Der kalte Frieden
Selbst nach dem Ende der "Troubles" in Nordirland kostet es Kraft, den Frieden zu erhalten.
Eine traurige Armee von Arbeits- und oft Wohnungslosen, verarmt und traumatisiert - viele ehemalige Terroristen haben den Übergang in den Frieden nicht geschafft. Joe Doherty und Peter McGuire sind rechtzeitig ausgestiegen und engagieren sich heute in der Jugendarbeit. Denn viele Jugendliche auf beiden Seiten sind gefährdet, in die Szene der Paramilitärs abzudriften. Oft aus Hoffnungslosigkeit oder Langeweile.
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Joe schmeißt heute Abend den Jugendclub von New Lodge, einem katholischen Viertel von Belfast. Gelassen erträgt er einen Trubel, wie ihn nur Teenager entfachen können. Das Gebrüll aus der Turnhalle, wo die Jungs kicken. Das Disco-Dröhnen im Foyer, wo die Mädchen abhängen. Mittendrin der 47-Jährige, gelassen, aber auch ein wenig befremdet. Dauerklingelnde Handys, grünliche Tütenchips als Abendessen, gelgepolsterte Turnschuhe - exotische Dinge haben die Straßen von New Lodge erobert während all der Jahre, die Joe im Gefängnis gesessen hat. Eine weitere neue Merkwürdigkeit ist der Frieden. Damit hat Joe keine Erfahrung. Er kennt den Kampf und den Knast. Aber Frieden? Daran muss er sich erst noch gewöhnen.
Er war so alt wie die Kids im Jugendclub, da spionierte er bereits für die Irisch-Republikanische Armee. Den IRA-Leuten meldete er Bewegungen der britischen Soldaten, der verhassten Besatzer. Tränengasschwaden schickten sie in seine Straße, mitten in der Nacht drangen sie ins Haus ein und schlugen seine Eltern. Joe war stolz, dass mit seinen Informationen Attentate vorbereitet wurden. "Wir glaubten, wir könnten auf diese Weise die Briten vertreiben." Mit 17 wurde er Soldat. Sagte er. Terrorist, sagten die Briten. Als ihn wenig später eine Polizeipatrouille mit Sprengstoff im Wagen erwischte, wurde Joe zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe kam er frei: ein Mittzwanziger, randvoll von Rachegefühlen, eine lebende Bombe. Er begann, den ersten Mordanschlag zu planen.
Vom Untergrundkämpfer zum Sozialarbeiter.
20 Jahre später ringt Joseph
Doherty um den richtigen Kurs. Eine Transitexistenz, irgendwo auf
dem Weg vom alten Nordirland ins neue, vom Untergrundkämpfer zum
Sozialarbeiter. Ein Weg, den auf protestantischer Seite auch
Peter McGuire gegangen ist. Auch er sagte sich vom Terror los und
engagiert sich heute in der Jugendarbeit. Zwei Biografien, deren
Verwerfungen den Wandel widerspiegeln, den das ganze Land
durchmacht. Zu den wenigen Verlässlichkeiten der nordirischen
Gesellschaft zählt die andauernde Zerreißprobe. Zwar haben IRA,
britische Armee und die protestantischen Paramilitärs dem Frieden
zugestimmt, der am Karfreitag vor fünf Jahren geschlossen wurde.
Doch das Abkommen droht immer wieder zu scheitern.
Für sozialen Sprengstoff sorgt, dass die Friedensdividende
ungleich ausgezahlt wird. Während die Mittelklasse profitiert,
verdichtet sich in der breiten Unterschicht das Gefühl, das
Abkommen habe nichts gebracht. Wie in vielen Konflikten, die sich
hinziehen, im Falle Irlands sogar über Jahrhunderte, fühlen sich
alle nur als Opfer. In den 35 Jahren der "Troubles" wurden fast
4.000 Menschen getötet. Fast jede Familie hat Verluste zu
beklagen. Täter? Die jeweils anderen! Insofern hat das
Karfreitagsabkommen einen kalten Frieden gestiftet. Er steht auf
dem Papier, es gibt keine Alternative zu ihm, aber in den Köpfen
und Herzen der Nordiren ist er noch nicht angekommen.
