Innovate - don't imitate!
Innovationen sind enger mit gesellschaftlichen Entwicklungen und Bedingungen verknüpft, als viele denken.
Politik heute, das heißt Stau, Blockade, Stillstand. Um auf dem Weg in die Zukunft wieder an Fahrt zu gewinnen, bleibt uns nichts anderes übrig, als radikal auf Innovationen zu setzen.
Die Bundesrepublik Deutschland steht, so scheint es, kurz vor dem Absturz in die zweite Liga. Fast unisono wird dem politischen System Handlungsunfähigkeit attestiert. Immer und immer wieder kommt es zu Reformblockaden und -staus. Die Liste der Verfehlungen und des Scheiterns ist schier endlos: Massenarbeitslosigkeit, PISA-Schock, Rentenkrise, Einwanderungsgesetz, Subventionsabbau, Staatsverschuldung, Städte- und Gemeindefinanzierung, Gesundheitsreform, Bürokratieabbau.
Gestaltungsvakuum.
Auf allen zentralen politischen
Handlungsfeldern wie Arbeit, Bildung, Forschung, Renten,
Gesundheit und Soziales zeigen sich eklatant die Grenzen
bisheriger Problembewältigung. Die Zeit für kleine Korrekturen am
ansonsten intakten Gefüge scheint vorbei zu sein. Das "Modell
Deutschland" ist ins Stocken geraten. Selbst auf dem sicher
geglaubten Terrain der sozialen Marktwirtschaft, der
Sozialpartnerschaft und des Interessenausgleichs zwischen den
zentralen Akteuren verliert der gesellschaftliche Grundkonsens
seine erprobte Bindungskraft. Die Gesellschaft scheint zwischen
den Interessen starker Akteursgruppen zerrieben zu werden.
Grundlegende Strukturreformen und ein neuer Gesellschaftsvertrag,
seit langem in den politischen Arenen gefordert, scheinen gerade
jetzt eine reale Chance auf Durchsetzbarkeit zu haben.
Die Zeit scheint reif. Nur für was? Bei aller
Übereinstimmung in der Diagnose des Versagens von Politik, fehlt
es auf der anderen Seite an einer starken politischen Leitidee,
einem klaren Orientierungsfaden, an einer Vision für eine
zeitgemäße Politik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Es
herrscht offensichtlich so etwas wie ein Gestaltungsvakuum.
Solche Zeiten des Übergangs kennen den immer wiederkehrenden Ruf
nach einfachen Lösungen und dem starken Mann. Andererseits
eröffnen sie ein Zeitfenster für radikale, also grundlegende
Erneuerungsprozesse. Beiden Varianten haftet der Makel an, dass
die Komplexität der Herausforderungen simplen Lösungen noch
widersteht, der starke Mann durch die politische Verfassung
gebändigt wird und keine politischen Akteure existieren, die für
eine radikale Umgestaltung und Erneuerung stehen.
Auf der anderen Seite erleben wir die vitale
Gestaltungskraft der Innovation: Die Gesellschaft orientiert ihre
Evolution an der Dynamik des wissenschaftlich-technischen
Fortschritts und einer auf das Engste damit verflochtenen
Weltwirtschaft. Das Internet hat neue Realitäten geschaffen, ohne
dass es Ausdruck eines geplanten Aktes gewesen wäre. Trotzdem
transformiert es ökonomische Transaktionsprozesse und das
soziokulturelle Gefüge heftig und nachhaltig. Damit geraten die
tradierten gesellschaftlichen Institutionen unter erheblichen
Anpassungsdruck. Technologieentwicklungen bestimmen die Agenda
politischer Diskurse - von der Frage des geistigen Eigentums bis
hin zur Debatte über die genetische Veränderung des Lebendigen -
und fordern politische Regulierungen und Handlungen.
Innovation neu begreifen.
