Irre gibt’s nicht
Psychische Krankheiten gibt es nicht! Das ist der Pfeil, den der Psychiater Thomas Szasz vor 50 Jahren mit seinem Buch The Myth of Mental Illness auf die institutionelle Psychiatrie abgeschossen hat. Und er steckt noch immer. Denn seine Kritik an der Willkür mancher psychiatrischer Interventionen ist heute noch aktuell. Nun ist eine vom Autor aktualisierte Neuauflage erschienen.
Da landet ein Mann in der Psychiatrie, und Jahre später entpuppen sich die Gründe für seine Einweisung als höchst zweifelhaft. Die Wellen, die der Fall Mollath gegenwärtig in den Medien schlägt, ist einer breiten Empörung geschuldet. Einer Empörung darüber, wie schnell und mit welch haarsträubender Begründung ein Mann in die forensische Psychiatrie gesteckt wird - eine Unterbringung, die fast einem Willkürakt gleicht. Denn: Das Gericht stützte sein Urteil auf ein paranoides Gedankensystem, das Gustl Mollath angeblich entwickelt habe, das sich in seiner Anschuldigung manifestiere, seine Frau sei als Angestellte der HypoVereinsbank in ein komplexes System der Schwarzgeldverschiebung verwickelt. Doch dann entpuppte sich der scheinbar paranoide Vorwurf als begründet. Ein Revisionsbericht der HypoVereinsbank stützte einige von Mollaths Vorwürfen.
Die offensichtlichen Fragen sind also: Sind die Schuldzuweisungen Mollaths zu Unrecht als Teil eines paranoiden Wahnsystems gedeutet worden - und ist Mollath infolgedessen zu Unrecht in der Psychiatrie gelandet? Oder platter ausgedrückt: Wer ist hier eigentlich verrückt?
Letzterer Frage und ihren Implikationen hat sich bereits 1961 der US-amerikanische Psychiater Thomas Szasz in seinem Buch The Myth of Mental Illness gewidmet - und das hat ebenfalls hohe Wellen geschlagen, die bis heute nicht abgeebbt sind. Sein Buch gilt heute als Meilenstein der Psychiatriegeschichte - und so wundert es nicht, dass nun eine Neuauflage erscheint, in deutscher Übersetzung: Geisteskrankheit - ein moderner Mythos. Grundlagen einer Theorie des persönlichen Verhaltens.
Materialistischer Krankheitsbegriff
Wer in die Geschichte eingehen will, kann sich beispielsweise an einer Revolution versuchen. Und nichts Geringeres hat Szasz mit seiner Hauptthese getan: Geisteskrankheiten gibt es nicht! Punktum. Kein Wunder, dass sich da eine ganze Zunft in ihrer Profession samt Ehre bedroht fühlte. Denn: Wenn es keine Irren gibt, braucht’s auch keine Irrenärzte! Doch ganz so einfach machte Szasz es sich nicht; seine Kritik ist zwar grundlegend, aber er argumentiert und schlussfolgert differenzierter.
Zunächst fußt seine Attacke auf dem materialistischen Krankheitsbegriff: "Ausgehend von so eindeutig körperlichen Krankheiten wie Syphilis, Tuberkulose, Typhus, Krebs, Herzversagen, Knochenbrüchen und anderen Verletzungen, haben wir eine ‚Krankheit‘ genannte Klasse geschaffen. Diese hat eine begrenzte Zahl von Mitgliedern, denen gemeinsam ist, dass sie sich auf einen physikalisch-chemischen Zustand körperlicher Störung beziehen." Im Laufe der Zeit habe sich diese Klasse jedoch um Elemente, also um Krankheiten, erweitert, bei denen von einem wörtlichen zu einem metaphorischen Verständnis des Krankheitsbegriffs übergegangen worden sei. An die Stelle der physikalisch-chemischen Störung seien die Beeinträchtigung der Lebensqualität und das subjektive Leiden getreten. Mit der Folge, dass nun auch Hypochondrie, Depressionen, Zwänge und des Weiteren mehr zu Krankheiten erklärt wurden.
