Das Menschsein nicht ernstgenommen
In der Annahme einer vorgeblichen Besonderheit ist der Mensch einer fatalen Selbstüberschätzung erlegen. Diese Selbstüberschätzung gipfelte in der Dominanz des Geistes über das Fleisch. Eine Philosophin wagt nun die Umkehr. Ihr geht es um eine Neuausrichtung der Philosophie, um ein anderes Menschenbild, das sich nicht mehr an der Annahme einer Besonderheit des Menschen, sondern an seiner Verletzlichkeit orientiert.
Wie ist es denn eigentlich bestellt um das Bild des Menschen von sich selbst? Und dem Hochmut, mit dem er sich von allem anderen Leben abgegrenzt hat? Um nicht zu sagen: seiner Hybris? Die Frage ist berechtigt angesichts von Klimawandel, Umweltzerstörung, nach wie vor bestehenden atomaren Overkill-Kapazitäten, neuen Kriegen und nicht zuletzt auch angesichts der Herausforderung durch Künstliche Intelligenz und die Ideologie des Transhumanismus.
Was ist der Mensch? Dies ist die (alte) Frage, der die Philosophin Lisz Hirn in ihrem Buch Der überschätzte Mensch neu nachspürt. Sie beginnt bei der Abgrenzung zwischen Tier und Mensch und löst sich dabei von einer Philosophietradition, deren wichtigste Aufgabe darin bestand, so die Autorin, eben diesen Unterschied zu begründen. Ihr geht es nun um eine Neuausrichtung der Philosophie, um ein anderes Menschenbild. Ihre These: Wir "bedürfen einer neuen Anthropologie, die sich nicht jenseits, sondern in unserer Verletzlichkeit verortet." Einer Verletzlichkeit, die wegen der fatalen Fehleinschätzung, der Mensch sei etwas Besonderes, nicht wahrgenommen, ja ausgeschlossen wurde. Die Annahme seiner Besonderheit gipfelte dann in der "Suprematie des Geistes über das Fleisch".
Kein Raum für Verletzlichkeit
Lisz Hirns Darstellung zeigt, wie sehr die unterschiedlichen Denkmuster einander bedingen: die Überschätzung des Menschen, das Ignorieren seiner Verletzlichkeit und nicht zuletzt auch die Dominanz einer technischen Rationalität, die das Instrumentelle und Funktionale in den Vordergrund rückte. Für Verletzlichkeit war da kein Raum. Die Annahme einer Besonderheit habe "den Menschen überschätzt, aber das Menschsein nicht ernst genug genommen".
Aber "was Menschsein ist, kann nicht vermessen werden", schreibt die Autorin und bereitet damit ihre Schlussthese vor: "Das Verletzliche an uns ist das Menschliche, nicht unser Fleisch." Nur der Appell an unsere Menschlichkeit, sie bewusst zu machen und zu leben, kann unser Menschsein begründen. Lisz Hirns Buch ist ein Aufruf, uns als fragiles Wesen neu zu bestimmen.
Zitate
"Wir bedürfen einer neuen Anthropologie, die sich nicht jenseits, sondern in unserer Verletzlichkeit verortet." Lisz Hirn: Der überschätzte Mensch
"Das Verletzliche an uns ist das Menschliche, nicht unser Fleisch." Lisz Hirn: Der überschätzte Mensch
changeX 29.11.2023. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
Artikeltags
Ausgewählte Beiträge zum Thema
12 Gesetze der Dummheit - Henning Beck über die Grundlagen des menschlichen Denkens zur Rezension
Unsere Buchumschau im Frühjahr 2022 zur Rezension
Zum Buch
Lisz Hirn: Der überschätzte Mensch. Anthropologie der Verletzlichkeit. Zsolnay Verlag, Wien 2023, 128 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-552-07343-2
Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon
Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.