Es gab schon immer die Notwendigkeit, sich auf gesellschaftlicher Ebene über den richtigen Umgang mit dem Neuen auseinander zu setzen. Innovationen erwecken den Anschein von Wertfreiheit oder klingen zumindest positiv, scheinen grundsätzlich gestaltungsoffen zu sein. Doch erfolgreiche Innovationen benötigen einen gesamtgesellschaftlichen Widerhall, eine Kultur der Veränderung und eine Permanenz des Wandels, die bislang keine politisch-rechtliche und soziale Entsprechung gefunden hat. Innovationen - zumal solche großer Reichweite, die den Aufbau umfassender Infrastrukturen erfordern, wie zum Beispiel das Internet oder der sich abzeichnende Übergang in die Wasserstoffwirtschaft - benötigen für ihren Erfolg unterstützende soziale, politisch-rechtliche und kulturelle Umfeldbedingungen. Vorbereitet auf einen solchen umfassenden Gestaltungsansatz ist das politisch-administrative System ebenso wenig wie die Unternehmen. Die Handlungsweisen der Akteure sind zu kurzfristig ausgelegt, sie schwanken zwischen dem Denken in Legislaturperioden oder in Bilanzjahren, sie reagieren, statt zu agieren. Dies reicht allerdings nicht aus, um sich entfaltende Gestaltungsspielräume zu erkennen und aktiv zu nutzen.
Innovationen und Unternehmen.
Innovationen und Strategien zu
ihrer Umsetzung werden in den Unternehmen erdacht, doch es sind
nach wie vor maßgeblich Ingenieursphantasien, die unsere Zukunft
aus der Perspektive des technisch Machbaren entlang von Roadmaps
beschreiben. Die Erkenntnis, dass technologische Durchbrüche
soziale und organisatorische Ergänzung benötigen, dass sie,
wollen sie erfolgreich sein, eingebettet werden müssen in
gesellschaftliche Kontexte, setzt sich erst zaghaft durch. Trotz
gut 30-jähriger Erfahrungen mit Einführungsstrategien in einem
veränderten und sensibilisierten Umfeld dominiert eine technisch
getriebene Sichtweise in den Köpfen der Entwickler und Strategen.
Der Kunde wird gebetsmühlenartig immer wieder im zeitlichen
Wellenverlauf ins Zentrum gerückt oder auf das Podest erhoben.
Kundenorientierung gilt als eine der Quellen für mehr Geschäft
und mehr Umsatz. Schaut man genauer hin, tun sich die Unternehmen
und ihre Entwickler jedoch traditionell schwer mit dem imaginären
Kunden. Es scheint fast so, als herrschte trotz elaborierter
Wissensmanagementsysteme eine schier unglaubliche
Wissensvernichtung in den Unternehmen. So fängt man beim
Nachdenken über Kundenorientierung zur Gestaltung neuer
Technologien regelmäßig fast bei null an, als hätte es nie
öffentlich geführte Diskurse und Erfahrungen um die
ISDN-Einführung, die Risikodiskussionen nach den Chemieunfällen
wie bei Sandoz oder die Genfood-Debatte gegeben. Als hätte es
keine Auseinandersetzungen um die Einführung von
Großtechnologien, keine Implementierung, wenn auch spät, von
Technikfolgenforschung und keine verbraucherkritische Reaktionen
auf schädliche Stoffe in Waren gegeben.
Innovationen werden in der Industrie aber wieder
verzweifelt gesucht. Sie waren zu jeder Zeit wichtig als Garanten
der permanenten Erneuerung von Wertschöpfungsketten. Doch der
Industrie fehlt heute eine dem Internet vergleichbare
Leitinnovation, um die herum neue Produkte und
Dienstleistungswelten geschaffen werden können. Die
TIMES-Industrien (Telekommunikation, Informationstechnologien,
Multimedia, Entertainment und Security) sind deshalb nicht ohne
Not dabei, den Kunden neu für sich zu entdecken. Sie beginnen zu
erkennen, dass ihr technisch perfektes Universum, wie es in den
Leitvisionen des
Evernet oder der
Ambient Intelligence zum Ausdruck kommt, ohne eine
Einbindung von Kundenbedürfnissen und Nutzerinteressen sowie
einen damit tief greifenden sozialen und kulturellen Wandel im
Ansatz stecken bleiben wird. So ist es nicht verwunderlich, dass
die Unternehmen der TIMES-Branchen verstärkt nach Wegen und Tools
suchen, um etwa zukünftige Kundenbedürfnisse und neue
gesellschaftliche Bedarfsfelder in Planungs- und
Entwicklungsprozesse zu integrieren. Darüber hinaus beginnt auch
die Automobilbranche Fragen nach den Wünschen der zukünftigen
Kunden zu stellen. Unternehmensstrategen werden so unfreiwillig
zu Sozialarchitekten.
Innovation braucht Kontexte.
