Unter dem Pflaster liegt der Strand

Menschen im Aufbruch - Eine changeX-Serie. | Folge 8 |

Von Anja Dilk

Nicola Bramigk arbeitet an einem Gesamtkunstwerk. Die Berlinerin konzipiert und gestaltet neue Möbel, Mode und Reisen. Sie setzt Ideen für Individualisten um - neu, originell, authentisch und witzig. Schlichte Röcke aus Stoffrechtecken, schräg zusammengenäht. Oder einen 2-Tagetrip nach London, Paris oder Madrid, individuell online zusammengestellt. Ihre Devise: Raus aus dem Mittelmaß. Weg mit den Standardprodukten. Hinein ins Abenteuerland der individuellen Möglichkeiten.

Nicola Bramigk konnte es nicht fassen. Damals, mit 17, als sie mit ihren Eltern in Rom war. Eines Abends wollte die Familie auf der Piazza Navona essen gehen. Nicola hatte eine tolle Adresse in der Tasche. Ein etwas anderes Restaurant, neu, originell, authentisch, witzig. Pizza am Meter, ausgefallene Rezepte. Ein Knüller. Von wegen. Ihr Vater stapfte ins erstbeste Nepprestaurant in der Touristenmeile. Wütend und enttäuscht aß Nicola Bramigk keinen Bissen in der 0/8/15-Kaschemme. Und ihr wurde klar: Das ist nicht mein Weg. Ich bin eine, die stets nach Neuem dürstet, die gierig ist nach ungewöhnlichen Dingen. Nicht cool und szenig müssen sie sein, sondern authentisch und faszinierend, vielleicht schön, sicher stilvoll auf ihre Weise.

Eine Sucherin von Geburt an.


Heute sitzt Nicola Bramigk in einer zum Niederknien schönen Villa im Berliner Stadtteil Zehlendorf, umgeben von gutem Geschmack und schönen, ungewöhnlichen Dingen. Antike Kommoden aus Südfrankreich im weiß patinierten Shabby-Look, die sich bis unter die hohe Decke strecken; geschwungene Kunststoffstühle auf hölzernen Schaukelkufen; seidige Vorhänge, grafisch klare Kunstphotographien, die glatt verputzten Wände erdig getüncht. Durch den runden Frontanbau aus Holz, Stahl und Glas fällt sattes Sommerlicht in die alte Villa, zum Garten hin öffnen hohe Fensterfronten den Blick auf Terrakotta-Terrasse und Gartenlandschaft. Oleander und Olivenbäume wehen sanft in der Mittagsbrise, die Sonne brennt heiß auf das schmiedeeiserne Balkongestühl.
Nicola Bramigk schiebt die verstreuten Skizzen auf dem Esstisch ein wenig zusammen und rückt ihre kleine, kantige Brille ("die trag ich nur, wenn ich zu viel gearbeitet habe") in Position. "Es gibt Sucher und Nicht-Sucher. Es ist genetisch bedingt, ob man getrieben ist, stets nach Neuem zu suchen." Bramigk nimmt einen Schluck Milchkaffee aus dem henkellosen Keramikbecher. Es war eine lange Nacht. Sie hebt den Blick von ihrer Tasse und lacht. "Ich bin eine Sucherin." Ein Mensch, der Dinge aufreißt und vorantreibt.

Modemacherin fern der Modewelt.