Ein Held?
"Hey Joe", betteln die Kids im
Jugendclub, "erzähl uns vom Krieg!" Heldentaten wollen sie hören.
Der Joe hat mal einen von den Feinden umgelegt. Er hat für die
Freiheit gekämpft. Ist in den Knast gewandert. Von dort
ausgebrochen. In die USA geflohen. Wieder eingefangen worden. An
der New Lodge Road haben sie ihn dreifach lebensgroß auf die
Brandmauer gemalt. Der ist ein "cooler Freak", was übersetzt so
viel bedeutet wie: Held.
"Glaubt bloß nicht diesen Quatsch", wehrt Joe ab. Ein
trauriger Krieg sei das gewesen, ein dreckiger. Seine Gedanken
kreisen immer wieder um jenen Toten, der Joes Leben verändert
hat. Er hieß Richard Westmacott, war ein in Belfast stationierter
britischer Elite-Soldat und auf IRA-Leute angesetzt - mit der
Lizenz zum Töten. Am 5. Mai 1980 wurde der Captain, gerade 28
Jahre alt, selbst erschossen. Auf der Straße, ganz in der Nähe
des heutigen Jugendclubs. Einer der Schützen war Joe Doherty.
Es wurde nie geklärt, welcher der drei Attentäter die Kugel
abfeuerte, die Westmacotts Stirn durchschlug. "Wir waren alle
verantwortlich", sagt Joe. Ob er Reue empfinde? "Es tut mir leid
um jeden, der sterben musste. Doch dieser Mann hatte ein Gewehr
bekommen und wurde nach Nordirland geschickt, um gegen uns zu
kämpfen. Ich bin nicht in diesen Krieg gezogen, der Krieg kam zu
mir."
Aufstand aus Langeweile.
Joseph Doherty spürt bleischwer die
Füße, den Rücken, den Kopf. Ein langer Tag, mal wieder. Am
Vormittag Sozialberatung im Büro. Nachmittags Flugblätter
verteilen im Viertel, ein Tribunal gegen die britische Armee,
bitte zahlreich kommen. Und abends in den Youthclub. Die
Überstunden bekommt er nicht bezahlt. "Wisst ihr, wovon ich
träumte, als ich so alt war wie ihr?" Jetzt sind die Kids aber
mal gespannt. "Klempner wollte ich werden. Flanschen und
schrauben und schweißen, das hat mir Spaß gemacht. Klempner, ja,
das wär's gewesen." Die Teenies nicken. Ein Handwerk zu lernen,
das taugt in New Lodge immer noch zum Traum.
Die Jugendlichen, die heute in den armen katholischen
Stadtvierteln von Belfast aufwachsen, haben von der Zukunft wenig
zu erwarten. Die meisten verlassen die Schule ohne Qualifikation.
Lehrstellen sind rar, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Im Sommer,
wenn die Schule geschlossen und auch sonst nichts los ist, führen
die Kids von New Lodge weiter Krieg. Es geht gegen die
Protestanten im benachbarten Wohnviertel. Am Interface, der
Nahtstelle zwischen den Territorien, versammelt man sich zu
Prügeleien. Dann fliegen Steine. Manchmal Brandsätze.
"Recreational Rioting" nennt Joe Doherty das, ein Aufstand aus
Langeweile, gegen die Langeweile. Er weiß aus Erfahrung, wie
leicht Schießereien daraus werden können. "Die Jugendlichen auf
beiden Seiten sind gefährdet, in die Szene der Paramilitärs
abzudriften." Das will er verhindern helfen. Dafür schiebt er die
Überstunden.