Innovationen entziehen sich immer
deutlicher dem Korsett einer technisch verkürzten Sichtweise und
einem eng verstandenen unternehmerischen Kontext. Innovationen
benötigen Gesellschaft und Gesellschaft benötigt Innovationen.
Flackert noch ein ermatteter Reformbegriff durch die politischen
Kommentare, so sucht und sehnt sich die saturierte deutsche
Gesellschaft nach einem grundlegenden Befreiungsschlag, dem schon
so oft geforderten Ruck, oder präziser formuliert, nach einer
planmäßigen und zielgerichteten Erneuerung der bestehenden
sozialen Systeme. Also weg vom puren Umgestalten (
reformare) hin zum aktiven Neugestalten (
novare). Die Reformdebatte kann sich zu einer
Innovationsdebatte wenden.
Das Gelingen oder Managen von Innovationen ist längst zu
einem Gestaltungsmerkmal von hoch entwickelten Ökonomien
geworden. Eine institutionelle Entsprechung oder Würdigung hat
dieser Sachverhalt kaum erfahren. Innovationen, diese Einsicht
setzt sich vermehrt in den Köpfen der handelnden Akteure durch,
benötigen nicht nur ein ausgeklügeltes Innovationssystem, eine
hervorragend ausgebaute wissenschaftlich-technische
Infrastruktur. Sie erfordern daneben ein feines und sensibles
Mikroklima, eine entfaltungsoffene Kultur, ein Set
anpassungsfähiger politisch-administrativer Rahmenbedingungen und
veränderungswillige und -fähige Denk-, aber vor allem auch
Handlungsstrukturen. Die provokative Schumpeter'sche Formel von
der schöpferischen Zerstörung bringt es auf den Punkt. Es geht um
permanente Veränderungen, kontinuierliche Anpassungsprozesse, um
den ständigen Abschied von lieb gewordenen Erfolgen und
Gewissheiten. Das Leitbild der mobilen Gesellschaft schimmert
hier durch. Es geht um geistige, physische, strukturelle
Mobilität als Basismodus moderner Gesellschaften. Zugespitzt kann
man sagen: Die Logik der Innovation kann zum Strukturprinzip
unseres sozialen Gefüges und Innovationskompetenz (Kreativität)
zum soziokulturellen Leitbild generieren. Die "Creative Class"
(Richard Florida) wird zum Leistungsträger des Zeitalters von
Wissen und Innovation.
Eine Frage der Kultur.
Werden in Zukunft nur innovative
Gesellschaften überleben? Diese pointierte Fragestellung
erscheint durchaus Berechtigung für sich beanspruchen zu können.
Die Fähigkeit hoch entwickelter Industriegesellschaften, auf
veränderte technische, soziale und kulturelle Herausforderungen
angemessen und rechtzeitig zu reagieren, wird zu einer zentralen
Frage der politischen und wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit.
Damit soll nicht eine bedingungs- und kritiklose
Anpassungsleistung zum politischen Programm erhoben werden. Aber
ein politisch-administratives System, das sich an dem Leitbild
einer innovativen Gesellschaft orientiert, könnte das
konstatierte Gestaltungsvakuum positiv füllen. Damit einhergehen
würde keine wertfreie Gleichschaltung gesellschaftlicher
Entwicklungspotenziale. Die Gesellschaft würde nicht aus ihrer
Verantwortung entlassen, sich über die Auswahl förderungswürdiger
Innovationen zu verständigen. Aber es ist notwendig, auf allen
gesellschaftlichen Ebenen so etwas wie eine Kultur der
Veränderung zu etablieren. Dazu würden geschützte und offene
Räume zur Entfaltung von Kreativität gebraucht. Aber auch
innovative Orte des Lernens und die Förderung kreativer Milieus.
Dazu gehört eine noch zu entwickelnde Kultur des Scheiterns,
damit die Gesellschaft und Unternehmen in der Lage sind, aus
Misserfolgen zu lernen und fehlerfreundliche Strukturen zu
etablieren. Weiterhin der gezielte Einsatz von Ressourcen, ein
reibungsloser Transfer aus der Welt der Ideen in die reale Welt,
eine kontinuierliche und flexible Anpassungs- und
Veränderungsleistung der politisch-administrativen, ökonomischen,
sozialen und kulturellen Organisationsformen und eine
zielgerichtete Neujustierung überholter Interessenpolitik.