Nicht krank, sondern komplex verstört
Damit war natürlich dem Begriff der psychischen Erkrankung großer Zulauf garantiert und der Willkür, irgendein abweichendes oder unbequemes Verhalten oder Befinden für psychisch krank zu erklären, Tür und Tor geöffnet. Wobei Szasz nicht die Augen vor dem Leiden von Menschen, die psychiatrisch etikettiert sind, verschließt. Allerdings sind sie für ihn nicht einfach krank, sondern komplex verstört: Sogenannte psychisch kranke Menschen stellten "die Rollen der Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Schwäche und oft auch körperlicher Krankheit dar - obwohl ihre authentische Rolle Frustration, Unglücklichsein und Ratlosigkeit aufgrund interpersonaler, sozialer und ethischer Konflikte beinhaltet."
Daraus folgt für Szasz, der den Begriff des Spiels als weit gesteckten Rahmen von sozialen Aktions- und Interaktionsformen bestimmt: Psychotherapie sollte für diese Menschen möglich sein und stattfinden, nicht weil sie "krank" seien, sondern "erstens, weil sie sich diese Art von Beistand wünschen, und zweitens, weil sie Probleme haben, mit denen sie fertig zu werden versuchen, indem sie zu verstehen lernen, welche Art von Spielen sie und die Menschen in ihrer Umgebung gewöhnlich spielen, und drittens, weil wir als Psychotherapeuten an ihrer ‚Erziehung‘ teilhaben wollen und dies auch können, da es unsere berufliche Aufgabe ist".
Für Autonomie und Freiheit
Szasz tritt dem Leser in seinem Buch als überaus skeptischer und komplex argumentierender Geist entgegen, dessen Kritik am Selbstverständnis der Psychiatrie als Wissenschaft und ihrer Praxis auch nach 50 Jahren noch aktuell ist. Dass Szasz’ Einwurf, den man ohne Zweifel als paradigmatisch bezeichnen kann, nicht einfach an der psychiatrischen Zunft abgetropft ist, sondern als Zweifel fortlebt, leuchtet ein. Nicht zuletzt, wenn man Szasz’ grundlegender Differenzierung folgt, die den institutionellen Machtmissbrauch der Psychiatrie auf den neuralgischen Punkt bringt: So lasse sich die Menge der psychiatrischen Interventionen gut aufteilen - in die Menge der auf Freiwilligkeit und der auf Unfreiwilligkeit beruhenden Eingriffe. Während erstere auf alle Behandlungen zutreffen, die die Selbstbestimmung, Informiertheit und Freiheit des Menschen erhalten, laufen letztere genau dem entgegen - in Form von Zwangseinweisungen, Zwangsmaßnahmen sowie aufgezwungenen Diagnosen und Behandlungen. Wie im aktuellen Fall Mollath.
Szasz positioniert sich ganz klar: Aus moralischen und politischen Gründen lehnt er alle ohne Einwilligung des Betroffenen vorgenommenen Interventionen ab; und aus persönlichen Gründen jede andere Intervention, die die Autonomie des Betroffenen einschränkt. Zweierlei wird hier klar: Erstens liegt Szasz mit seiner Kritik immer noch quer zur gängigen Praxis psychiatrischer Interventionen, die nicht in allen, aber in vielen Fällen die Würde des Menschen antasten, für die sich Szasz zweitens unmissverständlich starkmacht.
Deshalb ist seine Kritik auch heute noch zeitgemäß - und seinem kritischen Geist abschließend nur beizupflichten: "Doch unabhängig von meinen moralischen, politischen oder persönlichen Präferenzen halte ich es für zwingend notwendig, dass wir alle - ob Experten oder nicht - psychiatrischen Interventionen gegenüber stets eine offene und kritische Haltung bewahren und insbesondere dass wir sie nicht einzig und allein deshalb akzeptieren, weil sie heute offiziell als eine Form medizinischer Behandlung angesehen werden."
Zitate
"Doch unabhängig von meinen moralischen, politischen oder persönlichen Präferenzen halte ich es für zwingend notwendig, dass wir alle - ob Experten oder nicht - psychiatrischen Interventionen gegenüber stets eine offene und kritische Haltung bewahren und insbesondere dass wir sie nicht einzig und allein deshalb akzeptieren, weil sie heute offiziell als eine Form medizinischer Behandlung angesehen werden." Thomas Szasz: Geisteskrankheit - ein moderner Mythos
changeX 27.06.2013. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Thomas Szasz: Geisteskrankheit - ein moderner Mythos. Grundlagen einer Theorie des persönlichen Verhaltens. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2013, 331 Seiten, 44 Euro, ISBN 978-3-89670-835-9
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Autor
Sascha HellmannSascha Hellmann ist freier Journalist in Heidelberg. Er arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.