Alle mitnehmen
Kaum irgendwo auf der Welt sind Bildungschancen so ungerecht verteilt wie in Deutschland. Die Folge: Potenziale bleiben ungenutzt, nicht zuletzt in der Wirtschaft. Bildungsgerechtigkeit wird daher zu einer zentralen Forderung. Nicht zuletzt aus der Wirtschaft.
Zugegeben: Bildungserfolg ist in allen Staaten der Welt mehr oder minder auch an die soziale Herkunft gekoppelt. Doch nirgends so sehr wie in Deutschland. Das war das eigentlich beschämende Ergebnis der ersten PISA-Studie im Jahr 2000. Sprich: Ein Kind, das seine Bildungskarriere unter ungünstigen sozialen Voraussetzungen beginnt, muss nirgends mehr als in Deutschland befürchten, am Ende auf der Strecke zu bleiben. Kein Wunder also, dass derzeit viel von Bildungsungerechtigkeit die Rede ist.
Doch Bildungsungerechtigkeit ist nicht nur eine Frage der Moral. Sie schlägt sich auch in handfesten Problemen nieder, nicht zuletzt im zunehmenden Mangel an Fachkräften. Es ist daher kein Wunder, dass es verstärkt die Wirtschaft ist, die - in Form ihrer Verbände und Stiftungen - mahnend die Stimme erhebt, die Vergeudung von Bildungspotenzial anprangert und eigene Bildungsinitiativen startet.
Das bildungspolitische Engagement der deutschen Wirtschaft findet nun Ausdruck in einem Essayband mit dem Titel Herausforderung Bildungsgerechtigkeit. Gewidmet ist er Hans-Jürgen Brackmann, dem langjährigen und unlängst in den Ruhestand verabschiedeten Generalsekretär der Stiftung der Deutschen Wirtschaft, die selbst schon etliche Programme zur Bildungsförderung auf den Weg gebracht hat.
Fairer Umgang mit dem Leistungsprinzip
Dokumentiert ist hier nicht zuletzt ein bemerkenswerter Bewusstseinswandel der Wirtschaft im Hinblick auf den traditionellen Leitbegriff der Leistung. Nicht grundlos lautet der Untertitel des Buches: "Für einen fairen Umgang mit dem Leistungsprinzip". Denn Leistung taugt - zumindest bei Kindern und Jugendlichen - nur bedingt als Kriterium für gerecht verteilte Zuwendung. Wer die Verteilung von Bildungschancen allein nach dem Geleisteten bemisst, verkehrt die Blickrichtung von Bildung, die doch immer auf das Mögliche geht. Diese Einsicht bringt Ingo Kramer - der Vorsitzende der Stiftung der Deutschen Wirtschaft - auf den Punkt, wenn er in seinem Vorwort schreibt: "Wir sollten uns nicht primär daran orientieren, was ein junger Mensch schon geleistet hat. Ausschlaggebend ist, was er in Zukunft zu leisten vermag."
Natürlich gehört zur Leistung neben dem potenziellen Können immer auch ein aktuelles Wollen. Aber auch dieses Wollen will gelernt sein. "Um Begabungen zu nutzen und in Leistungen umzusetzen", so die Pädagogikprofessorin Claudia Solzbacher in ihrem Beitrag, "sind zahlreiche weitere Kompetenzen wie zum Beispiel Motivation, Selbststeuerungsfähigkeiten und Durchhaltevermögen nötig. Die Förderung, das heißt Entwicklung dieser Kompetenzen, ist ebenso wichtig wie die adäquate Förderung der individuellen Begabungen."
Dem Achtjährigen, der ohne entsprechende Kompetenzen in die Schule gekommen ist, ein Leistungsvermögen abzusprechen, ist folglich nicht nur ungerecht, sondern schlicht unsinnig. Doch was für den Achtjährigen gilt, trifft auch auf den 16-Jährigen noch zu. Das unterstrich Ingo Kramer anlässlich der Präsentation des Buches in Berlin am Beispiel der Erfolge nachschulischer Qualifizierungsprogramme - Programme, in denen Schulabgänger ohne vorzeigbare Leistungen durch individuelle Förderung doch noch "leistungsfähig" gemacht werden.
Es ist hoffentlich nicht bezeichnend, dass die konservativste Position in diesem Band ausgerechnet von einem Lehrer stammt. Josef Kraus, Oberstudiendirektor eines bayerischen Gymnasiums und zugleich Präsident des Deutschen Lehrerverbands, feiert in seinem Beitrag das Leistungsprinzip als demokratische Errungenschaft. Und verweist darauf, dass freie Gesellschaften statt der Herkunft - statt "Geldbeutel, Geburtsadel, Gesinnung" - "das Kriterium Leistung vor den Erfolg und den Aufstieg gesetzt" hätten. Wohl wahr. Nur ignoriert diese Huldigung eben jenen fortbestehenden Zusammenhang zwischen Leistungsfähigkeit und Herkunft, auf den die meisten anderen Autoren hier zu Recht hinweisen.
Auf den Anfang kommt es an
Wie aber lässt sich nun dieser Zusammenhang lockern? Der Essayband liefert eine Reihe konkreter Vorschläge: die Entwicklung von "Ich-Stärke" als Grundlage sämtlicher Lernprozesse (Claudia Solzbacher); die Einführung eines Sozialindex, der die Mittelzuweisung an Schulen von deren Sozialstruktur abhängig macht (Ernst Baumann); oder aber die schulische Kompetenzbündelung in Form von "System Leadership" (Stephan Gerhard Huber).
Einhellig plädieren die Autoren zudem für eine verstärkte frühkindliche Förderung. "Auf den Anfang kommt es an" - so formuliert es Thomas Rauschenbach, Direktor des Deutschen Jugendinstituts. Auch eingedenk der Tatsache, dass Deutschland im internationalen Vergleich verhältnismäßig viel Geld in den tertiären, wenig dagegen in den primären Bildungsbereich steckt.
Dabei bedarf es keineswegs spezieller Programme für sozial Benachteiligte, wie Ernst Baumann, der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft "SchuleWirtschaft" klarstellt. Diese Lehre sei aus den jüngsten PISA-Erfolgen zu ziehen. So ist in Deutschland der Abstand in der Lesekompetenz von Jugendlichen aus Elternhäusern mit hohem Sozialstatus und solchen aus Familien un- und angelernter Arbeiter in den zehn Jahren seit der ersten PISA-Studie deutlich gesunken. Entscheidend dafür, so Baumann, sei die Anhebung des allgemeinen Leistungsniveaus in den deutschen Schulen gewesen.
Alle mitnehmen - niemanden zurücklassen
Diese aber beruht vor allem auf einer generell verstärkten individuellen Förderung, von der wiederum die Leistungsschwachen überproportional profitieren. Der Bildungsgerechtigkeit ist demnach gedient, wenn - wie es PISA-Papst Jürgen Baumert unlängst ausdrückte - Schulen in die Lage versetzt werden, ihrer allgemeinen Förderverpflichtung gerecht zu werden: Also der scheinbar so banalen Verpflichtung, jedes einzelne Kind nach Kräften zu fördern.
changeX 28.02.2011. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Ingo Kramer (Hg.): Herausforderung Bildungsgerechtigkeit. Zum fairen Umgang mit dem Leistungsprinzip. Murmann Verlag, Hamburg 2011, 132 Seiten, ISBN 978-3-86774-137-8
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Autor
Dominik FehrmannDominik Fehrmann ist freier Journalist in Berlin. Er schreibt als freier Mitarbeiter für changeX.