Es geht also darum, Innovationen in die Gesellschaft zu
übersetzen, sie von ihrem noch stark technikbehafteten Kontext zu
befreien und als zentrale Triebkraft, Seismograph und Sensor für
anstehende gesamtgesellschaftliche Veränderungsprozesse zu
nutzen. So gesehen würde ihr Leitbildcharakter notwendige
Wandlungsprozesse verdeutlichen und das Gelingen bzw. Misslingen
von Veränderungen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe aufzeigen.
Wenn diese pointierte Zuspitzung richtig ist, dann stellen
sich eine ganze Reihe grundlegender Fragen: Wie muss ein neuer
erweiterter, aus seinem technischen Korsett befreiter
Innovationsbegriff beschaffen sein, der den Notwendigkeiten der
Ökonomie und dem Veränderungsbedarf der Gesellschaft
gleichermaßen Rechnung trägt? Welche Innovationen will die
Gesellschaft? Wer entscheidet darüber und wie? Müssen die
klassischen Steuerungsmedien, wie Recht, Macht und Geld um die
Kategorien Kommunikation, Wissen und Zukunftsfähigkeit ergänzt
werden? In welchem Verhältnis stehen Kontinuität und Wandel? Was
kann innovative Gesellschaften auf Dauer zusammenhalten? Was kann
sie auseinander reißen? Gibt es eine ernst zu nehmende
Alternative zu einer solchen umfassenden Innovationsorientierung?
Wer sind die Gewinner bzw. die Verlierer einer solchen
Ausrichtung?
Die Handlungsfelder liegen offen.
Zu einer innovationsfähigen
Gesellschaft gibt es keine sinnvolle Alternative. Der Versuch,
die Notwendigkeiten, Chancen und Anforderungen einer solchen
Gesellschaft kurz zu skizzieren zeigt, dass Deutschland ebenso
wie anderen Industrienationen einerseits noch meilenweit davon
entfernt ist, aber andererseits längst auf dem Weg dorthin. Das
Plädoyer für die Entfaltung einer zu entwickelnden Kultur des
Wandels und der Veränderung zielt darauf, den Stellenwert von
Innovationen anzuerkennen.
Innovationen sind ein Synonym für eine Gesellschaft im
Wandel. Wir sollten uns verabschieden vom permanenten Gerede über
Strukturkrisen, als wären sie die Ausnahmen, denn sie sind die
Regel. Wir sollten durch eine klare Ausrichtung an
Veränderungsprozessen frühzeitig Handlungsbedarf identifizieren
und gesellschaftliche Strukturen fit machen für die Zukunft. Die
Menschen spüren bereits jetzt, was Krisen bedeuten. Das
Versprechen einer Innovationskultur lautet: Wir, die
Gesellschaft, nutzen aktiv vorhandene Gestaltungsspielräume und
lassen uns bewusst auf Pfade in die Zukunft ein. Innovationen
erfordern ein neues Zusammenspiel zwischen Erfindung und
Anwendung, zwischen technischer Lösung und sozialer Aneignung,
zwischen Unternehmen und Gesellschaft. Der aktuelle politische
Handlungsdruck eröffnet Gestaltungsspielräume. Bislang fehlen
noch die Einsicht und die Akteure für eine an langfristigen
Innovationserfordernissen ausgerichtete Kultur der Veränderung.
Die Handlungsfelder und -chancen liegen dagegen weit ausgebreitet
vor uns.
Klaus Burmeister, Politologe, und Andreas Neef, Informationswissenschaftler, sind Geschäftsführer von Z_ punkt GmbH Büro für Zukunftsgestaltung, Essen, Berlin und Karlsruhe. Beide beschäftigen sich seit Jahren intensiv mit Innovationen in und für Unternehmen und Gesellschaft.
Dieser Beitrag ist soeben
erschienen in
Politische Ökologie - Nr. 84, Innovationen - Neugier und
Nachhaltigkeit.
http://www.oekom.de/verlag/german/periodika/poe/index.htm
© changeX Partnerforum [28.07.2003] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
changeX 28.07.2003. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
Artikeltags
Z_punkt GmbH The Foresight Company
Weitere Artikel dieses Partners
Web 2.0 - Zeit für eine nüchterne Diagnose. | Folge 2 | zum Report
Web 2.0 - Zeit für eine nüchterne Diagnose.| Folge 1 | zum Report
Autor
Klaus BurmeisterKlaus Burmeister ist Gründer und Managing Partner von Z_punkt The Foresight Company.
Autor
Andreas NeefAndreas Neef ist Managing Partner von Z_punkt.