"Kämpfen führt in die Sackgasse"
"Als ich im Gefängnis saß,
schrieben meine Eltern, dass viele Kids an Straßenecken
herumlungern, Drogen nehmen und Ärger machen. Da wusste ich, was
ich machen will, wenn ich rauskomme." 1999, ein Jahr nach dem
Karfreitagsabkommen, kam er frei. Die IRA hatte sich inzwischen
vom Terror losgesagt, die Führung setzte auf friedliche
Veränderungen über ihren politischen Arm, die Sinn Fein Partei.
"Unser Ziel war immer gewesen, dass Katholiken in Nordirland eine
faire Chance bekommen", sagt Joe. Nun gebe die Arbeit mit den
Jugendlichen dem bewaffneten Kampf nachträglich einen Sinn. Ganz
auf Parteilinie, will er seine Kids aus der Gewaltspirale lösen.
Nicht durch fromme Reden, sondern durch handfeste Hilfen:
Computerkurse, Irish Dance, zum Schwimmen mal raus aus dem
Viertel, Bewerbungstraining, Fußball mit den Jungs. Er holt sie
von der Straße. Und damit raus aus dem Dunstkreis der
Untergrundgruppen.
Die locken mit all dem, was Jugendlichen abenteuerlich,
auf legalem Weg aber unerreichbar scheint: viel Geld, freie
Zeiteinteilung, willige Girls und die Macht, die ein Gewehr
verleiht. Verglichen mit Arbeitslosigkeit klingt die
Stellenbeschreibung eines Paramilitärs äußerst attraktiv. Da wäre
zwar das hohe Berufsrisiko, aber dafür geht es um eine große
Idee: Sterben für Irland oder für die britische Union, da kann
jeder nach seiner Konfession selig werden.
Einer der
Jungen schimpft: "Du hast selbst gekämpft, Joe, nun willst du uns
verbieten, Protestanten zu vermöbeln." Joes stärkstes Argument
ist die eigene Biographie. Wenn er ihnen sagt, "Kämpfen führt in
die Sackgasse", dann spricht einer, der sich mit Sackgassen
auskennt. Die Hoffnung, die britische Armee mit Terror zu
vertreiben, war eine. Jedes Grab seiner Kombattanten war eine.
Seine Gefängniszelle war eine. In Nordirland leben rund 100.000
Ex-Häftlinge aus der Zeit der "Troubles". Eine traurige Armee von
Arbeits- und oft Wohnungslosen, verarmt und traumatisiert, die
den wackeligen Frieden zusätzlich belasten. Dass Joe mit der
Jugendarbeit auch für sich selbst aus der Sackgasse gefunden hat,
verleiht ihm hohes Ansehen.
Zwei parallele Lebenslinien.
Ein Terrorist als Friedensengel?
Solche glatten Vom-Saulus-zum-Paulus-Geschichten sucht man in
Nordirland vergeblich. Joes Kontakt zur IRA ist noch warm, der
Frieden noch kaltes Kalkül. Den Kids schärft er zwar ein, "die
anderen", die Protestanten nicht zu provozieren, aber er predigt
bei weitem keine Gewaltlosigkeit: "Wenn ihr angegriffen werdet,
müsst ihr euch verteidigen." Er will nie wieder zusehen müssen,
wie Katholiken drangsaliert werden, gleichzeitig befürchtet er,
die Troubles könnten wieder aufflammen.
Diese Sorge teilt er mit Peter McGuire, seinem Pendant im
protestantischen Lager. Vermutlich haben sich die beiden nie
getroffen. Schade, denn vermutlich hätten sie sich einiges zu
erzählen. Joe kämpfte auf katholischer Seite, Peter in der
protestantischen Ulster Volunteer Force (UVF). Joe saß wegen
Mordes, Peter konnte man Straftaten solchen Kalibers nie
nachweisen, er verbüßte für andere Delikte insgesamt zehn Jahre.
