Atypische Normalität
Unbefristete Anstellung, geregelter Lohn, eine Arbeitszeit von mindestens 30 Stunden in der Woche und Unterordnung unter Weisungsbefugnis eines Chefs – das war einmal so normal, dass man es als „Normalarbeitsverhältnis“ bezeichnet hat. Heute wird das Atypische normal.
Normalarbeitsverhältnisse sind auf dem Rückzug, die Spaltung des Arbeitsmarkts in Deutschland nach Sektor und Geschlecht nimmt zu. Dies ist das Ergebnis der neuen Bertelsmann-Studie Traditionelle Beschäftigungsverhältnisse im Wandel. Die Studie nimmt die Entwicklung der Arbeitsverhältnisse in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern der Europäischen Union oder der OECD unter die Lupe und vergleicht sie. Dabei kommt sie zu folgenden Ergebnissen:
Normalarbeitsverhältnis auf dem Rückzug. Im Jahr 2008 standen 60,1 Prozent aller Beschäftigten im Alter zwischen 25 und 64 Jahren in einem Normalarbeitsverhältnis – das sind 4,6 Prozent weniger als noch 2001. Dieser Rückgang ist deutlicher als in anderen Ländern – nur in Luxemburg, Polen, den Niederlanden und Malta war das industriegesellschaftliche Beschäftigungsmodell noch stärker auf dem Rückzug.
Dagegen sind „atypische Beschäftigungsverhältnisse“ – so werden alle Beschäftigungsverhältnisse genannt, die nicht dem Normalarbeitsverhältnis entsprechen – auf dem Vormarsch. Teilzeitjobs und befristete Beschäftigungen nehmen zu. Das aber gilt nicht für alle europäischen Länder. In etwa der Hälfte der europäischen Staaten, vor allem den „Nachholerstaaten“ des ehemaligen Ostblocks, aber auch in Finnland, nahm das Normalarbeitsverhältnis seit 2001 sogar zu.
Flexibilität als Frauensache. Der Anteil von Frauen in einem Normalarbeitsverhältnis ist im Vergleich unterdurchschnittlich. Nur gut 43 Prozent der Frauen haben hierzulande eine unbefristete Vollzeitstelle. Bei den Männern sind es gut 74 Prozent. Auffallend ist, dass der Anteil von Frauen in Normalarbeitsverhältnissen zwischen 2001 und 2008 von knapp 48 Prozent auf gut 43 Prozent mit 4,6 Prozentpunkten überdurchschnittlich gesunken ist – bei den Männern nahm er im gleichen Zeitraum nur um 3,5 Prozentpunkte ab. Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt ist hierzulande also vor allem Frauensache. Nur in den Niederlanden und der Schweiz sind heute noch weniger Frauen Vollzeit und unbefristet beschäftigt. Die Autoren der Studie führen den geringen Anteil von Frauen in traditionellen Beschäftigungsverhältnissen auf das in der Vergangenheit dominierende „Male-Breadwinner-Modell“ zurück, die Tatsache also, dass der Mann fürs Brötchenverdienen zuständig war.
Dualisierung des Arbeitsmarktes. Dass Frauen flexibler arbeiten als Männer, hängt aber auch damit zusammen, dass sie überwiegend im Dienstleistungssektor arbeiten. Der männlich dominierte industrielle Sektor ist nämlich nach wie vor vom Normalarbeitsverhältnis geprägt: Gut 77 Prozent gehen hier einer unbefristeten Vollzeitbeschäftigung nach, das ist gegenüber 2001 ein unterdurchschnittlicher Rückgang von 2,5 Prozent. Im Dienstleistungssektor ist dagegen bei einer Quote von 53 Prozent nur rund jeder zweite Arbeitnehmer unbefristet vollzeitbeschäftigt. Das ist im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wenig. In Deutschland gibt es also eine klare Dualisierung des Arbeitsmarktes.
Sinkender Organisationsgrad. Im Vergleich mit 2001 sind weniger Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert. Besonders im Dienstleistungsbereich ist der Organisationsgrad gering. Auch sind hierzulande deutlich weniger Frauen organisiert als anderswo – nur knapp 32 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder sind Frauen.
Geringe Lohnsteigerungen, hohe Abgabenlast. Die Tariflöhne steigen nur geringfügig. Wenn man die steigenden Preise berücksichtigt, sind die realen Bruttolöhne von 2001 bis 2007 nur um 1,8 Prozent gewachsen, die realen Nettolöhne um 2,9 Prozent. Geringverdiener konnten noch weniger profitieren: Für sie lag der Zuwachs in dieser Periode sogar nur bei 1,6 Prozent. „Im internationalen Vergleich sind die Löhne unterdurchschnittlich gestiegen“, schreiben die Autoren.
Gleichzeitig bleibt die Abgabenlast im internationalen Vergleich hoch. Alleinstehende Durchschnittsverdiener werden mit knapp 43 Prozent im OECD-Vergleich am stärksten belastet, Geringverdiener mit 37 Prozent nach Dänemark am zweitstärksten. „Arbeitnehmer im höheren Einkommensbereich werden nach wie vor steuerlich am stärksten begünstigt“, erklären die Autoren.
Fazit: Das Atypische wird normal. „Die Reformen der letzten Jahre haben zu einer relativ ungleichen Verteilung von Risiken zwischen Arbeitnehmern in sogenannten atypischen und sogenannten normalen Beschäftigungsverhältnissen geführt“, schreiben die Autoren. Denn wer es einmal in ein Normalarbeitsverhältnis geschafft hat, ist durch den Kündigungsschutz vergleichsweise gut geschützt – im Gegensatz zu den Arbeitnehmern in „atypischen Beschäftigungsverhältnissen“, die überdurchschnittlich häufig Frauen sind.
Von „atypischen Beschäftigungsverhältnissen“ kann man dabei eigentlich nicht mehr sprechen: Für die meisten Frauen und immerhin knapp die Hälfte der im Dienstleistungsbereich Beschäftigten sind diese Beschäftigungsverhältnisse nämlich mittlerweile die Normalität.
Werner Eichhorst / Andrea Kuhn / Eric Thode / Rosemarie Zenker: Traditionelle Beschäftigungsverhältnisse im Wandel. Benchmarking Deutschland: Normalarbeitsverhältnis auf dem Rückzug, Studie der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2010.
changeX 04.02.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Werner Eichhorst, Andrea Kuhn, Eric Thode, Rosemarie Zenker: Traditionelle Beschäftigungsverhältnisse im Wandel. Benchmarking Deutschland: Normalarbeitsverhältnis auf dem Rückzug, Studie der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2010.Die Studie zum Download (PDF, 2 MB)
Autorin
Annegret NillAnnegret Nill arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Moderatorin in Berlin. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.
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