.

Ausgerechnet die Wirtschaft kommuniziert unökonomisch.


Medien verweisen auf andere Medien, Neuigkeiten entpuppen sich als Nachrichten über Nachrichten, Äußerungen bieten Anlass für Äußerungen über Äußerungen. Und weil so viele verschiedene Menschen in Unternehmen unter verschiedenen Bedingungen arbeiten und man dabei nicht sicher wissen kann, welchem "Medientyp" sie nun eigentlich angehören, wird gleich ein großer Fächer aufgemacht und aus allen Rohren geschossen. Für den größten Teil dieser verstreuten "Informationen" gilt, dass niemand im Unternehmen mehr in der Lage ist, einzuschätzen, welche davon relevant sind und für wen. Wenn aber relevante Kommunikation nicht mehr von trivialer und überflüssiger Information unterschieden werden kann, dann ist das nicht nur ineffizient - für Unternehmen ist es sogar schädlich.
Als Organisationen, die einer ökonomischen Rationalität von Kostenminimierung, Produktivitätssteigerung und optimaler Profitabilität gehorchen sollen, können es sich Unternehmen eigentlich gar nicht leisten, intern triviale, überflüssige Botschaften zu produzieren sowie Kommunikation herauszufordern und zu exekutieren, die nicht nur nichts einbringt, sondern sogar Ressourcen verschlingt. Auf dem Feld der (internen) Kommunikation verhalten sich Unternehmen radikal unwirtschaftlich.
Nehmen wir ein reales Beispiel aus unserer Beratungspraxis: In einem Unternehmen erhalten die Manager durchschnittlich 85 E-Mails täglich. Neben den allgemeinen Mitarbeitermagazinen, zwei an der Zahl, gibt es für sie monatlich eine eigene Zeitschrift, speziell für Führungskräfte. Elektronisch und/oder per Hauspost erreichen sie wöchentlich mindestens ein Dutzend Sitzungsprotokolle. Sie sehen bei Meetings und Präsentationen durchschnittlich 4.800 Folien und Charts im Jahr. Sie können theoretisch auf einen Fundus von mehreren Hundert verschiedenen Inhouse-Broschüren zurückgreifen, die selbstredend ständig überarbeitet und verbessert werden, jeden Tag 20 Minuten Inhouse-TV-Beiträge verfolgen oder dem täglichen Pressespiegel Artikel im Umfang von 20.000 und mehr Anschlägen entnehmen. Nicht zu reden von den Memos, Dossiers, Berichten, Statistiken, Briefen, Telefonaten, Redebeiträgen, die ohnehin zur täglichen Arbeit gehören.
Um angesichts dieser Datenflut noch handlungsfähig zu bleiben, müssen diese Führungskräfte etwas entwickeln, was ich "Routinen der Ignoranz" nennen möchte: Sie wenden täglich mehr oder weniger bewusst Regeln an, die es ihnen erlauben, die Mehrheit all dieser Informations- und Kommunikationsangebote schlicht nicht zur Kenntnis zu nehmen und sich auch den ganzen Tag über keinerlei Gedanken daran hinzugeben, ob sie vielleicht etwas Wichtiges verpasst haben. Sie handeln nach dem Grundsatz: Wo Kommunikation zum Wasserfall wird, wird Ignoranz zur Pflicht! Und lassen das meiste, was an Information auf sie einprasselt, einfach an sich abperlen.

Nicht selten erhält Ignoranz die Funktionsfähigkeit des Systems.