Und heute engagieren sich beide in der Jugendarbeit. Ihre
Lebenslinien gleichen zwei Parallelen, die nah nebeneinander
liegen und doch durch ein ehernes Gesetz für immer getrennt
verlaufen. Das Gesetz lautet: Jeder Nordire wird per Geburt einem
der beiden Lager zugeordnet, darin lebt er, darin stirbt er,
basta.
Wachsende Zweifel am Sinn der Gewalt.
Peter McGuire hasst solche Dogmen
und Denkverbote. "Ich habe schon immer starke Meinungen vertreten
und dafür Prügel bezogen", sagt er. Rotgesichtig, mit vollem,
weichem Mund und Nickelbrille hat er mehr Ähnlichkeiten mit einem
evangelischen Pfarrer als mit dem landläufigen Bild vom eiskalten
Terroristen. Von seinen inneren Spannungen erzählen die Hände.
Wenn der 36-Jährige nachdenkt, presst er die Finger zusammen, bis
das Weiße um die Knöchel hervortritt. Und er denkt viel nach.
Über Kinder, die verbrannten, weil sie nach der falschen
Konfession getauft waren. Über Entführungen und Überfälle, an
denen er selbst beteiligt war. Über seine Karriere als Terrorist.
Die Gedanken bedrängen und verdrängen einander, er scheint sie
mit seinen Händen zusammenhalten zu wollen. Das kostet Kraft.
Schwer vorstellbar, aber wahr, dass er Menschen überfallen,
bedroht, gefesselt, verschleppt hat.
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Das ganz normale Leben.
Heute propagiert er politische
Lösungen des Konflikts. Das Karfreitagsabkommen sei keinesfalls
eine Niederlage, wie es viele Loyalisten empfänden. "Unser
strategisches Ziel ist doch gewesen, in Nordirland ganz normal
leben zu können. Mittlerweile haben sich die britischen Soldaten
in die Kasernen zurückgezogen, die IRA hat einen Großteil ihrer
Waffen verschrottet. Wir haben die Normalität gewonnen, und damit
den Kampf."
Mit dieser, in loyalistischen Kreisen exotischen Ansicht
konfrontiert Peter McGuire auch die Jugendlichen, die seine
Seminare besuchen. Noch schlimmer: Er arbeitet mit "dem Feind"
zusammen. Er lässt Katholiken auftreten, die die jungen
Teilnehmer mit einer völlig ungewohnten Sicht von Geschichte und
Gegenwart schockieren. Seit mehr als drei Jahren organisiert
Peter solche "kritischen Dialoge". Zielgruppe sind Jugendliche im
Umfeld der Paramilitärs, die noch schwanken. "Es geht nicht
darum, aus
�schlechten' Menschen
�gute' zu machen. Wir machen
ihnen nur klar, dass sie Alternativen haben." Jeden Einzelnen,
der nach seinen Seminaren aus der Szene aussteige, rechnet er
sich als Erfolg an.
Peter McGuire und Joe Doherty werden sich vermutlich
demnächst mal treffen. Das ist gut, denn vermutlich könnten sie
hervorragend zusammenarbeiten. Peter hat ein Studium der
Sozialarbeit begonnen, Joe will eine Familie gründen, in einem
Alter, wo andere schon lange Haus und Kinder haben. Beide
beginnen noch einmal von vorn, vielleicht ihren schwierigsten
Kampf. Und können dabei nur gewinnen, was andere nicht mal
geschenkt wollen: das ganz normale Leben.
Michael Gleich ist Wissenschaftspublizist und engagiert sich in der Initiative Peace Counts project für den Frieden.
© changeX Partnerforum [16.05.2003] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Autor
Michael GleichMichael Gleich, Publizist, Stroryteller und Redner, hat 2011 "der kongress tanzt. Netzwerk für gute Veranstaltungen" initiiert. Es berät Veranstalter darin, Konferenzen und Foren als lebendige Lernorte zu gestalten.