Modedesign studieren im renommierten Berliner Lette-Verein, das war der heute 39jährigen nicht genug. Von Beginn an suchte sie neue Erfahrungen. Besuchte nach dem Studium die Modeschule in Rom. Bewarb sich bei Jil Sander, auch wenn daraus nichts wurde. Doch zu einem "mittelmäßigen Designladen" wollte sie nicht. Da gründete Bramigk lieber ihr eigenes Label. Schneiderte "Stücke für jeden Tag", einfache, schöne Schnitte, roter Strick, cremefarbene Corsagen mit beigen Blumenranken, gerade Kleider, entwaffnend schlichte Röcke aus Stoffrechtecken, schräg zusammengenäht. Kollektionen für die Dame mit nicht ganz schlankem Geldbeutel, halbwegs erschwinglich trotzdem. Irgendwas zwischen ausgetillten Berlin-Mitte-Clubfummeln und der verdösten Berliner Nicht-Mode.
Doch damals schon, 1995, schaut sich die Designerin nach anderem um. Nie hatte sie von der Präsentation auf dem Laufsteg geträumt oder vom Berühmtwerden, nie hatte ihr der Modezirkus etwas bedeutet. Bramigk tut sich mit einer Freundin zusammen, macht einen "Interior Konzeptstore" auf: modernes Design und Antiquitäten. Für die alten Stücke macht sie sich wieder auf die Suche, stöbert durch Südfrankreich und Italien. Nebenbei bringt sie eine Kinderkollektion zum Bestellen auf den Markt. Die heißt wie ihre Kids: Julian und Florentin. Doch ihre Hauptbeschäftigung, der kinderkompatible Verkaufsalltag im Möbelgeschäft mit festen Arbeitszeiten und Kundenverkehr, ödet sie unendlich an. "Mich interessierte es einfach nicht, ob den Kunden das rosa oder das gestreifte Oberteil besser steht."

Kreativscout für ausgefeilte Möglichkeiten.


Bramigk hält Ausschau nach Neuem. Arbeitet mit dem Berliner Designzentrum Stilwerk und dem Möbelhersteller Interlübke zusammen. "Ich bin keine Tiefenkreative, die aus der Tiefe ihres inneren Chaos etwas entwickelt." Sie ist nicht die Gestalterin, die ewig an Details prokelt, verfeinert, verbessert. Sie ist eher eine Art Kreativscout mit dem Blick einer Artdirektorin, jemand, der Möglichkeiten aufdeckt, konzipiert, gestaltet. In der Weite des Blicks liegt ihre Stärke. Ein Blick für das Betriebswirtschaftliche etwa, für Möglichkeiten und Kundenbedürfnisse. Ein Blick für Design und Kreativität, für Form und Material, für Esskultur (Bramigk über Bramigk: "Ich kann mir fast nichts merken im Leben, aber noch Jahre später habe ich den Geschmack eines Essens auf der Zunge.") und die Lust am guten Stil.
Nicola Bramigk hat das große Ganze im Visier. "Mir fällt es unheimlich leicht, den ersten Schritt zu tun, etwas in Gang zu setzen, aber weiter fortführen ist nicht mein Ding. Ich hasse Wiederholungen." Was hat es sie genervt, als sie mit der Idee einen Foodstilwerks gegen Wände lief. Klar wie eine Vision stand die Idee vor ihren Augen: Ein Tempel für gutes Essen aller Art, unterschiedliche Anbieter stilvoll vereint unter einem Dach. Slow Food und Spezialitätenmärkte, ferne Küche und Hausmannskost, erstklassige Küchenläden, ein Kindersupermarkt vielleicht und Kochkurse für Genießer. "Doch für so etwas haben wir in Deutschland keine Kultur. Luxus wird hier platt gemacht." Bramigk seufzt ein bisschen. "Und dann dreht man bei so einem Projekt an Rädern, die sind so unendlich langsam, dass einem die Luft wegbleibt."

Entdeckerlust als Geschäftskonzept.


Warum es nicht selbst angehen? Warum nicht den Blick fürs Ganze, die Lust auf Neues, Schönes, Ungewöhnliches zum Geschäftsmodell machen? Es liest sich wie eine Gründerstory aus besten New Economy-Zeiten. 2001 auf Ibiza. Damals, mit Freunden bei einem Glas guten Weines, kam Bramigk auf die Idee: Ich gründe einen Online-Reiseführer für Kreative. Für Menschen, die im Beruf stehen, Medienleute und Modemacher, Photographen oder Agenturmenschen, die viel unterwegs sind, wenig Zeit haben, schnell und punktgenau die entscheidenden Tipps für den 2-Tagetrip nach London, Paris oder Madrid wollen, individuell online zusammengestellt. "Solche Leute haben keine Lust, drei Tage ziellos durch eine Stadt zu trudeln. Sie wollen konkret wissen: Wo sind die besten, originellsten Restaurants, Cafés, Clubs oder Shops beispielsweise - so dass ich mich in der fremden Stadt bewegen kann, als wäre ich zu Hause." Ein Reiseführer für Menschen, die "ein bisschen stylische" Orte mit Seele suchen, Stätten, an denen etwas geschieht, wo sich Neues tut und Wandel sichtbar wird. Seien es Orte mit Tradition und Patina, die im Gestern und Heute verwurzelt sind. Seien es Orte, die so modern und innovativ sind, dass sie zur Avantgarde gehören.