Sie handeln dabei im Prinzip genauso wie die meisten ihrer Mitarbeiter. Sobald dieses Phänomen in den Chefetagen jedoch wahrgenommen wird, beginnt man darüber nachzudenken, wie diesen Ignoranten am besten beizukommen wäre. Denn das Nicht-informiert-Sein der Menschen im Unternehmen kostet Zeit, Geld und Energie, es führt zu Reibungsverlusten auf verschiedenen Ebenen, schwächt den Zusammenhalt und die Effizienz der Organisation. Ignoranz, so scheint es, ist damit eindeutig ein schädliches Verhalten, ignorante Mitarbeiter verletzen ihre Pflicht. Aber ist das wirklich so?
Angesichts der Logik interner Kommunikation in vielen Organisationen lässt sich durchaus eine völlig andere, nur scheinbar absurde Hypothese vertreten: Der Ignorant verhält sich vorbildlich, die Ignorantin ist die Heldin der Organisation, Ignoranz rettet so manches Unternehmen vor dem Kollaps!
Um das einzusehen, braucht man sich nur für einen Moment vorzustellen, all diese Menschen würden ernsthaft versuchen, das, was ihnen da täglich mitgeteilt wird, auch nur annähernd aufmerksam zu rezipieren und alles gewissenhaft zu verarbeiten, was ihnen aus den Füllhörnern der internen Kommunikation zufließt! Für eine stattliche Reihe von Firmen und Branchen würde dies den sofortigen Stillstand bedeuten. Der Ignorant also ist es, der sich nicht nur rational, sondern auch loyal verhält, indem er durch seine Weigerung zur Informationsaufnahme die Funktionsfähigkeit der Organisation sichern hilft.
Die Ignoranten erweisen sich dabei oft auch als Mitarbeiter, die mit ihrer eigenen Arbeitskraft auch insofern verantwortlich umgehen, als sie sich ihre geistig-seelische Gesundheit bewahren. Denn leider ist vieles, allzu vieles, was intern publiziert und kommuniziert wird, nicht unbedingt dazu angetan, Mitarbeiter, die bei gesundem Verstand sind und mit wachen Augen täglich die Realität in ihrem Arbeitsumfeld wahrnehmen, besonders bei Laune zu halten: Verlautbarungskommunikation von "oben" macht einen beträchtlichen Teil der internen Kommunikation aus, von der es besser wäre, sie wäre nicht erfolgt. Großartige Prognosen, blumige Selbstbeschreibungen, schillernde Projektentwürfe und Elogen über die Effekte und Qualität von Programmen und "Offensiven", wie sie in vielen Unternehmen immer noch gerne und meist "hochwertig" aufbereitet herumgeistern, richten nur deshalb keinen größeren Schaden an, weil viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sie mittlerweile gnädigerweise einfach ignorieren. Statt sich über die Kluft zwischen den publizistischen Scheinwelten und der täglich erlebten Realität am Arbeitsplatz zu echauffieren, arbeiten sie lieber weiter an der Lösung konkreter Probleme.

Von informellen Kommunikationsnetzwerken lernen, worauf es ankommt.


Dass dazu auch eine funktionierende Kommunikation mit den Kollegen gehört, die dazu etwas beitragen können, versteht sich von selbst. Also bilden solche Führungskräfte und Mitarbeiter ganz organisch informelle Netzwerke des Erfahrungsaustausches, der gegenseitigen Information und entwickeln Kodes, die dafür sorgen, dass bei Bedarf schnell und sicher kommuniziert werden kann. Die viel zitierten "Communities of Practice" sind dafür das prominenteste Beispiel. Im Verlauf unserer Beratungstätigkeit zur internen Kommunikation hat sich herausgestellt, dass funktionierende interne Kommunikation informeller Netzwerke verschiedener Ebenen stets bestimmten Mustern folgt.

