Hautnah am Kunden

Der befreite Vertrieb, das neue Buch von Karl Pinczolits.

Von Nina Hesse

Schlank und stromlinienförmig sind die Unternehmen heute, getrimmt auf Effizienz und Qualität. Aber sind sie wirklich kundennah? Fehlanzeige. Denn die Verkäufer sind oft zu selten beim Kunden, können sich nicht auf ihre eigentliche Stärke, das Verkaufen, konzentrieren. Pinczolits schlägt ein kühnes neues Organisationsmodell vor, das auf maximalen Kundenkontakt setzt.

Was machen Verkäufer eigentlich den ganzen Tag? Verkaufen, denkt der Laie. Stimmt nicht. Jedenfalls in vielen Organisationen. Bürokram und Marketingaufgaben halten ihn vom Kunden fern. Durchschnittlich verbringt ein Verkäufer nur noch 14 Prozent seiner Nettoarbeitszeit beim Kunden. Für Karl Pinczolits, der an der Fachhochschule Wiener Neustadt den Fachbereich Marktkommunikation und Vertrieb leitet, ein Unding. Anschaulich und engagiert tritt für einen befreiten Vertrieb ein - befreit von verkrusteten Strukturen, von bürokratischen Handlungen, von überflüssiger Technologie ... kurz, von allem, was einen Verkäufer von seinem eigentlichen Daseinszweck abhält. Eigentlich wäre das dringend nötig: In den letzten 20 Jahren hat sich, so die Diagnose des Professors, eigentlich nichts getan im Vertrieb. Der Wandel ist an den Verkäufern fast komplett vorbeigegangen, sie arbeiten noch mit den gleichen Werkzeugen wie eh und je, in den gleichen "Palaststrukturen" wie gehabt. Nur, dass sie mehr arbeiten müssen und weniger verdienen. Und das Management hat ihren Job nicht gerade leichter gemacht, so Pinczolits: "Ein Gedankenfehler ist aufgetreten: Das Unternehmen besteht nicht nur aus Kosten- und Qualitätsmanagement - schließlich bezahlt der Kunde die Rechnung!" Schlank sind sie inzwischen, die Unternehmen. Aber sind sie auch kundenorientiert? Wenn nicht, dann sollten sie sich schleunigst auf die neuen Zeiten einstellen. Denn die turbulenten Märkte von heute, die nach dem Motto anytime, anywhere funktionieren, fordern einen viel dynamischeren Vertrieb, als er zur Zeit üblich ist. Pinczolits' Argument: "Die neuen Netzwerkunternehmen benötigen den intensiveren Kontakt zum Kunden. Nur dann können sie in Echtzeit funktionieren."

Kein Büro und keine festen Kunden mehr.


Pinczolits' Vision ist kühn, Tabus gibt es für ihn nicht. Wenn es nach ihm ginge, wäre der Vertriebler den ganzen Tag beim Kunden, am Markt. Hautnah sozusagen. Ein anderes Büro hat er nicht, das eigene Firmengebäude betritt er seltenst. Für ihn gibt es keine feste Routen- und Besuchsplanung mehr. Es gilt die Kundeneinteilung nach Chance: Niemand hat Anspruch auf ein eigenes Gebiet oder auf Kundenschutz - wer gerade in der Nähe ist, nimmt den Termin wahr. Es gibt auch keine Organigramme mehr, sondern Rankings. Ziele werden für jeden Tag neu gesteckt. Betreut wird der Verkäufer von einem internen Coach, der ihm alle Verwaltungsarbeiten abnimmt. Auf diese Weise sind, so der Autor, wesentlich mehr Kundenkontakte bei gleichen oder sinkenden Kosten möglich. Dieses Prinzip, das er "Zeltorganisation" nennt, kann, so meint er, in allen Branchen eingesetzt werden.
Ein Prinzip, das an fahrende Händler erinnert, und - wenn man polemisch sein will - an Drückerkolonnen. Natürlich hat Pinczolits diese Kritik vorhergesehen, er schmettert sie in wenigen Sätzen ab: Neue Zeiten, neue Technologien, veränderte Voraussetzungen müssen auch bestehende Vorurteile verändern. Kundennähe ist gefragt - seine Zeltorganisation kann sie bieten! Was will man mehr? Zudem verlangt er ja gar nicht, dass sich das ganze Unternehmen schlagartig nach diesen Ideen umkrempelt. Es reicht, wenn es in kleinen Schritten geschieht.

Der Vertrieb als Maß aller Dinge?


Ein Konzept, das sicher Furore machen wird, aber auch interessante neue Denkanstöße bietet. Es setzt voraus, dass der Vertrieb im Unternehmen einen anderen Stellenwert bekommt. Und hier riechen Pinczolits Ideen schon leicht nach Wunschtraum: "Der Vertrieb ist das neue Maß aller Dinge im Unternehmen", malt er sich aus. In Zukunft soll die Organisation auf einem neuen Rollenverständnis beruhen. Wer den größten Wertbeitrag leistet, steht in der Hierarchie am höchsten und bekommt am meisten Ressourcen. Oben steht, so schlägt Pinczolits keck vor, der Verkäufer, unter ihm die Vertriebsleitung und Marketing. Ganz unten ist die Einsatzlenkung angesiedelt.
Das klingt ein wenig nach Tunnelblick; naturgemäß nimmt man das eigene Gebiet, die eigene Abteilung am wichtigsten, will sie gewürdigt sehen. Aber welchen Stellenwert bekommen zum Beispiel Entwickler? Verkaufen kann man nur Produkte, die irgendwann einmal in mühevoller Arbeit erdacht und entwickelt worden sind. Auch dass Pinczolits das Prinzip des "one face to the customer" demontieren will, stimmt bedenklich. Denn treue Kunden zieht man zwar auch durch schnelle und gute Betreuung heran - aber eben auch durch die persönliche Bindung, durch Beziehungen. Noch ist der Mensch nicht völlig austauschbar in der 24/7-Internetwirtschaft. Und Vertrauen ist bekanntlich gerade in der Wissens- und Informationsgesellschaft das wichtigste Kapital.

Karl Pinczolits:
Der befreite Vertrieb.
Mit einer Zeltorganisation
individuelle Wege zum Kunden finden,

Campus Verlag, Frankfurt/New York 2003,
214 Seiten, 39,90 Euro,
ISBN 3-593-37196-0
www.campus.de

Nina Hesse ist freie Mitarbeiterin von changeX.

© changeX Partnerforum [03.06.2003] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.


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: Der befreite Vertrieb. . Mit einer Zeltorganisation individuelle Wege zum Kunden finden.. Campus Verlag, Frankfurt/New York 1900, 214 Seiten, ISBN 3-593-37196-0

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