Kaleidoskop innovativer Ideen.


Und was sich da in den Städten Europas alles tut. In Zürich werden Schwimmbäder zu Lounges umgebaut, in Mailand gibt es Pizzataschen aus der Fritteuse, in Amsterdam dinieren die Gäste liegend auf weißen Designersofas. Bramigks Online-Guide "Smart Travelling" ist ein Kaleidoskop innovativer Ideen. Alle paar Wochen macht sich die Designerin auf nach Barcelona und Marseille, Nizza, London, Paris oder Zürich. Sie genießt es, endlich wieder auf der Suche zu sein, unabhängig und intensiv. "Es ist unheimlich spannend, Europa im Ganzen zu sehen. Du kommst aus einer Stadt heraus und hast das Gefühl, du hast das Wesentliche mitgenommen." 27 Euro kostet das Jahresabo bei Smart Travelling, bei weitem nicht genug, um davon leben zu können. Muss Bramigk auch nicht, schließlich hat sie immer noch ihre Modekollektion.

Deutschland steckt fest.


Längst steckt sie wieder voller neuer Ideen. Demnächst soll Smart Travelling als Buch herauskommen. Ein zweiter Laden für ihre Kollektion und das Reiseführerprojekt öffnet im September in Berlin-Mitte. Nebenher entwirft sie europataugliches Design im Auftrag indischer Hersteller und reist mal nach Fernost. Und eigentlich möchte sie bald in die Projektberatung gehen. Als Design- und Innovationsberaterin für Leute, die ein Hotel aufmachen wollen oder ein Wirtshaus. Mittlerweile hat Bramigk so viel gesehen in den Städten der Welt, hat so vielen unterschiedlichen Projekten einen Schubs gegeben, dass sie selbstbewusst von sich sagt: "Ich kann bis zum i-Tüpfelchen sagen, was jemand tun muss, um da eine Kneipe aufzumachen, die funktioniert, dort ein Restaurant, das läuft, oder hier einen Designshop, der geht."
Es gebe so viele tolle neue Möglichkeiten, warum nur setzt sie niemand um in diesem Land? Wieso gibt es in Deutschland nicht ein einziges Geschäft, das fertiges Essen auf hohem Niveau bietet? Warum backt niemand Satébrötchen, statt immergleiche Minipizzen auf den Markt zu schleudern? Wo sind die neuen Dienstleister, die auf eigene Initiative selbst gebackene Küchlein für die Kaffeetafel anbieten? Wo sind die Angebote zwischen Prada und H&M? Nicola Bramigk streicht ihr beiges Hemd glatt und nippt noch einmal am Milchkaffee. "In Deutschland regiert das Mittelmaß, es gibt überall nur Standardprodukte." Es fehle an Eigeninitiative und Investoren, die Banken schauten nur auf Zahlen, nicht auf Ideen, der Verbraucher pflege die Sparkultur, die Mentalität dümple mutlos vor sich hin. Fazit: "Deutschland steckt fest."
Die Sonne senkt sich über den dichten Rasen hinter der Villa in Berlin-Zehlendorf. Der Wind weht das weiche Rauschen der Baumwipfel herüber. Nicola Bramigk kramt die Skizzen auf dem Tisch wieder hervor, ihre braunen Locken wuscheln in die Stirn. Dieser schreckliche Termindruck. "Ich könnte sofort noch zehn andere Projekte machen." Ihre Augen leuchten. Seufz. Leider hat der Tag nur 24 Stunden. Wie schade.

www.smart-travelling.net

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Anja Dilk ist Redakteurin bei changeX.

Mit einer Illustration von Limo Lechner.

© changeX [21.08.2003] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Anja Dilk
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Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.

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