  • In Kommunikationsnetzwerken dieser Art überlegen sich die Mitglieder genau, für wen eine Nachricht wichtig sein könnte oder wen man am besten fragt, wenn eine bestimmte Information gebraucht wird.
  • Kommunikation unter Anwesenden geht medialer Kommunikation voraus. Funktionierende interne Kommunikation gründet auf Gespräche. Informelle Kommunikationsnetzwerke nutzen und schaffen sich Plattformen für Begegnung: von der Kaffeeküche über den Gesprächszirkel bis hin zur Tagung.
  • Zuhören/Empfangen ist genauso wichtig wie Reden/Senden. Gelingende Kommunikation gründet auf gegenseitigem Interesse und Respekt. Wer immer nur "auf Sendung" ist, wer nur "inputen" und andere überzeugen will, ohne selbst zuhören zu können, wird keinen dauerhaften Platz in solchen Netzen finden.
  • Fragen sind genauso wichtig wie Antworten. Wer interessiert zuhört, befindet sich schon im "Lernmodus". Fragen zu stellen heißt, Interesse zu zeigen und den Austausch anzubieten. Informelle Kommunikationsnetzwerke entwickeln gemeinsame Fragen und gemeinsame Lösungen im Dialog: Sie lernen.
  • Das Erzählen - der Austausch von Geschichten, Erlebnissen, Erfahrungen - spielt eine prominente Rolle in der Kommunikation. In funktionierenden Kommunikationsnetzwerken wird viel erzählt. Und das mit gutem Grund: Menschen denken in Geschichten, sie speichern ihre Erfahrungen in Geschichten, sie vermitteln in Geschichten, was ihnen bedeutsam erscheint. Geschichten sind das beliebteste und wertvollste Tauschobjekt der Kommunikation. Die Identität einer Gruppe manifestiert sich in ihrem gemeinsamen Fundus von Geschichten, ebenso wie das Wissen darüber, was möglich, wünschenswert, unerwünscht und wahrscheinlich ist. Und nicht zuletzt: Anhand von Geschichten lässt sich über Mögliches sprechen, ohne den Konjunktiv zu gebrauchen. Nicht: "Wir sollten mal, wir müssten ..." ist der Modus der Geschichte, sondern: "Es war einmal, ich habe einmal erlebt ...". In Geschichten gibt es für das, was sein sollte, bereits ein Vorbild. Sie motivieren Veränderung.
  • Gelingende Kommunikation orientiert sich an Themen, nicht an Hierarchien. Nicht wer etwas sagt, ist in erster Linie von Bedeutung, sondern was jemand beiträgt.
  • Die Kommunikation ist anschlussfähig und offen für neue Teilnehmer. Zwar bilden die Netzwerke "Zirkel" oder "Communities", aber wer sich für die Themen interessiert und aktiv bemüht ist, an der Kommunikation teilzunehmen, kann das in der Regel erreichen.

Respekt vor der Aufmerksamkeitskapazität, aber auch vor der Persönlichkeit des anderen, gegenseitiges Interesse an der Person und ihrem potenziellen Wissen, sowohl Sachlichkeit als auch Emotionalität und regelgeleitete Offenheit sind die Prinzipien einer gelingenden Kommunikation, wie sie von solchen informellen Gruppen praktiziert wird. Wo die offizielle Kommunikation intern versagt, stellen sie sicher, dass der lebensnotwendige Austausch und die Ideenflüsse dennoch nicht versiegen.

Die Zukunft der internen Kommunikation.


Diese aktiven Ignoranten ebnen damit letztlich den Weg für eine neue, bessere interne Kommunikation. Durch ihre Ignoranz setzen Mitarbeiter eine Rückkoppelungsschleife in Gang, welche die Dampfmaschine aus immer mehr "Informationen" auf immer mehr Kanälen mit immer größerem Druck bei immer weniger Aufmerksamkeit derart heiß laufen lässt, dass sie irgendwann kollabieren wird. Damit aber machen sie mittelfristig den Weg frei für ein neues Denken und für effektivere, intelligentere Ansätze der internen Kommunikation.
Gleichzeitig liefern viele von ihnen durch ihre tägliche Praxis des Austauschs das Vorbild und die Muster zur Gestaltung einer intelligenteren und eleganteren Art, interne Kommunikation zu gestalten. Viele Manager versuchen weiterhin, gerade die informelle Kommunikation "in den Griff" zu bekommen. Statt den internen Diskurs in Form und Inhalt bestimmen zu wollen, sollten sie jedoch lieber auf Entdeckungsreise gehen und von den erfolgreich praktizierten Beispielen in ihrem eigenen Hause lernen. Denn die interne Kommunikation der Zukunft wird nicht mehr daten- und mediengetrieben sein, sondern sich an denjenigen orientieren, ohne die es - Hochglanzbroschüre hin, Intranet her - Kommunikation nicht geben kann: den Menschen.

Übersicht aller bereits erschienenen Beiträge der "Living at Work-Serie".

English version: PDF-File.

Dr. Hermann Sottong ist Buchautor, Coach und Berater. Zusammen mit Karolina Frenzel und Dr. Michael Müller leitet er das Beraternetzwerk System + Kommunikation in München. Ihr erstes gemeinsames Buch trägt den Titel Das Unternehmen im Kopf, im April 2004 erscheint Storytelling - Das Harun-al-Rashid-Prinzip.

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Vom 19. bis 23. Oktober 2004

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